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STANDPUNKT/331: Die Judaisierung Israels (Uri Avnery)


Die Judaisierung Israels

Von Uri Avnery, 9. November 2013



AN MEINEM 16. Geburtstag, 1939, eilte ich zum Personalamt der britischen Mandats-Regierung Palästinas, um meinen Namen offiziell zu ändern.

Ich slegte meinen deutschen Namen ab, der mir bei der Geburt gegeben wurde und nahm den hebräischen Vor- und Zunamen an, den ich mir ausgesucht hatte.

Es war mehr als nur ein bloßer Namenswechsel. Es war eine Erklärung: eine Trennung von meiner Vergangenheit in der Diaspora ("Exil" in zionistischer Redensweise), von der Trennung der Tradition meiner deutsch-jüdischen Vorfahren, von allem, was "exilisch" war. "Exilisch" war die schlimmste Beleidigung, die man damals jemanden an den Kopf werfen konnte.

Es besagt: ich bin ein Hebräer, ein Teil des großen Abenteuers, eine neue hebräische Nation zu schaffen, die neue hebräische Kultur, den zukünftigen hebräischen Staat, der einmal entstehen sollte, wenn wir das britische Kolonial-Regime aus dem Land geworfen haben würden.


DIES WAR das Normalste, was wir tun konnten. Fast alle meine Freunde und Bekannten taten dies, sobald es vom Gesetz her möglich war.

Als der Staat gegründet wurde, wurde dies die offizielle Politik. Man konnte nicht in den diplomatischen Dienst oder einen höheren Grad in der Armee erhalten, wenn man noch einen fremdländischen Namen trug.

Hätte man sich denn etwa einen israelischen Botschafter in Deutschland vorstellen können, der Berliner hieß? Oder einen israelischen Botschafter in Polen mit dem Namen Polonsky? Oder einen israelischen Ministerpräsidenten, der Grün hieß (das war Ben-Gurions früherer Name)? Einen Stabschef der Armee, der Kitaigorodsky (Moshe Dayans früherer Name) hieß? Oder einen israelischen internationalen Fußballspieler namens Ochs?

Ben-Gurion war in dieser Sache fanatisch. Es war vielleicht das einzige, in dem wir übereinstimmten.


DIE NAMENSÄNDERUNG symbolisierte eine grundlegend ideologische Haltung. Der Zionismus war auf eine totale Negation der jüdischen Diaspora gegründet, seine Lebensweise, seine Traditionen und Ausdrücke.

Der Gründungsvater des Zionismus, Theodor Herzl, jetzt offiziell hier zum "Visionär des Staates" ernannt, stellte sich das vollständige Verschwinden der Diaspora vor. In seinem Tagebuch sah er voraus, dass nach der Gründung des "Judenstaates" alle Juden, die es wünschten, sich in Israel niederlassen würden. Sie (und nur sie) würden in Zukunft Juden genannt werden. Alle andern würden sich schließlich in ihrer Gastnation assimilieren und aufhören, Juden zu sein. (Dieser Teil von Herzls Lehren ist in Israel vollkommen und absichtlich vergessen worden. Er wird weder in den Schulen gelehrt noch von den Politikern erwähnt).

In seinen Tagebüchern, die von hohem literarischem Wert sind, verbarg Herzl seine Verachtung für die Diasporajuden nicht. Einige Passagen sind positiv anti-semitisch - ein Terminus, der in Deutschland vor Herzls erfunden wurde.

Als Grundschüler in Palästina hatte mich diese verächtliche Haltung durchdrungen. Jedes "Exilische" wurde verachtet wie das "jüdische Shtetl", die jüdische Religion, jüdische Vorurteile und der Aberglauben. Wir lernten, dass "Exil-"Juden in "Luftgeschäften" engagiert waren in parasitäre Börsen-Geschäften, die nichts Reales produzierten, dass Juden körperliche Arbeit scheuten, dass ihre soziale Organisation eine "umgekehrte Pyramide" sei, die wir umdrehen wollten, indem wir eine gesunde Gesellschaft von Bauern und Arbeitern aufbauen würden.

In meiner Kompanie im Irgun-Untergrund und später in der israelischen Armee gab es keinen einzigen Kipa-tragenden Kämpfer, auch wenn einige diskret eine Schirmmütze trugen. Die Religiösen wurden bemitleidet.

Die vorherrschende Doktrin war, dass Religion tatsächlich eine sinnvolle Rolle während der Jahrhunderte spielte, indem sie die Juden zusammenhielt und für das Überleben des Judentums sorgte, aber dass jetzt der hebräische Nationalismus diese Rolle übernommen hatte und die Religion überflüssig machte. Man fühlte, dass die Religion bald aussterben würde.

Alles Gute und Gesunde war hebräisch - die hebräische Gemeinschaft, hebräische Landwirtschaft, der hebräische Kibbuz, und die "erste hebräische Stadt" (Tel Aviv), die hebräischen militärischen Untergrundorganisationen, der zukünftige hebräische Staat. Jüdisch gehörte zu den "exilischen" Dingen wie Religion, Tradition und anderes Sinnloses.

Erst als gegen Ende des Zweiten Weltkriegs das volle Ausmaß des Holocausts bekannt wurde, verwandelte sich diese Haltung in tiefe Reue. Es gab ein Gefühl von Schuld, man habe für unsere verfolgten Verwandten nicht genug getan. Das Shtetl mutete jetzt wie das Leuchten von Kindheitserinnerungen, die Leute begannen, sich nach dem warmen jüdischen Heim, sich nach der idyllischen jüdischen Existenz zu sehnen.

Selbst dann weigerte sich Ben-Gurion, die Idee zu akzeptieren, dass Juden außerhalb Israels leben könnten. Er weigerte sich, sich mit zionistischen Führern zu treffen, die im Ausland lebten. Erst als der neue Staat in schwierige wirtschaftliche Nöte geriet und verzweifelt jüdisches Geld benötigt wurde, war er einverstanden, in die USA zu reisen und dort die jüdische Führung zu bitten, Israel zu Hilfe zu kommen.


SEIT DAMALS hat das Judentum ein riesiges Comeback erlebt. Die kleine Gruppe von religiösen Juden, die sich dem Zionismus von Anfang an angeschlossen hatte, ist jetzt eine große und mächtige "national-religiöse" Bewegung, der Kern der Siedler und der extremen Rechte, eine zentrale Partei in der gegenwärtige Regierung.

Die anti-zionistische "Gott fürchtende" ("Haredim") Orthodoxe Gemeinde ist sogar eine noch größere Kraft. Obgleich alle ihre wichtigen Rabbiner zu jener Zeit Herzl und seine Unterstützer verurteilt und verflucht hatten, nützen sie jetzt ihren Einfluss, um immense Summen Geld vom Staat zu erpressen. Ihr Hauptziel ist es, ein getrenntes religiöses Schulsystem zu erhalten, in denen ihre Kinder nichts anders lernen als die heiligen Schriften. Sie verhindern, daß ihre jungen Männer zum Militär eingezogen werden, damit diese nicht in Kontakt mit normalen Jugendlichen kommen, besonders mit Mädchen. Sie leben in einem Ghetto.

In einer kürzlich gesendeten alarmierenden Fernsehdokumentation wurden Demografen zitiert, die voraussagen, dass in etwa dreißig Jahren die Charedim wegen ihrer enormen Geburtenrate die Mehrheit der jüdischen Bürger Israels ausmachen würden. Das würde Israel in einen Staat verwandeln, der dem heutigen Saudi Arabien oder Iran ähnelte.

Schon heute werden gewisse Städte und Stadtteile in Israel, die von den Orthodoxen beherrscht werden, an Sonnabenden für jede Art von Verkehr gesperrt. Tragen Frauen in der heißen Sommerhitze kurze Ärmel wie alle nicht orthodoxen Frauen - so werden sie angespuckt und manchmal auch geschlagen. EL AL fliegt am Shabbat nicht, und im ganzen Land fahren weder Busse noch Züge.

Mit einer orthodoxen Mehrheit im Staat würde dies zur allgemeinen Regel werden. Kein Verkehr an Samstagen, keine offenen Läden an religiösen Feiertagen, keine nicht-koscheren Mahlzeiten in den Läden und in Restaurants (noch gibt es viele), keine säkularen Gesetze, keine Möglichkeit, die Gesetze zu umgehen, die die Heirat zwischen Juden und Nichtjuden verbieten, dafür aber wird es einen strengen Moralkodex geben, den die Polizei durchsetzt.

Die säkulare Bevölkerung, die jetzt die Mehrheit ausmacht, würde wahrscheinlich aus solch einem Lande in grünere jüdische Weiden fliehen z.B. nach New York oder Berlin.

All dies konnte man in dieser Woche im israelischen TV sehen.


EINE GESETZVORLAGE, über die jetzt in der Knesset diskutiert wird, würde die gegenwärtig gültige Doktrin, Israel sei ein "jüdischer und demokratischer Staat" umkehren und durch die Doktrin ersetzen, Israel sei "der Nationalstaat des jüdischen Volkes".

Dies wird als Erfüllung des Zionismus dargestellt, ist aber tatsächlich die völlige Umkehrung des Zionismus. Der Prozess hat eine Wendung um 360 Grad gemacht und kommt dort wieder an, von wo er ausgegangen war. Anstelle des Ghettos im Shtetl ist Israel selbst ein großes Ghetto geworden - ohne gefragt zu werden. Statt die Diaspora zu negieren, ist die ganze Diaspora zu einem Teil Israels geworden. Der Staat würde nicht mehr seinen Bürgern gehören (den Hebräern und den Arabern), sondern nur den Juden in Los Angeles und Moskau.

Die ganze Idee ist natürlich lächerlich. Die Juden sind im Grunde eine ethnisch-religiöse weltweite Gemeinschaft, die 2500 Jahre existiert hat, ohne dass sie ein Heimatland gebraucht hätte. Selbst in der Zeit der hasmonäischen Könige lebten die meisten Juden außerhalb Palästinas. Ihre abstrakte Verbindung mit Erez Israel ist wie die Verbindung von Muslimen, die in Indonesien und Mali leben, und für die Mekka ein heiliger Ort ist, der in Gebeten erwähnt wird und Ziel einer Pilgerreise ist, auf den aber niemand Anspruch erhebt wie auf einen souveränen irdischen Besitz, um dort zu wohnen. Das jüdische Gesetz verbot sogar eine massenhafte Einwanderung ins heilige Land.

Israelischer Nationalismus gründet sich dagegen auf ein physisches Heimatland mit nationaler Souveränität und ist an eine Bürgerschaft gebunden - beide Begriffe sind der Religion fremd.

Die frühen Zionisten waren durch Umstände gezwungen, diese beiden einander entgegengesetzen Konzepte miteinander zu verbinden. Es gab ja keine jüdische Nation; Palästina gehörte einem anderen Volk. Aus Not erfanden sie die Formel, dass für Juden - anders als für ein anderes Volk - Nation und Religion ein und dasselbe seien. Um ihren Anspruch auf das Land zu rechtfertigen, behaupteten Atheisten - und tun das noch immer -, dass Gott der Allmächtige vor etwa 3500 Jahren in einer Abmachung den Juden das Land versprochen habe.

Die israelische Regierung fordert jetzt als Bedingung für den Friedensschluss, dass die Palästinenser offiziell diese Formel anerkennen - "Israel ist der Nationalstaat des jüdischen Volkes". Wenn die Palästinenser das ablehnen, bedeutet das, dass sie uns wie Hitler vernichten wollen, und deshalb wollen wir mit ihnen keinen Frieden schließen.

Für mich ist das absurd. Ich möchte, dass die Palästinenser schlicht und einfach den Staat Israel anerkennen (im Gegenzug zur Anerkennung des Staates Palästina). Es ist nicht ihre Sache, wie sich Israel selbst definiert. (So wie es auch nicht unsere Sache ist, wie der palästinensische Staat sich selbst definiert.)

Es liegt an uns - und nur an uns - zu entscheiden, ob unser Staat jüdisch oder israelisch sein wird.



HIER KOMMEN wir auf die Namen zurück.

In letzter Zeit nahmen wenig neue Leute hebräische Namen an. Die meisten behalten ihren deutschen, russischen oder arabischen Namen. Ich betrachte das als einen Rückgang, ein Zurückgehen in das Ghetto.

Als ich in dieser Woche vom Armee-Radio-Sender interviewt wurde, (seltsamerweise der liberalste Sender im Land), griffen mich meine jungen Interviewer an, weil ich an dieser Meinung fest halte. Sie sehen den halb erzwungenen Namenswechsel, der in den frühen Tagen Israels praktiziert wurde, als Akt der Unterdrückung an, als Verletzung der Privatsphäre, ja, fast als eine Vergewaltigung.

Die meisten Israelis sind heute zufrieden mit dem Namen ihrer polnischen, russischen, marokkanischen und irakischen Vorfahren. Es ist ihnen nicht bewusst, dass diese Namen die Re-Judaisierung Israels symbolisiert.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 09.11.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. November 2013