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INTERVENTION/030: Der Krieg um Idlib (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 25. Februar 2020
german-foreign-policy.com

Der Krieg um Idlib

Berlin sucht Konflikt zwischen Moskau und Ankara zu nutzen, um Einfluss auf Syrien zu erlangen.


BERLIN/DAMASKUS - Bundeskanzlerin Angela Merkel will auf einem Vierergipfel mit den Präsidenten Russlands, der Türkei und Frankreichs Einfluss auf die Zukunft der nordsyrischen Provinz Idlib nehmen. Der Gipfel, den der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Wochenende ankündigte, soll in der kommenden Woche stattfinden und Optionen für eine Beendigung der Kämpfe in der Provinz eruieren. Dort sind in den vergangenen Wochen die syrischen Streitkräfte gegen Milizen vorgerückt, die in deutschen Medien meist als "Rebellen" bezeichnet, tatsächlich jedoch von einem Al Qaida-Ableger dominiert werden. Die Kämpfe haben die Differenzen zwischen Russland und der Türkei über das weitere Vorgehen in Syrien wachsen lassen und bei den westlichen Mächten neue Hoffnungen hervorgerufen, einen Keil zwischen Ankara und Moskau treiben zu können. Spezialisten weisen vor dem Gipfel allerdings darauf hin, dass Berlin kaum über Einflussmöglichkeiten in Syrien verfügt. Dringend nötige Hilfen zum Wiederaufbau macht die EU vom Sturz der Regierung in Damaskus abhängig.

Syrische Offensive

Die syrischen Streitkräfte haben ihre aktuelle Offensive in Idlib im Dezember vergangenen Jahres begonnen. Hintergrund ist nicht zuletzt, dass der Al Qaida-Ableger Hayat Tahrir al Sham (HTS) mit mehreren zehntausend Kämpfern die nordsyrische Provinz fest unter Kontrolle hat und Verhandlungen über eine etwaige nichtmilitärische Beilegung des Konflikts deshalb ausgeschlossen zu sein scheinen. Zwar hat die türkische Regierung mehrfach zugesagt, HTS zur Einhaltung eines Waffenstillstands zu veranlassen; dies ist jedoch bislang nicht gelungen und dürfte auch künftig scheitern, weil ein Flügel von HTS jegliche taktischen Zugeständnisse an Ankara ablehnt und den Jihad ungehemmt fortsetzen will.[1] Zuletzt konnte die syrische Armee die Jihadistenmilizen hinter die wichtige Autobahn M5 zurückschlagen, die die nordsyrische Metropole Aleppo mit der Hauptstadt Damaskus verbindet und nun zum ersten Mal seit acht Jahren wieder komplett genutzt werden kann. Dabei ist es mehrfach zu Zusammenstößen mit türkischen Truppen gekommen, die in Idlib zwölf Beobachtungsposten unterhalten. Bisher kamen dabei 16 türkische Soldaten zu Tode.

Feuerschutz für Jihadisten

Ankara nimmt dies zum Anlass für neue Angriffe gegen Damaskus. Motiviert ist es dabei nicht nur durch den Wunsch nach Vergeltung, sondern vor allem dadurch, dass die Offensive der syrischen Streitkräfte Hunderttausende auf die Flucht in Richtung auf die syrisch-türkische Grenze getrieben hat. Die Türkei beherbergt bereits mehr als 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge. In der Bevölkerung nimmt die Ablehnung ihnen gegenüber deutlich zu; mittlerweile sprechen sich vier Fünftel dafür aus, sie nach Syrien abzuschieben.[2] Jetzt erneut Flüchtlinge aus Idlib einreisen zu lassen, kommt für die türkische Regierung daher nicht in Frage, weshalb sie alles unternimmt, um die syrische Offensive zu stoppen. Zum einen hat sie bei Angriffen auf syrische Stellungen mehrere Dutzend syrische Soldaten getötet und 5.000 Militärs zusätzlich nach Syrien einmarschieren lassen. Zudem hat sie den Jihadistenmilizen bei Angriffen Artilleriefeuerschutz gewährt. Auch die Raketen, mit denen die Jihadisten jüngst zwei syrische Hubschrauber abschießen konnten, stammen mutmaßlich aus der Türkei. Laut Berichten unterstützt Ankara die Jihadisten nicht zuletzt mit Störsendern, die syrische Angriffe auf Ziele in Idlib erschweren.[3]

Chance für den Westen

Darüber hinaus hat Ankara, weil sein militärischer Spielraum aufgrund der russischen Kontrolle über den syrischen Luftraum beschränkt ist, eine diplomatische Offensive gestartet. Hatte es in den vergangenen Jahren trotz völlig gegensätzlicher Interessen in Syrien beim Versuch, den Krieg zu beenden, eng mit Moskau zusammengearbeitet und auch sonst die Kooperation mit Russland intensiviert, so wendet es sich nun an den Westen. So hat Ibrahim Kalin, ein einflussreicher Berater von Präsident Recep Tayyip Erdogan, schon am 12. Februar den US-Sonderbeauftragten für Syrien James Jeffrey zu umfassenden Gesprächen in Ankara empfangen.[4] US-Außenminister Mike Pompeo begleitete die Zusammenkunft mit Beistandsversprechen gegenüber Erdogan via Twitter.[5] US-Präsident Trump bekundete am 15. Februar in einem Telefonat mit Erdogan "Sorge über die Gewalt" in Idlib und forderte die russische Regierung auf, die "Gräueltaten" der syrischen Armee nicht weiter zu unterstützen.[6] Westliche Beobachter hatten schon Anfang des Monats die Chance zu erkennen gemeint, die russisch-türkische Kooperation angesichts der deutlich zunehmenden Interessensdivergenzen zwischen beiden Ländern zu sprengen.[7]

Doppelte Standards

Auch die Bundesregierung sucht sich die Spannungen zwischen Ankara und Moskau zunutze zu machen. Als Legitimation, um sich einzumischen, nutzt Berlin die dramatische Lage der wohl rund 800.000 Flüchtlinge aus, die in Idlib bei bitterer Kälte den Kämpfen zu entkommen suchen. Hatte die Bundesregierung während der westlichen Angriffe auf Mossul, Raqqa sowie andere vom IS kontrollierte Städte stets betont, man müsse den Krieg gegen die Jihadisten trotz der katastrophalen Lage der Bevölkerung und der zahllosen zivilen Todesopfer [8] weiterführen, so wendet sie beim aktuellen russisch-syrischen Krieg gegen den Al Qaida-Ableger HTS komplett abweichende Maßstäbe an: Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron drangen am Donnerstag in einem Telefongespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin auf die sofortige Beendigung der Kämpfe gegen HTS. Unterstützt wurden sie von den EU-Staats- und Regierungschefs, die noch am Donnerstagabend auf ihrem Gipfel erklärten, der Krieg gegen die Jihadisten verursache gewaltiges Leid, sei daher "inakzeptabel" und "unverzüglich einzustellen".[9] Derlei Forderungen hatte die Union während der mörderischen westlichen Bombardements von Mossul und Raqqa nie geäußert.

Vierergipfel

Mit ihrem Vorpreschen hat die Bundesregierung nun einen ersten Erfolg erzielt. Wie der türkische Präsident Erdogan am Samstag ankündigte, wird er am 5. März gemeinsam mit seinem russischen Amtskollegen einen Vierergipfel mit Merkel und Macron abhalten, um über eine Lösung für den Konflikt um Idlib zu verhandeln.[10] Allerdings ist unklar, wie Berlin auf dem Treffen Einfluss nehmen will: Nach dem Scheitern der Versuche, die Regierung von Bashar al Assad zu stürzen, gebe es "außer warmen Worten und künftigen Angeboten stabilisierender Hilfen" nicht viel, was "die westlichen Mächte in Idlib tun" könnten, heißt es etwa in einem aktuellen Positionspapier aus dem European Council on Foreign Relations (ECFR).[11]

Keine Wiederaufbauhilfe

Tatsächliche Hilfen für den Wiederaufbau des kriegszerstörten Landes, mit denen Deutschland auf die Entwicklung in Syrien Einfluss nehmen könnte, werde Berlin jedoch kaum in Aussicht stellen, hieß es in der vergangenen Woche auf einer Veranstaltung in Moskau, auf der ein Spezialist des Think-Tanks International Crisis Group (ICG) einen neuen Bericht seiner Organisation vorstellte. Zwar gebe es in Syrien, wo rund ein Drittel der gesamten Infrastruktur beschädigt oder vollständig zerstört sei, riesigen Bedarf an Wiederaufbauhilfe; doch habe die EU stets bekräftigt, nur dann Unterstützung zu leisten, wenn die Regierung in Damaskus gestürzt werde. Damit allerdings sei nicht zu rechnen, wurde am Rande der Veranstaltung der Generaldirektor des Russischen Rates für internationale Angelegenheiten, Andrej Kortunow, zitiert; Hilfsgelder aus der EU würden daher wohl ausbleiben.[12] Dafür spricht ebenfalls, dass die Vereinigten Staaten zur Zeit versuchen, den per Aufstand nicht erreichten Sturz der syrischen Regierung nun mit neuen Wirtschaftssanktionen zu erzwingen. german-foreign-policy.com berichtet in Kürze.


Anmerkungen:

[1] Engin Yüksel: Strategies of Turkish proxy warfare in northern Syria. Back with a vengeance. CRU Report. The Hague, November 2019.

[2] Omer Karasapan: Turkey's Syrian refugees - the welcome fades. brookings.edu 25.11.2019.

[3] Christoph Ehrhardt: Geschichten der Ohnmacht. Frankfurter Allgemeine Zeitung 18.02.2020.

[4] Zafer Fatih Beyaz: Turkey's presidential spokesman, US envoy discuss Syria. aa.com.tr 12.02.2020.

[5] US 'stands by' Turkey over Syrian army attack. duvarenglish.com 11.02.2020.

[6] Trump fordert Ende der russischen Unterstützung für Assads "Gräueltaten". spiegel.de 17.02.2020.

[7] David Gardner: Russia and Turkey have fallen out in Syria. ft.com 04.02.2020.

[8] S. dazu Doppelte Standards
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7543/
und Die präzisen Luftangriffe des Westens
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7629/

[9] Merkel und Macron fordern Waffenruhe in Idlib. tagesschau.de 21.02.2020.

[10] Erdogan Treffen mit Merkel, Macron und Putin an. deutschlandfunk.de 22.02.2020.

[11] Asli Aydintasbas: Idlib chaos: The latest test for Turkish-Russian ties. ecfr.eu 12.02.2020.

[12] Natalia Pawlowa: Der Wiederaufbau Syriens: Unlösbare Widersprüche in Herangehensweise Russlands und der EU. de.sputniknews.com 20.02.2020.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. Februar 2020

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