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STANDPUNKT/365: Ein Oslo-Verbrecher (Uri Avnery)


Ein Oslo-Verbrecher

von Uri Avnery, 19. April 2014



DER TOD von Ron Pundak, einem der ursprünglichen israelischen Architekten des Oslo-Abkommens 1993, brachte dieses historische Ereignis ins öffentliche Bewusstsein zurück.

Gideon Levy erinnerte uns daran, dass die Agitatoren des rechten Flügels in ihrem wütenden Angriff auf das Abkommen dessen Initiatoren "Oslo-Verbrecher" nannten - ein bewusster Anklang an eines von Adolf Hitlers Schlagworten auf seinem Weg zur Macht. Die Nazi-Propaganda wendete den Terminus "November-Verbrecher" auf jene deutschen Staatsmännern an, die 1918 das Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten, das den Ersten Weltkrieg beendete - übrigens auf Wunsch des Generalstabs, der den Krieg verloren hatte.

In seinem Buch "Mein Kampf" (dessen Urheberrecht gerade erlischt, sodass jeder es neu drucken kann) enthüllte Hitler auch noch eine andere Einsicht: dass eine Lüge, wenn sie nur groß genug ist und man sie oft genug wiederholt, geglaubt wird.

Das gilt auch für das Oslo-Abkommen. Seit mehr als 20 Jahren wiederholt der israelische rechtsgerichtete Flügel unermüdlich die Lüge, dass das Oslo-Abkommen nicht nur ein Verrat war, sondern auch ein totaler Fehlschlag.

Oslo ist tot, wird uns gesagt. Tatsächlich starb es schon bei der Geburt. Und das wird auch das Los jedes Friedensabkommens in der Zukunft sein. Ein großer Teil der israelischen Bevölkerung glaubt das inzwischen.


DIE HAUPT-Errungenschaft des Oslo-Abkommens, ein Akt von geschichtsverändernden Dimensionen, trägt das Datum des 10. Septembers 1993 - der zufällig auch mein 70. Geburtstag war.

An diesem Tag wechselten der Vorsitzende der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und der Ministerpräsident des Staates Israel Briefe zur gegenseitigen Anerkennung. Yasser Arafat erkannte Israel an, Yitzhak Rabin erkannte die PLO als die Vertreterin des palästinensischen Volkes an.

Die heutige jüngere Generation (beider Seiten) kann die große Bedeutung dieser Zwillingsaktion nicht begreifen.

Von ihrem Anfang an, fast 100 Jahre früher, hatte die zionistische Bewegung die bloße Existenz eines palästinensischen Volkes geleugnet. Ich selbst habe Hunderte von Stunden meines Lebens damit verbracht, israelische Zuhörer davon zu überzeugen, dass eine palästinensische Nation wirklich existiert. Golda Meir erklärte bekanntermaßen: "So ein Ding wie ein palästinensisches Volk, gibt es nicht". Ich bin ziemlich stolz auf meine Antwort, die ich ihr während einer Knesset-Debatte gab: "Frau Ministerpräsidentin, vielleicht haben Sie Recht. Vielleicht gibt es wirklich kein palästinensisches Volk. Aber wenn Millionen eines Volkes irrtümlicherweise glauben, dass sie ein Volk sind und wie ein Volk handeln, dann sind sie ein Volk".

Die zionistische Leugnung war keine willkürliche Marotte. Das eigentliche zionistische Ziel war, Palästina zu übernehmen, und zwar ganz. Dies machte die Verdrängung der Bewohner dieses Landes notwendig. Aber der Zionismus war eine idealistische Bewegung. Viele seiner osteuropäischen Anhänger waren tief durchdrungen von den Ideen Leo Tolstojs und anderer utopischer Moralisten. Sie konnten die Tatsache nicht akzeptieren, dass ihr Utopia nur auf den Ruinen eines anderen Volkes realisiert werden könne. Deshalb war die Leugnung eine absolut moralische Notwendigkeit.

Die Anerkennung des palästinensischen Volkes war deshalb ein revolutionärer Akt.


AUF DER anderen Seite war die Anerkennung sogar noch schwieriger.

Vom ersten Tag des Konfliktes an betrachteten alle Palästinenser und in der Tat fast alle Araber den Zionismus als eine Invasion eines fremden Volksstammes, der dabei war, ihre Heimat zu rauben, sie zu vertreiben und ihren Räuberstaat auf ihren Ruinen zu bauen. Das Ziel der palästinensischen Nationalbewegung war es deshalb, den zionistischen Staat zu zerstören und die Juden ins Meer zu werfen - wie ihre Ahnen es buchstäblich mit den letzten Kreuzfahrern getan hatten - vom Kai von Akko.

Und hier kam ihr verehrter Führer Yasser Arafat, erkannte die Rechtmäßigkeit Israels an und kehrte die Ideologie von hundert Jahren Kampf um, in dem das palästinensische Volk den größten Teil seines Landes verlor und die meisten seiner Heimstätten.

Im Oslo-Abkommen, das drei Tage später auf dem Rasen des Weißen Hauses unterzeichnet wurde, tat Arafat noch etwas anderes, das in Israel vollkommen ignoriert worden ist: er gab 78% des historischen Palästina auf. Der Mann, der tatsächlich das Abkommen unterzeichnete, war Mahmoud Abbas. Ich frage mich, ob seine Hand gezittert hat, als er diese bedeutungsvolle Konzession unterzeichnete, Minuten, bevor Rabin und Arafat sich die Hände schüttelten.

Oslo ist nicht gestorben. Den eklatanten Fehlern des Abkommens zum Trotz ("Das bestmögliche Abkommen in der schlechtest möglichen Situation" wie Arafat sich ausdrückte), hat es die Natur des Konfliktes, allerdings nicht den Konflikt als solchen, verändert. Die palästinensische Behörde, die Grundstruktur des entstehenden palästinensischen Staates, ist eine Realität. Palästina wird von den meisten Ländern anerkannt und wenigstens teilweise auch von der UNO. Die Zwei-Staatenlösung, einst die Idee einer verrückten Randgruppe, ist heute Welt-Konsens. Eine ruhige, aber reale Kooperation zwischen Israel und Palästina läuft weiter auf vielen Feldern.

Aber natürlich ist all dies weit entfernt von dem realen Frieden, den viele von uns, einschließlich Ron Pundak, sich an jenem glücklichen Tag, dem 13. September, vorgestellt hatten. Zwanzig Jahre später brennen die Flammen des Konfliktes weiter, und die meisten Leute wagen nicht einmal, das Wort "Frieden" auszusprechen, als ob es eine pornographische Scheußlichkeit wäre.


WAS LIEF falsch? Viele Palästinenser glauben, dass Arafats historische Konzessionen zu früh kamen, dass er sie nicht hätte machen sollen, bevor Israel den Staat Palästina als Endziel anerkannt hätte.

Rabin veränderte seine ganze Weltsicht im Alter von 71 Jahren und traf eine historische Entscheidung, aber er war nicht der Mann, sie auch durchzusetzen. Er zögerte, schwankte und sagte bekanntermaßen "es gibt keine geheiligten Daten."

Dieser Slogan wurde das Schutzschild, das unsere Verpflichtungen brechen sollte. Das Endabkommen hätte 1999 unterzeichnet werden sollen. Lange davor hätten vier "sichere Übergänge" zwischen der Westbank und Gaza eröffnet werden sollen. Mit dem Bruch dieser Verpflichtung legte Israel das Fundament für die Abspaltung von Gaza.

Israel verstieß auch gegen die Verpflichtung, das "dritte Stadium" zu erfüllen: den Rückzug aus der Westbank. Zone C ist nun praktisch ein Teil Israels geworden, der nur auf die offizielle Annexion wartet, die von den Parteien des rechten Flügels verlangt wird.

Es gab im Oslo-Abkommen keine Verpflichtung, Gefangene zu entlassen. Aber die Weisheit hätte dies diktiert. Die Rückkehr Zehntausender Gefangenen nach Hause hätte die Atmosphäre elektrisiert. Stattdessen bauten auf einander folgende israelische Regierungen, linke wie rechte, mit hektischer Geschwindigkeit Siedlungen auf arabischem Land und machten noch mehr Gefangene.

Die anfänglichen Verstöße gegen das Abkommen und das Nichtfunktionieren des ganzen Prozesses ermutigt die Extremisten auf beiden Seiten. Die israelischen Extremisten ermordeten Rabin und die palästinensischen Extremisten begannen eine Reihe mörderischer Angriffe.


LETZTE WOCHE kommentierte ich die Gewohnheit unserer Regierung, sich unterzeichneter Verpflichtungen zu enthalten, wann immer sie dachte, dass es das nationale Interesse verlange.

Als Soldat im 1948er Krieg nahm ich an der großen Offensive teil, die den Weg in den Negev öffnete, der von der ägyptischen Armee abgeschnitten worden war. Dies wurde unter Verletzung der Waffenruhe gemacht, die von den UN arrangiert worden war. Wir nutzten einen einfachen Trick, um die Schuld dem Feind zuzuschieben.

Dieselbe Technik wurde später von Ariel Sharon benutzt, den Waffenstillstand an der syrischen Front zu brechen und Vorfälle zu provozieren, um die sogenannten demilitarisierten Zonen zu annektieren. Noch später wurde die Erinnerung an diese Zwischenfälle genutzt, um die Golanhöhen zu annektieren.

Der Beginn des 1. Libanonkrieges war eine direkte Verletzung des Waffenstillstandes, den ein Jahr zuvor amerikanische Diplomaten arrangiert hatten. Der Vorwand war wie gewöhnlich dürftig: eine Anti-PLO-Terrorgruppe hatte versucht, den israelischen Botschafter in London zu ermorden. Als dem Ministerpräsidenten Menachim Begin von seinem Mossad Chef gesagt wurde, dass die Mörder Feinde der PLO seien, antwortete Begin bekanntermaßen: "Für mich sind sie alle PLO!"

Tatsächlich hat Arafat die Feuerpause genauestens eingehalten; da er eine israelische Invasion vermeiden wollte, hat er seine Autorität auch oppositionellen Elementen aufgezwungen. Elf Monate lang wurde an der Grenze keine einzige Kugel abgefeuert. Doch als ich vor ein paar Tagen mit einem früheren ranghohen Sicherheitsbeamten sprach, versicherte er mir allen Ernstes: "Sie haben uns täglich beschossen. Es war unerträglich."

Nach sechs Tagen Krieg wurde eine Feuerpause vereinbart. Doch zu dieser Zeit war es unseren Soldaten noch nicht gelungen, Beirut zu umzingeln. Also brach Scharon die Feuerpause und schnitt die lebenswichtige Schnellstraße Beirut-Damaskus ab.

Die gegenwärtige Krise im "Friedensprozess" wurde dadurch verursacht, dass die israelische Regierung die Vereinbarung, an einem bestimmten Tag palästinensische Gefangene freizulassen, brach. Dieser Verstoß war so offensichtlich, dass er nicht verborgen bleiben oder wegerklärt werden konnte. Er verursachte John Kerrys bekanntes "Puff".

Tatsächlich wagte Benjamin Netanjahu nicht, seine Verpflichtung zu erfüllen, nachdem er und seine Gefolgsleute in den Medien wochenlang die Öffentlichkeit gegen die Entlassung der "Mörder" mit "Blut an den Händen" aufgehetzt hatte. Sogar die Stimmen im Lager der sogenannten Mitte-Links waren verstummt.

Jetzt nimmt eine andere verlogene Geschichte vor unseren Augen Gestalt an. Die große Mehrheit in Israel ist bereits vollkommen davon überzeugt, dass die Palästinenser die Krise herbeigeführt hätten, indem sie den 15 internationalen Konventionen beigetreten seien. Nach diesem eklatanten Verstoß gegen das Abkommen sei die israelische Regierung im Recht gewesen, die Entlassung der Gefangenen zu verweigern. Die Medien haben diese Verdrehung der Geschehnisse natürlich so oft wiederholt, dass dies nun den Status einer Tatsache angenommen hat.


ZURÜCK ZU DEN Oslo-Verbrechern. Ich gehörte nicht zu ihnen. Während die Geheimgespräche in Oslo (ohne mein Wissen) stattfanden, war ich in Tunis und habe mit Arafat über die ganze Reihe möglicher Kompromisse gesprochen.

Mag Ron Pundak in Frieden ruhen - auch wenn der Frieden, für den er arbeitete, noch weit entfernt scheint.

Aber er wird kommen.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 19.04.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2014