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INTERVENTION/026: Krieg um Nordsyrien (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 15. Oktober 2019
german-foreign-policy.com

Krieg um Nordsyrien


BERLIN/ANKARA/BRÜSSEL - Mit einer harschen Erklärung und gewissen Einschränkungen beim Rüstungsexport reagiert die EU auf den Überfall der türkischen Streitkräfte und mit ihnen verbündeter islamistischer Milizen auf Syrien. Wie es in einer gestern von den EU-Außenministern beschlossenen Stellungnahme heißt, "verurteilt" die Union die türkische Militäroperation, bekennt sich zur "Souveränität des syrischen Staates" und erwähnt zustimmend die Ankündigung mehrerer Mitgliedstaaten - darunter Deutschlands -, "die Genehmigung von Waffenlieferungen an die Türkei zu stoppen". Die Abwicklung bereits genehmigter Exporte wird nicht in Frage gestellt; dabei beinhaltet sie, wie das Beispiel Bundesrepublik belegt, Rüstungsgüter im Wert dreistelliger Millionensummen. Beobachter stufen den angeblichen Exportstopp offen als "Placebo" ein. Jenseits dessen zeigt die aktuelle Entwicklung in Syrien das Scheitern der Berliner Politik: Hatte die Bundesrepublik vor Jahren Pläne für den Wiederaufbau des Landes nach einem prowestlichen Umsturz entwickeln lassen, so übt dort heute Russland führenden Einfluss aus, während der Westen abzieht.

Tod und Vertreibung

In einer harschen Erklärung haben sich die EU-Außenminister am gestrigen Montag gegen den Überfall der türkischen Streitkräfte sowie mit ihnen verbündeter islamistischer Milizen auf Syrien gewandt. "Die EU verurteilt das militärische Vorgehen der Türkei", heißt es in der Erklärung, in der Ankara aufgefordert wird, "sein einseitiges militärisches Vorgehen in Nordostsyrien zu stoppen und seine Streitkräfte zurückzuziehen".[1] Die Operationen untergrüben "die Sicherheit der gesamten Region" und führten lediglich dazu, dass "mehr Zivilisten leiden, sowie zu weiteren Vertreibungen". Sie beeinträchtigten die Bemühungen, Frieden für Syrien zu erreichen. Die Warnung der EU trifft zu. Tatsächlich sind seit Beginn der militärischen Aggressionen des NATO-Partners Türkei mehrere Dutzend Zivilisten ums Leben gekommen und weit über 100.000 vertrieben worden oder geflohen. Mehrere Morde syrischer, an der Seite türkischer Truppen kämpfender Freischärler an kurdischen Gefangenen sind dokumentiert. Bis zu 400.000 Menschen würden in den kommenden Tagen voraussichtlich auf humanitäre Hilfe angewiesen sein, sagt das UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) voraus.[2] Auch benötigten schon jetzt 1,5 Millionen Menschen medizinische Unterstützung.

Die EU und das Recht

Allerdings wäre die Erklärung der EU-Außenminister glaubwürdiger, träten nicht diverse EU-Staaten ihrerseits seit Jahren in Syrien das internationale Recht mit Füßen. Während Brüssel nun behauptet, der "Souveränität und territorialen Integrität des syrischen Staates verpflichtet" zu sein, und dies auch von Ankara einfordert, haben vor allem die westeuropäischen Mächte Syriens Souveränität seit Mitte 2011 regelmäßig missachtet, indem sie den Aufstand gegen die Regierung von Bashar al Assad entschlossen unterstützten - die Bewaffnung der Aufständischen inklusive.[3] Frankreich hat rund 200 Spezialkräfte auf syrischem Territorium stationiert, ohne dafür über eine Genehmigung der Regierung in Damaskus zu verfügen. Auch die Bundesrepublik verstößt gegen Syriens Souveränität, indem deutsche Tornado-Jets regelmäßig in syrischem Luftraum fliegen, um Stellungen und Operationen des IS auf syrischem Territorium auszukundschaften - ebenfalls ohne Erlaubnis der zuständigen syrischen Stellen.[4] Eine Regierungssprecherin hat gestern bekräftigt, die Flüge der deutschen Tornados würden ohne Einschränkung fortgesetzt. Werfen die EU-Außenminister der Türkei zu Recht vor, ihr Überfall auf Syrien verschlimmere die Lebenslage der Bevölkerung dramatisch, so trifft dies ebenso auf Brüssels Sanktionen gegen Damaskus zu, die bereits seit Jahren tödliche Folgen haben (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

Ein Placebo

Heißt es in Berichten, die EU habe gestern faktisch ein Waffenembargo gegen die Türkei verhängt, so trifft dies tatsächlich nicht zu. Die Außenminister rufen in ihrer Erklärung in Erinnerung, dass einige Mitgliedstaaten beschlossen haben, "die Genehmigung von Waffenlieferungen an die Türkei umgehend zu stoppen".[6] Dies betrifft nicht die Realisierung schon genehmigter Rüstungsexporte. Die Bedeutung der feinsinnigen Formulierung zeigt ein Blick auf die Genehmigungs- und die Lieferpraxis der Bundesrepublik in den vergangenen Jahren. So genehmigte die Bundesregierung im Jahr 2018 die Ausfuhr von Rüstungsgütern im Wert von nur 12,9 Millionen Euro an die Türkei, während deutsche Waffenschmieden auf der Grundlage zuvor erteilter Genehmigungen Kriegsgerät im Wert von 242,8 Millionen Euro an das Land lieferten - knapp ein Drittel aller deutschen Kriegswaffenexporte.[7] Erteilte der Bundessicherheitsrat vom 1. Januar bis zum 5. Juni 2019 der Ausfuhr von Rüstungsgütern im Wert von 23,3 Millionen Euro an die Türkei seine Zustimmung, so wurde im selben Zeitraum Kriegsgerät im Wert von mehr als 180 Millionen Euro geliefert; auch dies war schon Jahre zuvor genehmigt worden. Hinzu kommt, dass ein Regierungssprecher gestern den Genehmigungsstopp auf Rüstungsgüter beschränkte, "die durch die Türkei in Syrien eingesetzt werden könnten".[8] Die Ausfuhr von Waffen, bei denen die Bundesregierung davon ausgeht, sie könnten in Syrien nicht zur Anwendung kommen, darf demnach weiterhin gestattet werden. Beobachter stufen den angeblichen Exportstopp denn auch als "Placebo" ein.[9]

Deutsche Jihadisten

Abgesehen davon legt die aktuelle Entwicklung in Syrien gleich in mehrfacher Hinsicht das Scheitern der Berliner Politik gegenüber dem Land offen. Das gilt zum einen für den Umgang mit deutschen Jihadisten, die in Syrien aufgegriffen und in Lagern interniert wurden. Bisher hatte die Bundesregierung stets die Position vertreten, sie müsse sich um Jihadisten, die aus Deutschland nach Syrien gereist waren, um dort in den Krieg zu ziehen, nicht kümmern; das sei Aufgabe des Landes, in dem sie Verbrechen begangen hätten - also die Aufgabe Syriens und des Irak. Dabei störte es Berlin nicht, dass die beiden Länder stark kriegszerstört sind und weit dringendere Anliegen haben, als sich um aus fremden Ländern eingeschleuste IS-Milizionäre zu kümmern. Angaben deutscher Stellen zufolge leben mindestens rund 80 Jihadisten in syrischen Lagern, die seit dem Beginn der türkischen Invasion nicht mehr als sicher gelten; ob sich unter den wohl mehr als 500 bereits ausgebrochenen Gefangenen auch solche befanden, die aus Deutschland eingereist waren, ist nicht bekannt. Wenigstens einigen von ihnen wird zugetraut, Terroranschläge auch hierzulande zu verüben. Hätte Berlin sie zurückgeholt und sie in der Bundesrepublik vor Gericht gestellt, bestünde diese Gefahr nun nicht.

Gescheitert

Darüber hinaus haben sich die vor Jahren gehegten Hoffnungen, bestimmenden Einfluss auf eine vom Westen eingesetzte syrische Regierung zu erlangen, vollständig zerschlagen. Im Jahr 2012 hatte Berlin rund 40 syrische Exiloppositionelle unter Anleitung deutscher Spezialisten detaillierte Pläne für den Umbau Syriens nach dem Sturz der Regierung von Bashar al Assad erstellen lassen, von dem damals deutsche Beobachter - Geheimdienstler inklusive - fest ausgingen.[10] Dies hat sich als Fehleinschätzung erwiesen. Im Gegenteil: Der Regierung in Damaskus könnte es nach der Invasion des NATO-Partners Türkei gelingen, weitere Landesteile, die sich ihrer Herrschaft noch entzogen haben, wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Syriens Schutzmacht ist bei alledem nicht der Westen, sondern Russland, das maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklungen im Lande hat, während die Vereinigten Staaten einen Großteil ihrer Soldaten und Frankreich vielleicht sogar alle seine im Land stationierten Truppen abziehen müssen - das Gegenteil dessen, womit auch Berlin nach dem Beginn des Aufstands und der westlichen Hilfe für die Aufständischen im Jahr 2011 gerechnet hatte.



Mehr zum Thema:
Die "Türkisierung" Nordsyriens
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8069/


Anmerkungen:

[1] North East Syria: Council adopts conclusions. consilium.europa.eu 14.10.2019.

[2] Turkey-Syria offensive: The people caught in the middle. bbc.co.uk 14.10.2019.

[3] S. dazu Im Rebellengebiet (II)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5870/
und Syriens westliche Freunde
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6154/

[4] S. dazu Deutschland im Syrien-Krieg
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7988/

[5] S. dazu Gezielt ausgehungert
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/6690/
und Politik der verbrannten Erde
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7866/

[6] North East Syria: Council adopts conclusions. consilium.europa.eu 14.10.2019.

[7] Türkei bleibt Großkunde deutscher Waffen. tagesschau.de 16.07.2019.

[8] Regierungspressekonferenz. Berlin, 14.10.2019.

[9] Gerhard Hegmann: Warum dieser Exportstopp ein Placebo ist. welt.de 13.10.2019.

[10] S. dazu The Day After
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5663/
und The Day After (III)
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5691/

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2019

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