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STANDPUNKT/336: Der unheilige Fluss (Uri Avnery)


Der unheilige Fluss

von Uri Avnery, 7. Dezember 2013



HIER KOMMT also John Kerry noch einmal, zum xten Male (Aber wer zählt?), um Frieden zwischen uns und den Palästinensern zu machen.

Es sind äußerst lobenswerte Bemühungen. Leider gründen sie sich auf eine falsche Voraussetzung. Nämlich darauf, dass die israelische Regierung einen Frieden wünscht, der sich auf die Zwei-Staaten-Lösung gründet.

Unwillig - oder unfähig - diese einfache Wahrheit zu erkennen, schaut sich Kerry nach einem Weg um. In der Hoffnung, Benjamin Netanjahu zu überzeugen, versucht er, Schritte in verschiedene Richtungen zu machen. In seiner Einbildung hört er Netanjahu ausrufen: "Ja, warum habe ich nicht vorher daran gedacht?"

Er kommt also mit einer neuen Idee: Er will mit Israels Sicherheitsproblemen anfangen und dem Land seine diesbezüglichen Sorgen nehmen.

Reden wir jetzt nicht über die anderen Kernprobleme, sagt er, schauen wir auf Ihre Sorgen und überlegen wir, wie wir mit ihnen umgehen. Ich habe einen ehrlichen, im Kampf bewährten General mit einem ehrlichen Sicherheitsplan mitgebracht. Schauen Sie darauf.

Dieser Schritt gründet sich auf eine falsche Voraussetzung - dem Ergebnis der übergeordneten Prämisse - dass die "Sicherheitsprobleme", die von unserer Regierung zitiert werden, authentisch sind. Kerry drückt den grundsätzlichen amerikanischen Glauben aus, dass, wenn vernünftige Leute rund um einen Tisch sitzen, um ein Problem zu analysieren, sie eine Lösung finden werden.

Da gibt es einen Plan. General John Allen, ein früherer Kommandeur im Afghanistankrieg, legt ihn auf den Tisch und erklärt seine Vorzüge. Er nennt viele Probleme. Das Hauptthema ist die beharrliche Behauptung der israelischen Armee, egal, wie die Grenzen des zukünftigen Staates Palästina aussehen: Israel muss noch lange Zeit das Jordantal beherrschen.

Da das Jordantal etwa 20% der Westbank ausmacht und zusammen mit dem Gaza-Streifen nur über 22% des früheren Palästina bildet, ist das ein Blindgänger. Und das ist für unsere Regierung die Hauptsache.


DER JORDAN, einer der bekanntesten Flüsse der Weltgeschichte, ist tatsächlich jetzt nur noch ein kleiner Bach über 250 km lang und wenige Meter breit. Seine Quellen liegen im syrischen Hochland (Golanhöhen), und er endet ruhmlos im Toten Meer, das tatsächlich ein Inlandsee ist. Er endet nicht so sehr als Fluss.

Wie erhielt er seine gegenwärtige strategische Bedeutung?

Die folgende Darstellung ist bildlich gemeint, jedoch nicht weit von dem entfernt, was tatsächlich geschehen ist.

Unmittelbar nach dem Junikrieg 1967, als alles palästinensische Land in Israels Hände fiel, schwärmten Gruppen landwirtschaftlicher Experten durch die Westbank, um zu sehen, was landwirtschaftlich ausgenutzt werden könnte.

Der größte Teil der Westbank besteht aus felsigen Hügeln, sehr malerisch, aber schwerlich geeignet für moderne landwirtschaftliche Methoden. Jeder Zoll bebaubaren Landes wurde von den palästinensischen Dörfern genutzt, indem sie Terrassen anlegten und andere alte Methoden anwendeten. Nichts taugte für neue Kibbuzim - außer dem Jordantal.

Dieses Tal, ein Teil des riesigen syrisch-afrikanischen Grabens, ist flach. Es erhebt sich zwischen dem Fluss und dem zentralen palästinensischen Bergrücken, der auch reichlich Wasser in sich hat. Für das trainierte Auge eines Kibbuznik war es ideal für landwirtschaftliche Maschinen. Es war auch dünn besiedelt. Fast alle bedeutenden israelischen Führer der damaligen Zeit hatten einen landwirtschaftlichen Hintergrund. Levy Eshkol, der Ministerpräsident, war viele Jahre lang vor der Errichtung des Staates, verantwortlich für die jüdischen Siedlungsbemühungen. Der Verteidigungsminister Moshe Dayan wurde in einem Kibbuz geboren und wuchs in einem Moshav auf. Der Arbeitsminister Yigal Allon war nicht nur ein bekannter General im Krieg von 1948, sondern auch ein Führer in der größten Kibbuz-Bewegung. Sein Mentor war Israel Galili, ein anderer Kibbuzführer, die graue Eminenz von Golda Meir.


ES WAR Allon, der den militärischen Vorwand lieferte, das Jordantal zu behalten.

Er dachte sich einen Sicherheitsplan für das Israel nach 1967 aus. Sein Schwerpunkt war die Annexion des Tales.

Bekannt als der "Allon-Plan" hatte der Plan einen enormen Einfluss auf das israelische politische Denken und hat ihn noch. Er wurde nie offiziell von der israelischen Regierung angenommen. Es gibt auch keine autorisierte Karte des Planes. Aber er wurde endlos diskutiert.

Der Allon Plan sieht die Annexion des ganzen Jordantales vor, sowie der Küste des Toten Meeres und des Gazastreifens. Um nicht den Rest der Westbank aus dem hashemitischen Königreich Jordanien (Auch nach dem Fluss genannt) heraus zu trennen, ließ der Plan einen Korridor zwischen den beiden Gebieten offen und zwar in der Nähe von Jericho.

Es wurde allgemein vermutet, Allon beabsichtige, die Westbank an das Königreich zurückzugeben. Aber er kümmerte sich nicht recht darum. Als ich ihn vom Knessetrednerpult aus anklagte, die Errichtung eines palästinensischen Staates zu verhindern, schickte er mir einen Zettel, auf dem stand: "Ich bin zu einem palästinensischen Staat im Westjordanland bereit. Warum sollte ich also weniger eine Taube sein als du?"


DIE MILITÄRISCHE Begründung des Allon-Planes war - zu jener Zeit - nicht völlig lächerlich.

Man muss sich an die Situation erinnern, im Jahr 1968. Das Königreich Jordanien war offiziell ein Feindesland, obwohl es immer ein geheimes Bündnis mit seinen Königen gab. Der Irak war ein starker Staat, und seine Armee wurde von unserem Militär sehr geachtet. Syrien wurde im Krieg 1967 geschlagen, aber seine Armee war noch in Takt. Saudi-Arabien mit seinem enormen Reichtum stand hinter ihnen. (Wer hätte sich vorstellen können, dass die Saudis eines Tages unsere Verbündeten gegen den Iran sein könnten?)

Der israelische militärische Alptraum war, dass all diese militärischen Kräfte plötzlich auf jordanischem Gebiet zusammenkommen, Israel angreifen, den Fluss überqueren, sich mit den Westbank-Palästinensern vereinigen und in das eigentliche Israel einfallen würden. An einer bestimmten Stelle zwischen der Westbankstadt Tulkarem und dem Mittelmeer ist Israel nur 14 (vierzehn) km breit.

Das war vor 55 Jahren. Heute ist dieses Bild in der Tat lächerlich. Die einzig mögliche militärische Bedrohung, der Israel gegenübersteht, kommt vom Iran, und das schließt einen Angriff von massenweisen Bodentruppen aus. Falls iranische Raketen auf uns zufliegen, sind israelische Soldaten am Jordanfluss nur Zuschauer. Sie werden nichts zum Anschauen haben. Der Angriff würde längst abgewehrt, ehe die Raketen näherkämen.

Was Warnstationen betrifft, so könnten sie in meiner Wohnung in Tel Aviv errichtet werden, die etwa 100 km von hier zum Jordan machen keinen Unterschied.

Dasselbe gilt für andere "Sicherheitsprobleme", zum Beispiel Warnstationen in der Westbank.

Der amerikanische General wird höflich zuhören und muss sich zusammen nehmen, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.


HEUTE IST das Jordantal praktisch araberfrei. Von Zeit zu Zeit werden die wenigen noch gebliebenen Palästinenser von der Armee schikaniert, um sie davon zu überzeugen, wegzugehen.

Es gibt mehrere jüdische Siedlungen im Tal, die von der Labor-Partei dort aufgebaut wurden, als sie noch an der Macht war. Die Bewohner beschäftigen keine Arbeiter aus den benachbarten palästinensischen Dörfern, sondern billigere und tüchtigere Arbeiter aus Thailand. Das sehr heiße Klima - das ganze Tal liegt unter dem Meeresspiegel - erlaubt den Anbau tropischer Früchte.

Die einzige verbliebene palästinensische Stadt ist Jericho, eine grüne Oase, die am tiefsten liegende Stadt auf der Erde. Der palästinensische Unterhändler Sa'eb Erekat lebt dort (obwohl sein Vater 1948 der Führer der palästinensischen Kämpfer von Abu Dis war, jetzt ein Vorort des annektierten Ost-Jerusalem). Manchmal treffen sich Kerrys "Friedensunterhändler" dort. Erekat, eine nette Person, die ich bei Demonstrationen zu treffen pflegte, ist in einem Zustand der Resignation - in doppeltem Sinn.


NEHMEN WIR für einen Moment an, dass der General Netanjahu überzeugen würde, dass sein Sicherheitsplan wunderbar sei und alle militärischen Probleme löse - was für einen Unterschied würde es machen?

Überhaupt keinen.

Stattdessen würden andere Probleme in den Vordergrund gerückt. Es gibt davon einen unerschöpflichen Vorrat.

Dasselbe gilt für die andere Geschichte, die Israels Zeitungen und TV-Programme in diesen Tagen füllt: Die Vertreibung der Beduinen im Negev.

Die Beduinen haben die Sinai-Negevwüste seit undenklichen Zeiten bewohnt. Alte ägyptische Steinmalereien zeigen ihre charakteristischen Bärte (einen ebensolchen Bart brachte ich aus dem 1948er Krieg mit, nachdem wir im Negev gekämpft hatten).

Während der ersten Jahre Israels wurden ganze Beduinenstämme verdrängt und vertrieben. Die Vorwände waren dieselben: um einen ägyptischen Angriff aus dem Süden zu verhindern.

Der wahre Grund war natürlich, sie von diesem Land weg zu bekommen und sie durch jüdische Siedler zu ersetzen. Die Fans der US-Geschichte werden sich an die Behandlung der einheimischen Amerikaner erinnern. Die Armee (unsere Armee) führte mehrere große Operationen durch, aber die Beduinen haben sich seitdem vermehrt und sind zurück mit einer viertel Million.

Beduinen sind mit ihren Ziegen über große Strecken verteilt. Jetzt versucht die Regierung, sie wieder los zu werden. Die Bürokraten wollen den Negev "judaisieren" (Während sie gleichzeitig versuchen, Galiläa zu "judaisieren"). Aber sie sind auch gegen die Idee, dass eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Leuten solch weites Gebiet besetzt, obwohl es ödes Land ist.

Die Planer in Jerusalem und Tel Aviv zeichnen alle möglichen Pläne, um die Beduinen in Kleinstädten zu konzentrieren, was im Gegensatz zu ihrer traditionellen Lebensweise steht. Auf dem Papier sehen die Pläne vernünftig aus. In Wirklichkeit aber sind sie dazu gedacht, dasselbe zu erreichen wie die Pläne für das Jordantal: den Arabern Land wegzunehmen und es jüdischen Siedlern zu übergeben.

Nenn' es zionistisch, nationalistisch oder rassistisch - es wird wohl kaum dem Frieden förderlich sein. Das ist es, worum sich John Kerry und John Allen Sorgen machen sollten.


Copyright 2013 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 07.12.2013
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2013