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STANDPUNKT/299: Die Europäische Union redet Klartext - Israel reagiert empört ... (Peter Strutynski)


Die Europäische Union redet Klartext - Israel reagiert empört ...
... und kontert mit Verhandlungsangebot

Von Peter Strutynski, 22. Juli 2013



Israels Premierminister ist mit allen Wassern gewaschen. Seine politische Wendigkeit stellte er soeben wieder unter Beweis, als er - im Windschatten der diplomatischen Bemühungen von US-Außenminister Kerry, den Nahost-Friedensprozess wieder in Ganz zu bringen - seine Bereitschaft zu einer neuen Gesprächsrunde mit Palästinenserpräsident Abbas ankündigte und den bis dahin als "störrisch" geltenden Palästinensern noch ein Zuckerl anbot: 85 langjährige palästinensische Häftlinge - allesamt "Terroristen" aus Sicht Tel Avivs, "Kriegsgefangene" in palästinensischer Lesart - sollen aus israelischer Haft entlassen werden. Dies gehörte offenbar zu den von Kerry bei seinen Gesprächen der letzten Woche ausgehandelten Präliminarien für die Wiederaufnahme der beiderseitigen Verhandlungen, die seit drei Jahren auf Eis lagen. Netanjahu zeigt damit seinen guten Willen und schiebt den Schwarzen Peter auf die andere Seite. Lehnt Abbas weiterhin Gespräche ab, ist Israel fein heraus; nimmt er das Angebot an, dürfte sein Rückhalt im eigenen Volk noch weiter schwinden. Selbst die Führung der PLO war erst nach langen kontroversen Diskussionen bereit, diesen Deal mitzumachen. Die im Gazastreifen regierende Hamas - mit der Israel ohnehin nicht spricht - hat Abbas jedes Recht abgesprochen, im Namen des palästinensischen Volks zu sprechen geschweige denn Verhandlungen zu führen.

Die von Kerry vermittelte Verhandlungsrunde - sie soll in Washington stattfinden - ist auch sonst ganz nach dem Geschmack der israelischen Hardliner um Netanjahu. Der muss sich zwar mit ein paar Ultrarechten herumschlagen, die gegen die Freilassung der "Terroristen" zu Felde ziehen, ansonsten aber hat er alle Trümpfe in der Hand: Kein einziges Zugeständnis musste er machen hinsichtlich der israelischen Siedlungen (nur vage ist von einem Siedlungsstopp während der Verhandlungen die Rede) oder der Anerkennung der Grenzen von 1967 als Basis für Verhandlungen. Stattdessen kann er seine Lieblingspartie weiter spielen: Verhandelt wird lediglich zwischen Israel und den Palästinensern (ohne Gaza), eine Internationalisierung des Friedensprozesses findet nicht statt. Bei Zweierverhandlungen zwischen derart ungleichen Partnern - hier ein festgefügter, militärisch hochgerüsteter und zielstrebiger Staat, dort eine äußerst schwache Palästinenserbehörde, hinter der kaum noch jemand steht und von der niemand mehr etwas erwartet - muss man keine prophetischen Gaben besitzen um vorherzusagen, dass der Stärkere den Schwächeren am ausgestreckten Arm buchstäblich verhungern lässt.

Hinzu kommt Netanjahu der Zeitpunkt der neuen Initiative sehr zupass. Er könnte ablenken von einer diplomatischen Schlappe, die ihm vor wenigen Tagen die EU-Kommission zugefügt hat. Am 19. Juli 2013 wurden im Amtsblatt der Europäischen Union "Leitlinien über die Förderfähigkeit israelischer Einrichtungen und ihrer Tätigkeiten in den von Israel seit Juni 1967 besetzten Gebieten im Hinblick auf von der EU finanzierte Zuschüsse, Preisgelder und Finanzinstrumente ab 2014" veröffentlicht. Die von der Kommission in Brüssel herausgegebenen "Leitlinien" sollen verhindern, dass EU-Fördermittel im Rahmen von Kooperationsprogrammen mit israelischen Institutionen oder Unternehmen auch Siedlungen in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten im Westjordanland, in Ostjerusalem und auf den Golanhöhen (im EU-Papier wird der Vollständigkeit halber auch noch der Gazastreifen erwähnt, den Israel aber vor einigen Jahren geräumt hat) zu Gute kommen. Die Empfänger von EU-Mitteln, also auch Regierungsstellen, sollen unterschreiben, dass die Fördermittel nicht in den besetzten Gebieten verwendet werden. Alle Empfänger, die ihren Sitz in einem dieser Gebiete haben, sind demnach ab 2014 von der Vergabe ausgeschlossen. Davon ausgenommen sind nur Akademiker, die in einer Siedlung wohnen und in Israel arbeiten, sowie Ministerien.

Schon vor dieser amtlichen Bekanntmachung hat der ihr zu Grunde liegende Beschluss das Klima zwischen EU und Israel gründlich verhagelt. In ersten Stellungnahmen aus Tel Aviv wurde von einer "ernsten Krise" gesprochen. Die israelische Regierung hat ihre Botschafter angewiesen, den europäischen Regierungen mitzuteilen, "dass keine israelische Regierung die genannten Bedingungen akzeptieren würde".

Präsident Shimon Peres wandte sich am 18. Juli mit der dringenden Aufforderung an die Europäische Union, die - bereits getroffene - Entscheidung "zu verhindern", da sie den Friedensprozess gefährden könne: "Die Beziehungen zwischen Israel und der Europäischen Union sind freundschaftlich und ich habe großen Respekt vor der Europäischen Union - ich wende mich an unsere Freunde und sage: wartet mit Eurer Entscheidung - gebt dem Frieden Priorität. Setzt keine unverantwortlichen Sanktionen durch, die den Friedensprozess gefährden könnten. Die Entscheidung der Europäischen Union ist unnötig und kommt zur falschen Zeit. Die Themen sind komplex und sensibel, verschiebt Eure Entscheidung." Peres rückt die "Leitlinie" der EU-Kommission in ein schiefes Licht: Sie sei dem Friedensprozess abträglich. Zwar gibt es seit Jahren keinen "Friedensprozess" mehr - wofür weniger die EU, sondern vielmehr der fortgesetzte israelische Siedlungsbau in den besetzten Gebieten verantwortlich ist. Aber es ist doch gut, einen neuen Schuldigen für den Fall ausmachen zu können, dass auch die derzeitigen Bemühungen von US-Außenminister Kerry scheitern sollten, etwas Bewegung in die starren israelisch-palästinensischen Fronten zu bringen. Verantwortlich wäre dann die EU. Präsident Peres warnt nämlich: "Räumt dem Frieden Priorität ein und gebt ihm eine Chance, Eure Entscheidung könnte zu einer weiteren Krise in der Region führen."

Ministerpräsident Natanjahu wurde noch deutlicher. Nach einer eilig einberufenen Beratung mit Justizministerin Tzipi Livni, Wirtschaftsminister Naftali Bennett und dem stellvertretenden Außenminister Zeev Elkin wies er am 16. Juli die EU-Leitlinie in Bausch und Bogen zurück: "Als Ministerpräsident des Staates Israel werde ich nicht zulassen, dass die Hundertausenden Israelis, die in Judäa und Samaria, auf den Golanhöhen und in unserer vereinigten Hauptstadt Jerusalem leben, geschädigt werden. Wir werden kein externes Diktat über unsere Grenzen akzeptieren."

Diese barsche Reaktion kommt nicht von ungefähr. Die "Leitlinien" mögen zwar in ihrer unmittelbaren Wirkung weniger dramatisch sein, in der Begründung aber bedeuten sie einen tief sitzenden rechtlichen und politischen Dissens mit Israel. Tel Aviv besteht darauf, seinem Staatsgebiet keine eindeutig definierbaren Grenzen auferlegen zu wollen. Dies beginnt damit, dass beispielsweise die syrischen Golanhöhen, die 1967 von Israel besetzt wurden, später dem israelischen Staat einverleibt wurden. Dies schlägt sich nieder in dem wiederholt zum Ausdruck gebrachten Bekenntnis, dass ganz Jerusalem, also auch das 1967 besetzte Ostjerusalem die "einige" und "ewige Hauptstadt" Israels sei. Und dies drückt sich aus in der unverminderten Siedlungstätigkeit auf besetztem palästinensischem Gebiet (einschließlich Ostjerusalems), das im offiziellen israelischen Sprachgebrauch als "Judäa und Samaria" firmiert und potenziell teilweise bis ganz dem israelischen Staat einverleibt werden könnte.

Dem setzt die EU-Kommission in den "Leitlinien" die Auffassung entgegen, dass es sich sowohl bei Ostjerusalem als auch beim Westjordanland und erst Recht natürlich bei den Golan-Höhen um besetzte Gebiete handelt, die auf keinen Fall dem israelischen Staat zugeschlagen werden dürfen. Unzweideutig heißt es in Punkt 3 der Leitlinien: "Die EU erkennt Israels Souveränität über die in Punkt 2 genannten Gebiete [Golanhöhen, Gazastreifen, Westjordanland einschließlich Ost-Jerusalem, P.S.] nicht an und betrachtet sie nicht als Teil des israelischen Staatsgebiets". Das entspricht nicht der Rechtsauffassung Israels, wohl aber dem Völkerrecht, das diesbezüglich durch zahlreiche Dokumente der Vereinten Nationen gestützt wird. Zu nennen wäre hier einmal das IV Zusatzprotokoll zu den Rotkreuzabkommen (Genfer Konventionen), das einer Besatzungsmacht verbietet, Teile der eigenen Bevölkerung in die von ihr besetzten Gebiete zu "deportieren" oder zu "transferieren" (Art. 49). Auch das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshof von 1998 verbietet solche n Bevölkerungstransfer. In Art. 8, Ziff. 2 b viii wird "die unmittelbare oder mittelbare Überführung durch die Besatzungsmacht eines Teiles ihrer eigenen Zivilbevölkerung in das von ihr besetzte Gebiet " als Kriegsverbrechen eingestuft.

Entsprechend eindeutig fallen auch die zahlreichen verbindlichen politischen Erklärungen des UN-Sicherheitsrats aus. Die bekannte Resolution 242 (1967) des UN-Sicherheitsrats verlangte den Rückzug Israels aus den zuvor im Sechs-Tage-Krieg besetzten Gebieten. Der Streit über die Reichweite dieser Resolution ist semantischer Art: In der englischen und französischen Fassung der Resolution ist vom Rückzug "from territories" bzw. "des territoires" die Rede, was von Israel bis zum heutigen Tag dahingehend interpretiert wird, dass eben nicht der Rückzug aus allen besetzten Gebieten gemeint sei. Die arabischen Staaten hatten der Resolution unter der Voraussetzung zugestimmt, dass alle besetzten Gebiete gemeint seien. Die ein Jahr später verabschiedete Resolution 252 (1968) erklärte alle israelischen Maßnahmen zur Änderung des Status von Jerusalem einschließlich der vorgenommenen Enteignung von Grundstücken und Immobilien für ungültig. Die Vereinten Nationen reklamierten schon vorher für Ostjerusalem eine internationale Kontrolle; es handelt sich nicht um israelisches Gebiet. Wiederholt befasste sich der Sicherheitsrat mit der seiner Meinung nach "illegalen" israelischen Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten und stellte (z.B. die Resolutionen 267 [1969], 271 [1969], 446 [1979], 452 [1979] oder 465 [1980]. In einer weiteren Resolution aus dem Jahr 1980 Res. 476 (1980) wird beklagt, dass sich Israel kontinuierlich weigert, die einschlägigen UN-Resolutionen zu erfüllen. Eindringlich wird Israel daran erinnert, die Besatzung arabischen Landes einschließlich (Ost-)Jerusalems zu beenden. Schließlich verlangt das Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs (IGH) in Den Haag zum Bau der Mauer die strikte Einhaltung der grünen Linie, d.h. der Grenze, wie sie vor dem Sechstagekrieg 1 967 bestanden hatte.

Die Reaktion der israelischen Regierung auf die EU-Leitlinie entspricht also ganz und gar der langjährigen Weigerung Tel Avivs, internationales Recht und den Willen der Staatengemeinschaft anzuerkennen oder gar praktisch umzusetzen. Der letzte vom sog. Nahost-Quartett unternommene groß angelegte Versuch, mit der Roadmap von 2003 einen israelisch-palästinensischen Friedensprozess voran zu bringen - danach sollte schon 2005 ein Palästinenserstaat neben Israel existieren - scheiterte ebenfalls an der israelischen Haltung, sich in Fragen der Grenzziehung nicht hineinreden zu lassen. Und da die internationale Staatengemeinschaft bisher auch nicht in der Lage oder gewillt war, sich mit Israel ernsthaft anzulegen bzw. wirksamen Druck aufzubauen, konnte kein Fortschritt im Friedensprozess erzielt werden. Im Gegenteil: Mit jedem Tag, den Israel zum Ausbau seiner - illegalen - Siedlungen nutzt, werden die Chancen auf einen gerechten Frieden auf der Grundlage der Zweistaatenlösung immer geringer. Die EU-Kommission mag dies mit ihrer "Leitlinie" vielleicht nicht einmal im Sinn gehabt haben: Objektiv hat sie aber etwas Bewegung in die festgefahrenen Fronten im Nahostkonflikt gebracht. Die israelische Regierung hat das sofort gemerkt und die Gegenoffensive angetreten. Zu hoffen ist, dass nicht nur die Kommission, sondern die ganze EU (der Rat und das EU-Parlament) sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten die in den Leitlinien markierten Positionen - die gar nicht einmal neu sind, nur nicht immer so deutlich ausgesprochen wurden - auch entschieden weiter vertreten. Die Bundesregierung hat leider bereits das Gegenteil signalisiert und distanzierte sich umgehend von dem Beschluss der EU-Kommission, dem sie am Tag zuvor noch zugestimmt hatte. Eine Sprecherin des Außenministeriums erklärte, die Leitlinien seien von der EU-Kommission "in deren eigener Zuständigkeit" entwickelt worden (donaukurier.de, 19.07.2013). Man kann davon ausgehen, dass die Verhandlungsinitiative von Kerry nun in den höchsten Tönen g epriesen wird. Und ein nettes Geschenk haben die EU-Außenminister der israelischen Regierung überbracht, als sie am 22. Juli die libanesische Hisbollah auf die EU-Terrorliste gesetzt haben. Zum Abschuss freigegeben sozusagen - Kampfdrohnen marsch!

Nicht nur die israelische Friedensbewegung, auch weiter denkende israelische Journalisten unterstützen dagegen die Intention der Leitlinie der EU-Kommission. In einer Kolumne für die linksliberale Tageszeitung Haaretz vertritt Gideon Levy den Standpunkt, dass die Forderung nach einem ökonomischen Boykott Israels (wovon die EU-Leitlinie Meilen entfernt ist) eine "patriotische Pflicht" sei. Ein internationaler Boykott sei für sein Land das geringste aller denkbaren Übel, die auf Israel zukommen können. Und er würde sich auf lange Sicht sogar auszahlen. Die israelische Regierung, so seine Überlegung, lasse sich wohl zu Zugeständnisse im Friedensprozess bewegen, wenn aus dem Ausland ökonomischer und politischer Druck aufgebaut würde. Denn dies würde die Wirtschaft spüren, die dann ihrerseits die Regierung zu einer anderen Politik drängen würde. (Gideon Levy: The Israeli Patriot's Final Refuge: Boycott, in: Haaretz, July 14, 2013.) Hoffen wir für Israelis und Palästinenser, dass das nicht zu lange dauert.


Zur Person: Peter Strutynski, Dr. phil, Kassel, Politikwissenschaftler und Friedensforscher; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag; www.ag-friedensforschung .de

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Quelle:
© 2013 by Peter Strutynski, Kassel
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Juli 2013