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STANDPUNKT/375: Patagonische Träume (Uri Avnery)


Patagonische Träume

von Uri Avnery, 31. Mai 2014



WÄHREND SEINES kurzen Besuchs in Israel legte Papst Franziskus einen Kranz auf das Grab von Theodor Herzl.

Das war keine gewöhnliche Geste. Führende Persönlichkeiten von Staaten sind verpflichtet, Yad Vashem zu besuchen, wie es der Papst auch tat, aber nicht das Grab von Herzl. Das läßt sich ja nicht mit dem Grab des Unbekannten Soldaten in Paris vergleichen.

Warum also Herzls Grab? Diese Geste war offensichtlich dazu gedacht, den zionistischen Charakter des Staates hervorzuheben.

Herzl war der Gründer des modernen politischen Zionismus'. Er wird offiziell der "Visionär des Staates" genannt. Sein Bild ist das einzige, das den Knessetraum schmückt. Wenn wir Heilige hätten, würde er St. Theodor sein.


WAHRSCHEINLICH HAT Franziskus über diese Geste nicht lange nachgedacht. Wenn es so ist, dann ist es schade. Der argentinische Papst hätte eine Menge Interessantes an diesem vielfältigen Wiener Journalisten und Dramatiker entdecken können.

Wenn es nach Herzl gegangen wäre, dann wäre Franziskus von Präsident Peres und Ministerpräsident Netanjahu auf Spanisch begrüßt worden. Er hätte Herzls Grab im jüdischen Staat irgendwo südlich von Buenos Aires geehrt.

Falls Franziskus niemals von dieser Episode gehört hätte, dann wäre er nicht der einzige. Der größte Teil der Israelis hat auch nichts davon gehört. Es wird in den Schulen nicht gelehrt. Es wird eher schamhaft verschwiegen.

Die Israelis wissen über "Uganda" Bescheid. Kurz vor seinem frühen Tod war Herzl von der britischen Regierung eingeladen worden, seine Ideen in einem Teil von Britisch-Ostafrika zu verwirklichen. (Es war das Hochland von Kenia, ein Plateau mit mildem Klima, das jetzt zu Kenia gehört.)

Zu dieser Zeit hatte Herzl die Hoffnung aufgegeben, Palästina vom türkischen Sultan zu bekommen. Das kenianische Projekt, das er sofort hätte bekommen können, zog ihn und seinen Hauptunterstützer Max Nordau an; dieser riet ihm, es wenigstens vorübergehend zu nehmen, als eine Art "Nachtasyl".

Aber die russischen Zionisten, das Bollwerk der Bewegung, rebellierten: Palästina oder nichts. Herzls Entscheidung wurde von seinen Bewunderern abgelehnt und er starb bald darauf an gebrochenem Herzen - sagte man.


DIESE EPISODE ist wohl bekannt. Viel wurde darüber geschrieben. Einige Leute würden sagen, dass wenn in den 30ern in Afrika schon ein jüdischer Staat bestanden hätte, hätten viele europäische Juden vor den Nazis gerettet werden können.

Aber das argentinische Kapitel ist auch gestrichen worden. Es passte nicht zum Bild des Staats-Visionärs.


HERZLS LANGER Weg zum Zionismus begann, als er, ein in Ungarn geborener jüdischer Student, in Wien dem Antisemitismus begegnete. Sein logischer Geist fand die Antwort. Da er ein Dramatiker war, beschrieb er die Szene: alle österreichischen Juden, außer ihm selbst, würden in ordentlicher Reihe in den Wiener Dom gehen und dort en masse zum Katholizismus konvertieren. Der Papst wäre begeistert gewesen.

Doch Herzl erfuhr bald, dass weder die Juden die Taufe annehmen würden ("Die Juden sind wasserscheu" scherzte Heinrich Heine einmal) noch die nationalistischen Nicht-Juden davon träumen würden, sie in ihren Reihen aufzunehmen. Wie könnten sie auch; Juden gab es überall, in verschiedenen Ländern, wie könnten sie sich dann ernsthaft einer nationalen Bewegung anschließen?

Dass war es, was Herzl zu seiner historische Einsicht führte: wenn die Juden sich keiner der nationalen Bewegungen anschließen können, die wie Pilze aus dem Boden Europas auftauchten, warum sollten sie nicht selbst eine getrennte, neu-alte Nation werden?

Für Herzl war das ein nüchterner, vernünftiger Gedanke. Kein Gott war darin verwickelt, keine Heiligen Schriften, kein romantischer Unsinn. Palästina kam ihm nicht in den Sinn. Noch hatte er irgendein Interesse an religiösen Fantasien der christlichen Zionisten in England und den USA, wie Alfred Balfour. Herzls Projekt war vollständig bis zum kleinsten Detail fertig und er hatte es in der Broschüre "Der Judenstaat" niedergeschrieben - die dann später zur zionistischen Bibel wurde -, noch bevor er ernsthaft darüber nachzudenken begonnen hatte, wo dieser Staat verwirklicht werden sollte.


DIE DENKSCHRIFT begann als Rede an den "Familienrat" der Rothshilds, den reichsten Juden auf Erden. Er erwartete von ihnen, dass sie das Projekt finanzieren.

Die Rede ist in seinen Tagebüchern verewigt, einem sehr gut geschriebenen Dokument, das mehrere Bände umfasst. Auf S. 149 des ersten Bandes der deutschen Originalausgabe bemerkt Herzl, nachdem er den Rothshilds seinen Plan erklärt hat: "Ich kann euch alles über das 'gelobte Land' sagen außer darüber, wo es liegen wird." Den geeigneten Ort zu finden sollte einer Konferenz hervorragender jüdischer Geografen überlassen werden, die darüber entscheiden würden, wo der jüdische Staat gegründet werden sollte, nachdem sie alle geologischen, klimatischen, "kurz gesagt, die natürlichen Bedingungen", überprüft hätten, "wobei die modernsten Untersuchungen berücksichtigt werden." Es ist eine "rein wissenschaftliche" Entscheidung zu treffen.

Am Ende kam die Denkschrift unter dem Titel "Der Judenstaat" heraus. Der Ort wurde fast ignoriert. Weniger als eine Seite wurde ihm gewidmet - unter dem vielsagenden Titel: "Palästina oder Argentinien".


HERZL BEVORZUGTE klar Argentinien. Der Grund dafür ist auch vergessen worden. Eine Generation vor Herzl bestand Argentinien hauptsächlich aus dem Norden des Landes, rund um Buenos Aires. Der weite Süden, Patagonien genannt, war fast leer.

Zu der Zeit begann Argentinien einen Eroberungsfeldzug, den viele heute als Genozid ansehen würden. Die indigene vor-kolumbianische Bevölkerung, einschließlich eines Stammes von "Riesen" - zwei Meter großen Menschen - wurde vernichtet oder vertrieben. Das wurde, fast nach zionistischer Art, "der Wüsten-Feldzug" genannt.

Solch genozidale Feldzüge waren in jener Zeit ziemlich üblich. Die USA führten einst einen gegen die "roten Indianer". Die Deutschen begingen einen Völkermord im heutigen Namibia, und der Massenmörder wurde in Deutschland als kaiserlicher Nationalheld gefeiert. Der König von Belgien tat etwas Ähnliches im Kongo.

Was Herzl mit seinem inneren Auge sah, war ein riesiges neues Land, das mehr oder weniger leer war und nur darauf wartete, in einen jüdischen Staat verwandelt zu werden. Er dachte, die argentinische Regierung würde es für Geld hergeben. Die verbliebene lokale Bevölkerung könnte vertrieben oder dazu gebracht werden, woanders hin zu ziehen, aber "erst, nachdem sie alle wilden Tiere vernichtet hätte."

(Anti-israelische Propagandisten benutzen diesen Satz, als wäre er auf die Palästinenser gemünzt. Das stimmt nicht. Herzl hätte so etwas nicht über Palästina schreiben können, so lange der muslimische Kalif Landesherr war.)


PATAGONIEN ist ein malerisches Land mit vielen verschiedenen Landschaften. Küsten auf beiden Seiten: am Atlantik und am Pazifischen Ozean bis zu den unglaublich schönen eisbedeckten Bergen der Anden. Das Klima ist im Allgemeinen kühl, sogar kalt. Die südlichste Stadt der Welt liegt an seiner südlichen Spitze.

Der rationale Ansatz von Herzl wurde bald überschwemmt vom irrationalen Charakter seiner Bewegung - einer Mischung von religiöser Phantasie und osteuropäischer Romantik. Der Plan, die Juden in sicherer Umgebung anzusiedeln, wurde zu einer messianischen Bewegung. Dies ist den Juden schon vorher passiert und endete immer in einer Katastrophe.


HERZL WAR von Palästina angewidert. Am meisten von Jerusalem.

Seltsam genug für den Propheten des Zionismus. Lange weigerte er sich, Palästina zu besuchen. Er fuhr kreuz und quer durch Europa, von London bis St. Petersburg, von Istanbul bis Rom, um die Großen der Welt zu treffen, setzte aber keinen Fuß in Jaffa an Land, bis er praktisch vom deutschen Kaiser gezwungen wurde.

Wilhelm II. ein romantischer und ziemlich unbeständiger Typ, bestand darauf, den Führer der Juden in einem Zelt in der Nähe des Tores von Jerusalem zu treffen. Es war im November, dem mildesten Monat in diesem Land, aber Herzl litt schrecklich unter der Hitze, besonders, weil er seinen dicken europäischen Anzug nicht ablegen wollte.

Der Kaiser, ein eingefleischter Antisemit, hörte höflich zu und bemerkte später: "eine gute Idee, aber unmöglich, sie mit den Juden zu verwirklichen".

Herzl verließ die Stadt und das Land, so schnell er konnte. Die Heilige Stadt, für die seine Nachfolger heute bereit sind, viel Blut zu vergießen, erschien ihm hässlich und schmutzig. Er floh nach Jaffa und bestieg mitten in der Nacht das erste erreichbare Schiff. Es fuhr nach Alexandria. Er behauptete, er habe Gerüchte gehört, es gebe ein Komplott, ihn zu töten.


ÜBER ALL DAS hätte der Papst nachdenken können, wenn er sich für die Vergangenheit interessiert hätte. Aber Franziskus lebt in der Gegenwart und hält seine Arme für die Lebenden ausgebreitet, besonders für die Palästinenser.

Statt das Land über Israel zu betreten, wie jeder sonst, lieh er sich einen Helikopter von König Abdallah II. und flog direkt von Amman nach Bethlehem. Dies war eine Art Anerkennung der palästinensischen Staatlichkeit. Auf seinem Rückweg von Bethlehem zum Hubschrauber ließ er plötzlich anhalten, stieg aus und ging zur Besatzungsmauer und legte seine Hände auf ihren hässlichen Beton, wie es seine Vorgänger an der Klagemauer getan haben. Sein Gebet dort konnte nur von Gott gehört werden.

Von da flog der Papst mit dem Helikopter zum Ben-Gurion-Flughafen, als wäre er eben aus Rom gekommen. Er ging auf dem roten Teppich zwischen Peres und Netanjahu (keiner von beiden hatte dem anderen die Ehre, den Papst zu empfangen, überlassen wollen).

Ich weiß nicht, was der Papst mit dem oberflächlichen Duo zu reden fand, aber ich hätte mich sicher gefreut, einem Gespräch zwischen den beiden intellektuellen Argentiniern Franziskus und Herzl zu lauschen.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 31.05.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2014