Will Russland Europa schwächen?
Russland als Krisenmanager der postsowjetischen (Un)ordnung
von Kai Ehlers, 22. Oktober 2018
Die Behauptung, Russland wolle Europa schwächen, wird in letzter Zeit zunehmend auf dem Schauplatz der medialen Propaganda von westlicher Presse und von westlichen Politaktivisten vorgetragen. Dazu sage ich ganz klar: Nein! Russland will Europa nicht schwächen. Russland kann ohne Europa nicht existieren, so wie Europa nicht ohne Russland. Darüber kann es keine zwei Meinungen geben. Die Frage ist allein: wie?
Man muss sich nur die Jahrzehnte der neueren Geschichte anschauen, da gibt es eindeutige Daten zu dieser Frage:
Das ist die Grundsituation. Aber, dann gibt es ein Aber:
Im Zuge der NATO-Osterweiterung, der Osterweiterung der EU, die bis nach Usbekistan entlang des russischen Bauches durch alle eurasischen Südgebiete reichen sollte und Russland versuchte einzuschnüren, und entlang begleitender Vorgänge wie der sog. bunten Revolutionen kam Russland zu einer differenzierteren Politik gegenüber der EU. Russland ging gezwungenermaßen dazu über, seine eigenen Interessen zu schützen. Das Motto hieß, Russland muss wieder auf die Beine kommen, muss wieder stark werden, Russland muss aus dem Elend des Zusammenbruchs und aus der Umklammerung herauskommen.
Dazu gibt es eine Innenpolitik - und eine Außenpolitik, für die Putin steht:
Nach innen - hat er das Land stabilisiert, indem er es schaffte, einen Konsens der widerstreitenden Kräfte herzustellen. Danach hat er die innere Stabilisierung nach außen getragen. Er wies die Kolonisierungsversuche der USA und auch der Europäischen Union zurück, indem er gleich nach seinem Antritt für eine Begleichung der sowjetischen Alt-Schulden sorgte und die Annahme weitere Kredite vom IWF ablehnte. Sinn dieser Politik war, Russland unabhängig von den westlichen Geldgebern zu machen, jedenfalls relativ unabhängig, wenn man sich auch vom Kapitalmarkt nicht fernhalten konnte. Aber aus der Verschuldungsschraube wollte man raus.
Die weiteren Schritte Putins sind gekennzeichnet von einer allmählichen Lösung Russlands aus der Umklammerung und der Entwicklung Putins zum globalen Krisenmanager:
Die weiteren Ereignisse sind bekannt:
Im Ergebnis der hier skizzierten Entwicklung der letzten Jahre stehen sich Donald Trump und Wladimir Putin in einem prekären Patt gegenüber, Trump als Zerstörer, Putin als Verteidiger der bestehenden Völkerordnung. Die EU steht unentschieden dazwischen - abhängig von den USA und von Russland gleichermaßen. Im Hintergrund erhebt sich China zu neuer Größe.
Soweit zu der generellen Situation. Das kann man alles sehr viel detaillierter behandeln. Ich will es aber bei dieser Skizze zunächst einmal belassen, um mich noch einem anderen Aspekt zuzuwenden, den ich genauer beleuchten möchte: die besonderen Beziehungen von Russland zu Europa und Europa zu Russland.
Ich betone noch einmal: Europa und Russland sind nicht zu trennen. Sie sind wie siamesische Zwillinge. Sie gehören als eurasisches Paar zusammen. Tötet man den einen, tötet man den anderen, zurückhaltender gesagt, bedrängt man den einen, bedrängt man den anderen, oder sie bedrängen sich gegenseitig. Sie können - bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Wünsche - nicht voneinander kommen. Sie müssen sich miteinander entwickeln.
Das Bild der siamesischen Zwillinge sollte uns immer vor Augen sein, wenn wir anschauen, was es mit der Beziehung von Russland und Europa auf sich hat: Ein Russland ohne Europa bzw. ein Europa ohne Russland kann es nicht geben.
Hier ist deswegen auch der Ort, der aktuellen Feind-Propaganda der EU gegenüber Russland entgegen zu treten, die ich schon eingangs erwähnt habe. In ihr wird verbreitet, Russland spalte die EU, indem es die Rechten unterstütze, sie finanziere, sie nach Russland einlade und so dem Nationalismus in Europa Vorschub leiste mit dem Ziel, die EU zu zerstören.
Diese Behauptung ist falsch, aber sie ist nicht einfach vom Tisch zu wischen, weil es in der Tat Vorgänge gab, die einen solchen Eindruck entstehen lassen konnten: Vertreter und Vertreterinnen der europäischen Rechten, der französischen, der italienischen und auch der deutschen AfD sind nach Moskau, nach Russland geflogen und haben dort mit russischen Politikern Kontakt aufgenommen. Der 'Front National' hat sogar Wahlkampfhilfe aus Russland bekommen. Vor dem Hintergrund der aggressiven Ablehnung Russlands durch die EU hat sich so nach dem bekannten Motto 'der Feind meines Feindes ist mein Freund' eine Situation ergeben, die in der Tat den Eindruck entstehen lassen konnte, als gäbe es eine gemeinsame Front der europakritischen Rechten und Russlands gegen die EU. Das ist irritierend.
Weiterhin ist nicht vom Tisch zu wischen, dass eine große Zahl der in Deutschland lebenden Russland-Deutschen bzw. der nach Perestroika zu uns gekommenen Russen und Russinnen eine starke Affinität zur Rechten haben, konkret heute zur AfD. Große Teile der hier lebenden russischen Bevölkerung haben sich der AfD zugewandt. Da stellen sich natürlich Fragen: warum tun sie das? Es gibt verschiedene Antworten. Eine könnte lauten: Die russischen Einwanderer fühlen sich hier als Menschen zweiter Klasse behandelt, fühlen sich von den etablierten Parteien, einschließlich der Linken, nicht vertreten. Diesen Menschen, die vom Sozialismus wie auch von der westlichen Demokratie enttäuscht sind, bietet die AfD mit ihrer fundamentalen Systemkritik - als Anti-Linke Kraft - offenbar im wahrsten Sinne des Wortes eine Alternative.
Dies alles zusammen macht die Situation ziemlich unüberschaubar. Das ist natürlich ein gefundenes Fressen für Vereinfacher und Demagogen.
Tatsächlich ist es so, dass die Politik der russischen Staatsführung mit dem, was die europäischen Nationalisten, Rassisten, Alt- oder Neonazis oder auch ihre russischen Kontaktstellen vertreten, nicht übereinstimmt, nicht innenpolitisch und nicht außenpolitisch.
Putin hat wiederholt erklärt,
Nationalismus und Islamfeindlichkeit der europäischen Rechten sind mit den Realitäten in Russland nicht vereinbar. Das heißt, die Rechten können keine politischen Partner für Russland sein. Sie stehen konträr zu den Zielen der russischen Politik, die sich mit der Rolle Putins als Krisenmanager auch international gegen nationalistische Tendenzen wendet, wie sie zurzeit von den USA unter dem Tenor "America first" ausgehen.
Das Problem ist, dass auch in Russland, klar ausgesprochen, die Idioten noch nicht ausgestorben sind, die dies nicht begriffen haben - noch nicht oder nicht mehr, das sei dahingestellt. Von solchen Kräften wurden die Kontakte zu europäischen Rechten hergestellt. Auf unterer Ebene. So ist das.
Bedauerlicherweise hat die politische Öffentlichkeit Russlands die von diesen Kontakten für den Ruf Russlands ausgehende Gefahr lange nicht erkannt, jedenfalls darauf nicht reagiert. Aber jetzt, im Sommer dieses Jahres, hat die politische Führung offenbar entschieden - man darf gern sagen: endlich -, dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wohl in der Erkenntnis, dass weiterer Schaden von der russischen Politik abgewendet werden muss.
Im Juli erschien eine offizielle Expertise in der Zeitschrift "Expert", einem renommierten russischen Theorieorgan, in der die politischen Kräfte Russlands aufgefordert werden genauer hinzuschauen, mit wem sie es bei den europäischen Rechten zu tun haben. Die Verfasserin der Expertise, Veronika Kraschnennikowa, ist führendes Mitglied der Regierungspartei "Einiges Russland". Ihre Position wäre in etwa vergleichbar mit einer Mitgliedschaft im Führungsgremium der Großen Koalition. (Siehe dazu die Veröffentlichung in der Internetzeitung www.russland.news / Stichwort: AfD)
Unmissverständlich erklärt Frau Kraschnennikowa, dass russische Politik mit den rechten europäischen Strömungen nicht vereinbar sei. Mit Bezug auf Putin wird erklärt,
Organisation für Organisation, einschließlich der einschlägigen Lebensläufe der führenden Personen, werden in der Expertise die rechten Strömungen der EU abgeklopft, und es wird klar herausgearbeitet, dass ein staatliches Interesse Russlands an diesen Kontakten nicht bestehe, mehr noch und unmissverständlich, dass aufgrund der Geschichte Russlands wie im Sinne seiner gegenwärtigen Politik ein solches Interesse auch nicht bestehen könne.
Die Expertise ist eine klare Botschaft von hoher politischer Ebene zu der Frage, wo Russlands Interessen in der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union liegen: Eben nicht in einer Stärkung der Rechts-Entwicklung und des Nationalismus in Europa, sondern in der Entwicklung eines starken und demokratischen Europa, das der Politik der USA entgegentreten kann und das zur Bündnisbereitschaft mit Russland zurückfindet. Darum geht es.
Bemerkenswert ist schließlich, dass die bereits im Juli 2018 erfolgte Veröffentlichung in der deutschen und europäischen Presse nicht aufgegriffen wurde. Erst mit der Veröffentlichung in Russland News wurde sie der deutschen Leserschaft bekannt gemacht. Bei Russland.news sind auch weitere Details nachzulesen, außerdem ist dort ein Life-Interview mit der Autorin der Expertise zu sehen. (www.russland.news, Stichwort: AfD) Aufgegriffen wurde die Information danach nur von RT-Deutsch. Deutlicher kann das Desinteresse der herrschenden Medien und Politik an publizistischer Wahrheitsfindung, weniger zurückhaltend gesagt, das Interesse an der Aufrechterhaltung des vergifteten Märchens von der angeblichen russischen Bedrohung gegenüber der Europäischen Union, nicht dokumentiert werden.
(Schriftliche Fassung eines Workshop-Vortrags beim
Attac-Kongress "Ein anderes Europa ist möglich" vom 6. und 7. Oktober
2018)
Kai Ehlers ist Osteuropa-Experte, Autor und Journalist.
www.kai-ehlers.de
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Quelle:
© 2018 by Kai Ehlers
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Oktober 2018
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