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OFFENER BRIEF/034: An Bundeskanzlerin Merkel zur Afghanistan-Konferenz in Kabul (medica mondiale)


medica mondiale e.V. - 19. Juli 2010

Offener Brief an Bundeskanzlerin Merkel


Vor dem Hintergrund der morgigen Afghanistankonferenz in Kabul hat medica mondiale gegenüber der Bundesregierung ihre große Besorgnis über die aktuelle Verschlechterung der Menschenrechtslage in Afghanistan insgesamt und für die weibliche Bevölkerung im Besonderen zum Ausdruck gebracht. In einem öffentlichen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel, Außenminister Guido Westerwelle, Verteidigungsminister Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Innenminister Thomas de Maizière und Entwicklungsminister Dirk Niebel mahnt die Frauenrechtsorganisation, dass das Konzept der Afghanisierung nicht zu Lasten der afghanischen Zivilbevölkerung umgesetzt werden dürfe. Die zum großen Teil aus ehemaligen 'War Lords' bestehende afghanische Regierung habe in der Vergangenheit oft genug bewiesen, dass sie kein ernsthaftes Interesse am Aufbau demokratischer Strukturen und an der Einhaltung von Frauen- und Menschenrechten hat, heißt es in dem Schreiben. Auch die Internationale Gemeinschaft habe es bislang sträflich versäumt, den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in Afghanistan voranzutreiben. Funktionierende Staatsapparate, die große Summen von Entwicklungsgeldern vertrauenswürdig und sinnvoll verwalten könnten, gebe es zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Auch aus diesem Grunde könnten internationale Abkommen zum Schutz der Frauen nicht umgesetzt werden.

In dem Schreiben verweist medica mondiale auf ihr aktuelles Positionspapier zur Lage der Frauen in Afghanistan. Darin fordert die Frauenrechtsorganisation unter anderem ein sofortiges Ende der Operation "Enduring Freedom" und die Unterstellung sämtlicher internationaler Truppen unter UNO-Mandat. Des weiteren müsse eine klare Trennlinie gezogen werden zwischen Militär und zivilen Organisationen der Entwicklungszusammen- und Menschenrechtsarbeit und sich das Verhältnis der bereitgestellten Gelder dringend zugunsten des zivilen Aufbaus verschieben. Bislang gingen drei Viertel der deutschen Ausgaben für Afghanistan in den militärischen Einsatz, nur ein Viertel in den zivilen Aufbau. Gelder für Frauenprojekte betragen sogar nur ein Prozent der Gesamtausgaben. Zudem sollen Zahlungen der Geberländer von der Einhaltung der Menschenrechte abhängig gemacht werden, lautet eine weitere von insgesamt 13 Forderungen.


Den Brief an die Bundesregierung finden Sie im Anhang.
Den Brief an die Bundesregierung sowie das Positionspapier von medica mondiale zur Lage der Frauen in Afghanistan finden Sie auch auf der Internetseite www.medicamondiale.org

Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Im Schattenblick finden Sie das Positionspapier von medica mondiale zur Lage der Frauen in Afghanistan unter:
www.schattenblick.de -> Infopool -> Bürger und Gesellschaft -> STANDPUNKT/147: "Wir waren voll Hoffnung auf eine bessere Zukunft..."
(medica mondiale)


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Frau
Dr. Angela Merkel
Bundeskanzlerin
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin
Fax: +49 3018 681-2926



19. Juli 2010

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,

mit großer Besorgnis über die aktuelle Verschlechterung der Menschenrechtslage insgesamt und für die weibliche Bevölkerung in Afghanistan im Besonderen wende ich mich heute an Sie. Am morgigen Tag findet in Kabul die Afghanistankonferenz statt. Hierzu sagt der deutsche Außenminister in seiner Regierungserklärung vom 09. Juli, die Wahl des Veranstaltungsortes sei "Ausdruck des festen Willens, die vollständige Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände zu übergeben". Auch medica mondiale hält das Konzept der "Afghanisierung" für grundsätzlich richtig. Dieses kann und darf aber nicht zu Lasten der afghanischen Zivilbevölkerung umgesetzt werden. Die zum großen Teil aus ehemaligen ,War Lords' bestehende afghanische Regierung hat in der Vergangenheit oft genug bewiesen, dass sie kein ernsthaftes Interesse am Aufbau demokratischer Strukturen und der Einhaltung von Frauen- und Menschenrechten hat. Hierzu möchten wir Sie exemplarisch lediglich auf die Ratifizierung des frauenfeindlichen Schiitischen Personenstandsgesetzes durch den afghanischen Präsidenten im letzten Jahr hinweisen.

Auch die neue Regierung, von der fünf Ministerposten immer noch nicht besetzt wurden, lässt für die afghanischen Frauen nichts Gutes hoffen. So formulierte der neue afghanische Justizminister bei einem Treffen gegenüber Kolleginnen von medica mondiale Afghanistan regelrechte Hasstiraden gegen Frauenschutzhäuser. Zwei dieser Häuser - mühsam aufgebaut auch mit internationalen Geldern - wurden bereits geschlossen.

Ebenso besorgniserregend wie die Haltung der afghanischen Regierung sind auch die sich verschärfenden, frauenfeindlichen Tendenzen in der afghanischen Bevölkerung. Mit den so genannten Ulama Edikten (Rat von geistlichen Führern) werden Frauen massiv unter Druck gesetzt, indem diese zum Beispiel Reisen von Frauen ohne männliche Begleitung als Verstoß gegen die Scharia auslegen oder aber die Zusammenarbeit von Frauen und Männern in einem Raum quasi als Teufelswerk verurteilen. Frauen erhalten auf ihren Mobiltelefonen Videos mit Vergewaltigungsszenen, weibliche Abgeordnete Todesdrohungen. Von einer positiven Entwicklung für die Frauenrechte kann daher nicht die Rede sein.

Umso mehr verwundert es, dass trotz der endlich gewonnenen Erkenntnis, dass militärische Ansätze nicht zur Befriedung Afghanistans führen werden, weiterhin täglich 100 Millionen US-Dollar in das Militär gesteckt werden; nur sieben Millionen US-Dollar hingegen für den zivilen Aufbau. Dieses Missverhältnis vermag auch die Aufstockung der zivilen Mittel für Afghanistan um weitere zehn Millionen Euro durch die Bundesregierung nicht verändern. Davon abgesehen stellt sich die Frage, wie dieses Geld unter dem Gesichtspunkt der Effizienz und Nachhaltigkeit in Afghanistan investiert werden soll. Die Internationale Gemeinschaft hat es sträflich versäumt, den Aufbau demokratischer und rechtsstaatlicher Strukturen in Afghanistan voranzutreiben. Funktionierende Staatsapparate, die große Summen von Entwicklungsgeldern vertrauenswürdig und sinnvoll verwalten könnten, gibt es zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Auch aus diesem Grunde können internationale Abkommen zum Schutz der Frauen nicht umgesetzt werden.

Wie Außenminister Westerwelle in seiner Rede richtig erkennt, kann der Aufbau Afghanistans nur durch einen gleichzeitig stattfindenden politischen Prozess vorangetrieben werden. Wenn politischer Prozess aber meint, dass Frauenrechte zugunsten der Interessen kriegführender Parteien aufs Spiel gesetzt werden, muss diesem Ansatz vehement widersprochen werden. Außerhalb des Rahmens der afghanischen Verfassung, die die Gleichheit von Männern und Frauen anerkennt, dürfen keine Verhandlungen stattfinden. Dies gilt auch für das damit verbundene, vom Außenminister benannte zentrale Thema der Konferenz: Reintegration und Versöhnung. Ohne dass die afghanische Regierung gleichzeitig die Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen im Kriegskontext vorantreibt, wird ein erfolgreicher Friedens- und Versöhnungsprozess nicht möglich sein. Die deutsche Regierung darf gerade deshalb nicht hinnehmen, dass der für die Bekämpfung von Straflosigkeit elementar wichtige afghanische Aktionsplan zur Übergangsjustiz de facto nie in Kraft gesetzt, sondern im Dezember 2009 durch ein höchst umstrittenes Amnestiegesetz ersetzt wurde. Dieses Amnestiegesetz hat die Hoffnung auf eine zukünftige Aufarbeitung brutaler Kriegsverbrechen endgültig zunichte gemacht und verhöhnt insbesondere auch die überlebenden Opfer sexualisierter Gewalt.

Wir werden morgen erleben, ob und wie die afghanische Regierung Rechenschaft darüber ablegt, wie es - mit den Worten des Außenministers gesagt - "um die Erfüllung ihrer Pflichten steht" und welche konkreten Schritte sie dabei plant. medica mondiale würde es begrüßen, wenn Präsident Karzai Rechenschaft darüber ablegen würde, warum VertreterInnen afghanischer Frauen- und Menschenrechtsorganisationen lediglich ein halber Sitz bei der Konferenz zugedacht wurde (die andere Hälfte wurde dem privaten Sektor angeboten). Auf diesem Wege kann eine "wirkliche" Afghanisierung nie erfolgen - eine Afghanisierung, die die Stimmen der Zivilgesellschaft hört, sie ernsthaft zur Kenntnis nimmt und als relevante, unabhängige Akteurin anerkennt. Abschließend möchte ich Sie darum heute fragen: Wie will sich die Bundesregierung zu dieser afghanischen Politik verhalten? Welche Maßnahmen wollen Sie ergreifen, um unsere Arbeit in einen sicheren Kontext zu stellen? Und wie wollen Sie die afghanische Zivilbevölkerung davor schützen, dass ihre Bürger- und Menschenrechte mit Füßen getreten werden?

Mit freundlichen Grüßen

medica mondiale
Dr. Monika Hauser


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Quelle:
Pressemitteilung vom 19. Juli 2010
medica mondiale e.V.
Hülchrather Str. 4, 50670 Köln
Telefon: +49/221/9 31 89 8-0, Fax: +49/221/9 31 89 8-1
E-Mail: info@medicamondiale.org
Internet: www.medicamondiale.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2010