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KRIEG/1752: Europa schweigt - türkischer Angriff auf die Kurden ... (SB)



Erdogan hat diese Offensive lange vorbereitet. Er hat nur den richtigen Moment abgewartet und für ihn ist der Rückzug der Amerikaner die einmalige Gelegenheit, das zu wiederholen, was er ja schon in anderen Teilen Nordsyriens gemacht hat - 2016 nördlich von Aleppo, 2018 in Afrin. (...) Es geht darum, ein türkisches Gebiet, ein türkisch kontrolliertes Gebiet auf syrischem Boden zu schaffen, eine Art Protektorat, und die Demographie, die Bevölkerungsstruktur dort so nachhaltig zu verändern, mit Arabern anzusiedeln, Kurden zu vertreiben, so dass keine Gefahr mehr besteht eines zusammenhängenden Kurden-Gebietes oder irgendwelcher Ambitionen auch der Kurden in der Türkei.
Nahost-Expertin Kristin Helberg im Deutschlandfunk [1]

Wenngleich es naheliegt, von einem Verrat an den Kurdinnen und Kurden zu sprechen, würde das doch voraussetzen, daß es jemals auf staatlicher Ebene ein Bündnis mit ihnen gegeben hat, das diesen Namen verdient. Die nun mittels offizieller Verlautbarungen in Strömen vergossenen Krokodilstränen lassen indessen nur eines erkennen: Wo in den Hauptstädten die Stimme gegen den türkischen Angriffskrieg erhoben wird, ist dies eigennützigen Zwecken geschuldet. Nicht das Überleben der kurdischen Bevölkerung, geschweige denn ihr Gesellschaftsentwurf, wird für sich genommen in aller Entschiedenheit verteidigt, vielmehr herrscht vielerorts das Interesse vor, sie für längere Fristen zu instrumentalisieren, als dies der Vernichtungsdrang des Erdogan-Regimes zulassen will.

Von kurdischer Seite wurde stets hervorgehoben, daß die militärische Zusammenarbeit mit den US-Streitkräften ein taktisches Bündnis sei, das keinesfalls mit einer grundsätzlichen inhaltlichen Übereinstimmung der beiderseitigen Interessen verwechselt werden dürfe. Entscheidend bleibe die eigenständige Verteidigung des demokratischen Föderalismus gegen alle Angriffe, doch geböten die militärischen Kräfteverhältnisse eine befristete Partnerschaft, um die Übermacht der türkischen Streitkräfte in Schach zu halten. Wenn daraus Teile der europäischen Linken den Vorwurf konstruieren, die kurdisch geführten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) seien eine fünfte Kolonne des US-Imperialismus und strebten in dessen Dienst die Zerschlagung des syrischen Staates an, zeugt dies von einer ausgeprägten Ignoranz in Hinblick auf die Errungenschaften Rojavas wie auch einer herrschaftsaffinen Denkweise, welche die Großmächte wie auf einem geostrategischen Spielfeld gegeneinander verschiebt, doch Solidarität für die Menschen vor Ort vermissen läßt, die um ihr Leben und den Fortbestand ihres zukunftsweisenden gesellschaftlichen Aufbaus kämpfen.

Wie es um die Prioritäten bestellt ist, hob NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hervor. Er rang sich zwar den scheinheiligen Aufruf an die Türkei ab, die Region nicht noch weiter zu destabilisieren, zeigte aber im selben Atemzug Verständnis für die Offensive: Die Türkei habe als NATO-Mitglied "legitime Sicherheitsbedenken", da es auf ihrem Boden zu fürchterlichen Terroranschlägen gekommen sei. Zudem habe das Land Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Dieser Freibrief von höchster Ebene des westlichen Bündnisses für den türkischen Angriffskrieg im Nachbarland stellt klar, daß das Kettenhemd imperialistischer Kumpanei allemal näher als der Rock ohnehin irrelevanter völkerrechtlicher und humanitärer Gefühlsduselei ist, sofern sie sich nicht gerade für eigene Zwecke einspannen läßt. [2]

Für einen Gipfel bitterer Ironie sorgten einflußreiche Republikaner im US-Kongreß, die scharfe Strafmaßnahmen gegen die türkische Regierung anstreben - doch aus welchen Gründen! Senator Lindsey Graham, einer der engsten Vertrauten Trumps im Kongreß, kritisierte den Präsidenten offen: "Dies ist die Mentalität vor dem 11. September, die den Weg für den 11. September ebnete: Was in Afghanistan passiert, geht uns nichts an. Wenn er damit weitermacht, ist dies der größte Fehler seiner Präsidentschaft." Liz Cheney aus der Fraktionsführung der Republikaner im Repräsentantenhaus sprach von einer Entscheidung, die "schlimme und vorhersehbare Folgen" haben werde. "Die USA lassen unsere verbündeten Kurden im Stich, die vor Ort gegen den islamischen Staat (IS) gekämpft und zum Schutz des US-Heimatlandes beigetragen haben. Diese Entscheidung hilft den Gegnern der USA, Russland, dem Iran und der Türkei und ebnet den Weg für ein Wiederaufleben des IS."

Der Entwurf einer parteiübergreifenden Resolution sieht vor, etwaigen Besitz Erdogans, des türkischen Vizepräsidenten und mehrerer Minister in den USA einzufrieren und Visabestimmungen für die politische Führung des Landes zu verschärfen. Als weitere Strafmaßnahmen werden ein Verbot des Verkaufs von US-Rüstungsgütern für die türkischen Streitkräfte und Sanktionen gegen Ausländer, die Waffengeschäfte mit den türkischen Streitkräften oder dem Energiesektor machen, genannt. Graham hatte der Regierung in Ankara im Falle des Einmarsches in Nordsyrien mit "Sanktionen aus der Hölle" gedroht und hofft nun auf eine Zweidrittelmehrheit für die Resolution, womit ein Veto Trumps überstimmt werden könnte. So machen sich ausgerechnet hartgesottene Sachwalter einer globalstrategischen US-Dominanz für spürbare Sanktionen gegen die Türkei stark, denen das Schicksal "unserer verbündeten Kurden" nicht gleichgültiger sein könnte, ermöglichten sie nicht als einzig erfolgreiche Bodentruppen im Kampf gegen den IS eine US-Präsenz im Nordsyrien, wo die Öl- und Gasfelder des Landes liegen.

Demgegenüber muten die Strafandrohungen der EU geradezu zahnlos an, die zwar die Folgen der türkischen Militäroffensive fein säuberlich aufzählt, aber lediglich warnt, es werde in einer "Sicherheitszone" keine Stabilisierungs- und Entwicklungshilfe geben. Erdogans Plan, die EU solle auch noch die ethnische Säuberung in den Kurdengebieten mit Milliarden finanzieren, wurde damit zwar eine Absage erteilt, doch klingt das eher wie Mißmut in einer Räuberbande, die nicht bei jeder Schandtat ihres Hauptmanns Schmiere stehen will, sofern sich diese mit andersgearteten Partialinteressen beißt. Eine gemeinsame Erklärung der EU-Staaten vor Beginn des türkischen Angriffs war an der fehlenden Zustimmung Ungarns gescheitert. Daher blieb es bei der nachträglichen Forderung nach Abbruch der Militäroffensive: "Erneute bewaffnete Auseinandersetzungen im Nordosten werden die Stabilität in der ganzen Region weiter untergraben, das Leiden der Zivilisten verschlimmern und zusätzliche Vertreibungen provozieren." Die unilateralen Handlungen der Türkei gefährdeten zudem die Erfolge der internationalen Koalition gegen die Terrormiliz IS. Eine Zwangsumsiedlung syrischer Flüchtlinge in eine "Sicherheitszone" werde man nicht akzeptieren.

An Erkenntnissen, welche Gefahren infolge der Offensive drohen, herrscht ebensowenig Mangel wie am selektiven Blick, was davon ins Kontor der europäischen Mächte schlägt und daher für sie von ausschließlichem Interesse ist. Das selbstgestrickte Dilemma liegt auf der Hand: Erdogan droht der EU damit, die Flüchtlingsschleusen zu öffnen, sofern man ihn nicht dabei gewähren läßt, endlich die "kurdische Frage" zu eliminieren. Zugleich produziert er damit Millionen weitere Flüchtlinge in Syrien, die sein Land ganz gewiß nicht aufnehmen will, wo es doch gerade dabei ist, die Umsiedlung der bislang aufgenommenen Millionen in die nordsyrischen Gebiete zu organisieren, aus denen die kurdische Bevölkerung für immer vertrieben werden soll.

Wenn Bundesaußenminister Heiko Maas den türkischen Angriff "auf das Schärfste" verurteilt und die Türkei dazu aufruft, "ihre Offensive zu beenden und ihre Sicherheitsinteressen auf friedlichem Weg zu verfolgen", bleibt das ein zynisches, weil folgenloses Lippenbekenntnis. Der grüne Außenpolitiker Jürgen Trittin ruft vor der Jahrestagung der NATO am Wochenende in London Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer auf, Konsequenzen zu ziehen: "Dies darf für das NATO-Mitglied Türkei nicht ohne Folgen bleiben." Unter anderem müsse der Türkei klargemacht werden, daß sie sich nicht auf die Beistandsverpflichtung der NATO berufen und auch nicht mit Unterstützung rechnen könne. Deutsche Luftaufklärung dürfe auch nicht von der Türkei im Einsatz gegen die syrischen Kurden genutzt werden. Will Trittin den türkischen Machthaber allen Ernstes mit der Warnung erschrecken, er solle seinen Krieg gefälligst allein führen, obgleich das doch genau die Kernforderung Erdogans ist, daß niemand seiner Willkür ins Handwerk pfuschen darf? Der CDU-Politiker Norbert Röttgen spricht von einem "eindeutig völkerrechtswidrigen" Angriff der Türkei und wirft Trump vor, die Kurden in Nordsyrien, die "am Boden gegen den IS gekämpft haben, wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen" zu haben. Die neue Kriegsfront werde zu "Destabilisierung" in der Region, "Unberechenbarkeit" und "Flucht" führen. Die Kurden müßten sich nun einen neuen Partner suchen, um "ihre Heimat zu verteidigen". Dafür habe sich bereits "der Staatsterrorist Assad" angeboten. So weit geht Röttgens konservatives Herz für die Heimatliebe der Kurden denn doch nicht, daß ihn die der syrischen Führung mißgönnten Vorteile nicht viel mehr interessierten. [3]

Nach der Devise, daß keine heimische Krise so tief sein kann, daß sie ein Angriffskrieg im Nachbarland nicht auf einen Streich aus der Welt schaffen könnte, räumt Erdogan zugleich an der Heimatfront gründlich auf. Die Wirtschaft ist miserabel, die Umfragewerte des Präsidenten sinken, die Opposition hat die Kommunalwahlen in den wichtigsten Großstädten gewonnen, das Verfassungsgericht widersetzt sich seinen Wünschen, die eigene Partei zerbricht. Erdogans Macht schien so angeschlagen zu sein, daß vorgezogene Neuwahlen seine Herrschaft beenden könnten. Doch nun? "Wir beten dafür, dass unsere heldenhaften Soldaten sicher und gesund zurückkehren, wenn sie die Operation Friedensstrom erfolgreich beendet haben. Möge Gott unsere Jungs beschützen und sie zum Ruhm führen." Das sagte nicht etwa der Despot, sondern Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu (CHP), der sich abermals mit Begeisterung vor den Kriegskarren spannen läßt und damit sämtliche Erfolge der letzten Monate zunichte macht. Ohne die Unterstützung der HDP hätte die CHP bei den letzten Wahlen nicht gewonnen, doch kaum beginnt Erdogan einen Krieg, wird das Zweckbündnis mit den Kurdinnen und Kurden auf dem nationalistischen Altar geopfert, schließen sich die Reihen wieder hinter dem Präsidialregime. [4]

So stehen die SDF, die bei der Zurückschlagung des IS 11.000 Kämpferinnen und Kämpferinnen verloren haben und derzeit noch rund 60.000 zählen, allein gegen 402.000 schwerbewaffnete aktive Soldaten der türkischen Armee sowie Zehntausende islamistische Milizionäre und die Horden des IS, deren Ausbruch aus den Gefangenenlagern kurz bevorstehen dürfte. So lautstark die EU angesichts des Schreckensszenarios lamentiert, ist ihr beredtes Schweigen zu den zentralen Zielen des türkischen Angriffskriegs doch mit Händen zu greifen. Es steht der Verdacht im Raum, daß sie Erdogans genozidalem Wahnwitz, die kurdische Bevölkerung in Nordsyrien abzuschlachten und zu vertreiben, um in einem türkischen Protektorat die syrischen Flüchtlinge anzusiedeln, klammheimlich sehr viel mehr abgewinnen kann, als sie jemals öffentlich einräumen würde.


Fußnoten:

[1] www.deutschlandfunk.de/tuerkische-offensive-in-syrien-das-wegducken-der.694.de.html

[2] www.zeit.de/politik/ausland/2019-10/nordsyrien-tuerkei-beginnt-offensive-gegen-kurden

[3] www.t-online.de/nachrichten/ausland/krisen/id_86588612/syrien-krieg-trump-kurden-haben-uns-nicht-in-der-normandie-geholfen-.html

[4] www.heise.de/tp/features/Erdogans-Werk-und-Kilicdaroglus-Beitrag-4550663.html

10. Oktober 2019


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