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STANDPUNKT/346: Zur Staatskrise in der Türkei (Nützliche Nachrichten)


Nützliche Nachrichten 1-2/2014
Dialog-Kreis

Kommentar
Zur Staatskrise in der Türkei

Von Memo Sahin



Zwei Akteure und zwei islamistische Strömungen stehen sich kampfbereit gegenüber: Die regierende AKP und ihr ehemaliger nicht öffentlicher Koalitionspartner, die Gülen-Bewegung.

Erdogan und seine engen Freunde in der AKP stammen aus dem Erbakan-Spektrum. Nachdem die Tugendpartei von Necmettin Erbakan am 22. Juni 2001 vom Verfassungsgericht verboten wurde, wendeten sich einige Kader und Funktionäre von Erbakan ab und gründeten wenig später die AKP. Damit spaltete sich auch Erbakans Milli Görüs-Bewegung.

Die Gülen-Bewegung und Erbakans Milli Görüs (Nationale Sicht) konkurrieren seit den 1970er Jahren. Während Milli Görüs von Erbakan stets auf der politischen Bühne aktiv war und durch islamische Parteien, die immer wieder verboten wurden, ihr Programm durchzusetzen versuchte, agierte die Gülen-Gemeinde still in den Tiefen des Staates.

Um im Staatsapparat wichtige Posten zu erobern, unterstützte sie alle Parteien, die Aussicht auf Einfluss auf die Regierungsgeschäfte hatten. Mal waren das der konservative Süleyman Demirel, mal der sich sozialdemokratisch gebärdende Bülent Ecevit. Auch die übrigen Größen der türkischen Politik, wie der konservativ-liberale Turgut Özal, die rechte Tansu Ciller, oder die pseudo Sozialdemokraten Erdal Inönü oder Deniz Baykal genossen die Unterstützung der Gülen-Cemaati (Gemeinde), nicht jedoch Erbakan und seine Milli Görüs Bewegung. Die Parole der Gülen-Bewegung lautete: "Wir sollen wie Wasser unter dem Heu unbemerkt fließen, bis wir so mächtig sind, den Staat von Innen zu erobern." (Hilal Kaplan in Yeni Safak, 10.1.14)

Der Tag und die Gelegenheit hierzu kamen tatsächlich. Als Erdogan und seine Freunde sich von Erbakan trennten, war dies ein willkommener Anlass, um alte Feindseligkeiten bei Seite zu schieben, gemeinsam gegen Kemalisten und Generäle vorzugehen und sie aus dem Staatsapparat zu drängen. 2001 war das Jahr dieses Bündnisses zwischen Erdogan und Gülen.

Nach dem die AKP im November 2002 die Parlamentswahlen gewonnen hatte und die Regierung bilden konnte, koalierten beide Seiten etwa 10 Jahre lang ohne große Probleme. In dieser Zeit haben sie den Staatskuchen brüderlich geteilt, die Staatsposten paritätisch besetzt und die Gesellschaft in "gut" und "böse" aufgeteilt.

Alles lief ohne große Störungen bis zur Aktion Mavi-Marmara (Gaza Flottille) am 31. Mai 2010, wobei neun Personen durch israelische Soldaten getötet wurden. Da begann der Weg der beiden Koalitionäre sich allmählich zu trennen.

Die Planung und Durchführung der Mavi-Mamara-Aktion erfolgte maßgeblich durch die türkische Organisation Insan Hak ve Hürriyetleri ve Insani Yardim Vakfi (IHH), die der AKP und Milli Görüs nahe steht. Die britische Zeitung Daily Telegraph bezeichnet die IHH als eine "radikale islamistische Gruppe im Gewand einer humanitären Organisation" (Richard Spencer: Gaza flotilla: the Free Gaza Movement and the IHH, The Daily Telegraph. 31. Mai 2010.)

Während die Gülen-Bewegung sich von der Gaza-Aktion distanzierte, machte sich Erdogan zu ihrem Befürworter und Anwalt. In dieser Zeit konzentrierte sich die AKP und Erdogans Regierung darauf, die internationalen Sanktionen gegen Iran zu umgehen. Gegen Gold kaufte die Türkei Erdgas und Öl aus dem Iran. Iranische Gelder wurden gewaschen. Über die staatliche Halk-Bank wurden etwa 87 Mrd. Dollar auf Umwegen nach Iran oder an iranische Unternehmen transferiert.

Auch dies passte dem Gülen-Imperium nicht, weil Iran der Führer der Schiiten weltweit ist, während Gülen sich als ein türkisch-nationalistischer Sunnit versteht. Die beiden islamischen Glaubensrichtungen befinden sich seit Jahrhunderten in blutigen Kämpfen. Außerdem passte der Gülen-Gemeinde nicht, dass Erdogan und seine AKP sich zum Wortführer der Hamas und der Moslembrüder machte, mit denen Milli-Görüs stets solidarisch in Kontakt war. Sie sind auch dagegen, dass die Türkei sich in Syrien einmischt und die arabischen Djihadisten unterstützt.

Für Fettullah Gülen sind Erdogan und seine AKP keine echten türkischen Islamisten, keine wahren Verfechter der Türkisch-Islamische-Synthese mit nationalistischer Prägung. In ihren Augen sind Erdogan und Milli Görüs islamistische Internationalisten, aber keine orthodoxen türkisch-islamistischen Kämpfer, die in aller Welt für Pan-Turkismus kämpfen und missionieren. Beide Koalitionäre wussten genau, dass ihre Ehe zweckbestimmt und nur auf Zeit war. Auf dem Seil ist Platz nur für einen Artisten, nicht aber für zwei.

In den letzten 10 Jahren wuchs die Gülen-Bewegung und wurde zu einem Imperium nicht nur in der Türkei. Sie agiert weltweit in 140 Staaten und verfügt über mehrere Zehnmilliarden Dollar.

In dieser Zeit wurden die Kemalisten nach und nach aus dem Staatswesen vertrieben, den Generälen Grenzen gesetzt und aus dem politischen Leben gedrängt. Mit dem sogenannten Verfassungsreferendum am 12. September 2010, bei dem es hauptsächlich um die Kontrolle der Justiz ging, die sich bis dato fest in den Händen der Kemalisten befand, wurde die Zusammensetzung des Verfassungsgerichtes, des Kassationshofs und des Hohen Rat der Richter und Staatsanwälte (HSYK) neu geregelt. So wurde die letzte Bastion der Kemalisten aus der Welt geschaffen. Erdogan und Gülen feierten noch einmal Hand in Hand ihren Sieg.

Da die Gülen-Bewegung sich seit Jahrzehnten still im Staat organisierte, gerieten viele Teile der Polizei mit ihrem speziellen Nachrichtendienst, die Justiz sowie eine beträchtliche Anzahl der Gouverneure in die Hände der Gülen-Anhänger. So entstand neben dem offiziellen Staatsapparat ein Parallelstaat der Gülen-Bewegung. Nur im Geheimdienst MIT konnte die Gülen-Bewegung keine gewichtige Position erlangen.

Um Erdogan beim MIT zu Zugeständnissen zu veranlassen, luden Staatsanwälte, die Gülen nahe standen, am 7. Februar 2012 den Geheimdienstchef Hakan Fidan zu einer Anhörung über die Osloer Gespräche mit der PKK ein. Auf Anordnung von Premier Erdogan führte die Spitze des Geheimdienstes geheime Gespräche mit der PKK-Führung, die Oslo-Gespräche genannt wurden. Vor der Bestellung zur Anhörung wurde eine Ton-Aufnahme ins Internet gestellt, auf der Hakan Fidan zu hören war, wie er Zugeständnisse gegenüber der PKK machte. Dies sollte wohl als sein Vergehen angeprangert werden.

Mit einer Nacht- und Nebelaktion und einem Sondergesetz rettete Erdogan seinen Geheimdienstchef vor der Anhörung und vor möglicher Verhaftung. Erdogan sagte, wenn Hakan Fidan dahin gegangen wäre, wäre er verhaftet worden und dann käme er, Erdogan, selbst an die Reihe.

Als im Herbst 2013 das Vorhaben Erdogans zur Schließung oder Verstaatlichung der Gülen-Nachhilfeeinrichtungen bekannt wurde, bröckelte die Zusammenarbeit weiter.

Außer den genannten Problemfelder stehen drei wichtige Wahlen bevor: Kommunalwahlen Ende März, Präsidentschaftswahl im August 2014 und Parlamentswahlen im Sommer 2015. Erdogan möchte Präsident a lá Putin werden. Dies passt der Gülen-Gemeinde gar nicht.

Als Gülens Leute merkten, dass die Zeit für eine weitere Attacke reif war, haben sie am 17. Dezember 2013 Staatsanwälte und Polizei auf die Söhne dreier Minister, auf den Minister für EU-Angelegenheiten, den Chef der staatlichen Halk-Bank sowie Dutzende AKP nahe Personen losgelassen. Viele Millionen Dollar wurden sichergestellt, zum Teil in Schuhkartons. Etwa 150 Mio. Dollar Schmiergelder und Bestechungen sollen geflossen sein.

Auf Befehl der Regierung wurden daraufhin Hunderte von Polizeibeamten und Dutzende von Staatsanwälten versetzt, suspendiert oder entlassen. Neue regierungsnahe Staatsanwälte wurden mit der Sache betreut. Als die Staatsanwälte den Sohn von Premier Erdogan Weihnachten festnehmen wollten, tauchte dieser unter und die Polizei in Ankara widersetzte sich gegen die Staatsanwälte. Erdogan sagte daraufhin: "Wenn sie meinen Sohn Bilal mitnehmen, dann bin ich als nächster an der Reihe." (Abdulkadir Selvi, in Yeni Safak, 31.12.13)

Die Korruptionsaffäre erreichte das Kabinett. Vier Minister mussten den Hut nehmen und die größte Kabinettsumbildung fand statt. AKP ist das Kürzel der Adalet und Kalkinma Partisi (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung). AKP benutzt diese Abkürzung so: AK Parti. AK bedeutet im Türkischen "Sauber" und "Weiss". So sauber und rein ist also die AKP!

Am 3. Januar 2014 gab der Vize-Vorsitzende der AKP, Numan Kurtulmus, bekannt, die Türkei habe innerhalb von zwei Wochen 105 Milliarden Dollar verloren. Der Dollar kletterte auf 2,20 TL und der Euro erreichte die 3,00 TL Marke. Eine Talfahrt für die Türkische Lira begann. Was wir z.Z. in der Türkei erleben, ist möglicherweise nur ein Vorbote eines großen Erdbebens auf der Richterscala 9.

Zunächst hat Erdogan einen Befreiungskampf gegen Banden und den Parallelstaat angekündigt. Ob jedoch die Entlassungen, Ablösungen, Versetzungen bei der Polizei, Justiz und im Staatsapparat Erdogan und seine Ambitionen, Staatspräsident zu werden, nutzen werden, ist ungewiss. Ziemlich gewiss ist dagegen, dass der Aussöhnungsprozess mit den Kurden unter der krisenhaften Entwicklung in der Türkei droht unter die Räder zu kommen.

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Quelle:
Nützliche Nachrichten 1-2/2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2014