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STANDPUNKT/377: Ein Staatsstreich? Unsinn! (Uri Avnery)


Ein Staatsstreich? Unsinn!

von Uri Avnery, 14. Juni 2014



DIE EXISTENZ der Armee in einem wirklich demokratischen Staat ist ein Paradox.

Die Armee sollte der gewählten Regierung gehorchen. Dieser Gehorsam ist bedingungslos.

Aber die Armee (bestehend aus Land-, See- und Luftstreitkräften) ist die einzige bewaffnete Kraft im Land. Sie kann in jedem Augenblick einen Staatsstreich ausführen und nach der Macht greifen.

Allein in den letzten Monaten haben Armeekommandeure Staatsstreiche in Ägypten, Thailand und vielleicht auch an andern Orten durchgeführt.

Was hindert Armeekommandeure daran, überall Staatsstreiche durchzuführen? Nur die demokratischen Werte, mit denen sie erzogen wurden.



IN ISRAEL ist ein Staatsstreich undenkbar.

Hier bietet sich die Gelegenheit, einen alten israelischen Witz zu wiederholen: der Stabschef versammelt seine ranghohen Kommandeure und wendet sich an sie: Kameraden, morgen früh um 6 Uhr werden wir die Regierung übernehmen.

Einen Augenblick lang herrscht Schweigen. Dann bricht die ganze Hörerschaft in hysterisches Gelächter aus.


EIN ZYNIKER könnte hier einwerfen: "Warum sollte die Armee mit einem Staatsstreich Unruhe stiften? Sie regiert Israel doch sowieso schon!"

In Staatsbürgerkunde lernen wir, dass Israel eine Demokratie ist. Offiziell: "ein jüdischer und demokratischer Staat." Die Regierung entscheidet, die Armee befolgt die Befehle.

Aber wie der Mann sagte: "Es muss nicht so sein."

Stimmt, es hat in Israel nie einen Fall von hochgradig militärischem Ungehorsam gegeben. Das Äußerste, das wir je erlebten, war der Fall, als am Vorabend des Krieges von 1967 Ministerpräsident Levy Eshkol zögerte, den Befehl zum Angriff zu geben und einige ungeduldige Generäle drohten, zurückzutreten. Auch ein Oberst trat aus Protest gegen den Plan, Beirut im Libanonkrieg 1982 anzugreifen, zurück.

Doch sogar 2005 beim Rückzug aus dem Gazastreifen, einem Zeitpunkt äußerster emotionaler Krise, als die Öffentlichkeit tief gespalten war, gab es keinen Rücktritt. Die Armee führte die Befehle der Regierung aus.

Die Rolle der Armee in unserer Nationalpolitik ist jedoch sehr viel komplexer.


GERADE JETZT ist die Armee in das jährliche Ritual des Kampfes um den Staatshaushalt verwickelt.

Die Armee sagt, dass sie viel mehr benötige, als das Finanzministerium zu geben bereit sei. Es sei eine Frage der nationalen Sicherheit, nein, des nationalen Überlebens. Schreckliche Gefahren werden erwähnt. Nach einem heftigen Streitgespräch wird ein Kompromiss erreicht. Ein paar Monate später kommt die Armee noch einmal und verlangt einige Milliarden mehr. Eine neue Gefahr lauert am Horizont. Bitte mehr Geld.

Die Finanzleute behaupten, dass ein riesiger Batzen des Militär-Budgets für Pensionen ausgegeben wird. Um die Armee jung und frisch zu halten, werden die Offiziere im reifen Alter von 42 pensioniert - und für den Rest ihres Lebens erhalten sie sehr großzügige Pensionen. Dies gilt nicht nur für Kampfoffiziere, die viel Zeit im Feld verbringen und ihre Familien vernachlässigen, sondern auch für diejenigen, die nur Papiere hin und herschieben, Büroangestellte und technisches Personal, deren Job im Wesentlichen zivil ist. Zaghafte Vorschläge, ab jetzt weniger zu zahlen, werden ärgerlich zurückgewiesen.

Wenn ein General die Armee verlässt, betrachtet sie es als ihre kameradschaftliche Pflicht, ihn mit einem passenden zivilen Job zu versehen. Das Land ist überschwemmt von Ex-Generälen und Ex-Obersten, die zentrale Positionen in Politik, öffentlicher Verwaltung, staatseigenen Unternehmen und Diensten usw. inne haben. Magnaten beschäftigen sie wegen ihrer einflussreichen Verbindungen für riesige Gehälter. Viele von ihnen haben Unternehmen gegründet, die im Bereich Sicherheit tätig sind und engagieren sich im weltweiten Im- und Export von Waffen und militärischer Ausrüstung.

Fast jeden Tag erscheinen diese Exmilitärs im Fernsehen und schreiben als "Experten" über politische und militärische Angelegenheiten und üben so einen riesigen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus.

Wenige sind "Linke" und propagieren Pro-Frieden-Ansichten. Die große Mehrheit vertritt Meinungen, die man zwischen "Mitte-rechts" und der faschistischen Rechten einordnen kann.

Warum?


DERSELBE Zyniker mag eine sehr einfache Erklärung abgeben. Krieg ist das Element der Armee.

Das Wesentliche des militärischen Berufs ist es, Krieg zu führen und sich für den Krieg vorzubereiten. Seine ganze Existenz gründet sich auf Kriegsführung.

Jede ausgebildete Person sehnt sich natürlich nach einer Gelegenheit ihr professionelles Können zu zeigen. Der Frieden bietet Militäroffizieren nur selten eine derartige Gelegenheit. Im Krieg haben sie dagegen eine riesige Chance. Krieg bringt Aufmerksamkeit, Beförderung, lebenslange Förderung. Im Krieg kann ein Heerführer seine Courage zeigen und sich in einer Weise auszeichnen, wie es im Frieden nicht möglich ist.

(Ranghohe Offiziere erklären gerne, dass sie den Krieg mehr hassen als irgend jemand sonst, "weil sie seine Verheerung gesehen haben". Das ist purer Unsinn)

Besatzung ist natürlich auch eine Art Krieg. Es ist, um Clausewitz zu zitieren: "eine Fortsetzung der Politik mit andern Mitteln."


ICH BIN kein Zyniker und neige nicht zu zynischen Ansichten, denn die sind zwangsläufig simpel und oberflächlich.

Ich bin bereit, anzuerkennen, dass die große Mehrheit der Militärs, die gegenwärtigen und in der Vergangenhei Karriere gemacht haben, wenigstens nach ihrer eigenen Ansicht, wahre Idealisten sind. Wenn ihre Kameraden ihren obligatorischen Armeedienst beenden und ihre gut bezahlte zivile Karriere beginnen, bleiben die Offiziere aus Pflichtgefühl und Patriotismus in der Armee. Wenn sie an Frieden glauben würden, würden sie alles für den Frieden opfern.

Schade, dass sie dies nicht tun.

Die Armee schafft eine Einstellung, eine Weltsicht, die ihrem eigenen Wesen inhärent ist. Sie sagt dem Soldaten vom ersten Tag an, dass es da einen "Feind" gibt, gegen den er bereit sein muss, zu kämpfen und dabei wenn nötig, auch sein Leben zu opfern. Die Welt ist voll potentieller Feinde, Üblem und Grausamem, das das Vaterland gefährdet. Man muss kein Jude sein und sich an den Holocaust erinnern, um dies zu wissen (auch wenn es sicher hilft).

Hätte Hitler - einmal an der Macht - außer durch Krieg besiegt werden können? Hätte es einen andern Weg gegeben, um die Welt zu retten?

Gewiss nicht. In friedlichen Zeiten mag ein Offizier verachtet sein, in Zeiten der Not ist es der General, auf den jeder schaut und von dem erwartet wird, dass er die Nation rettet.

Diese Überzeugung, die seit Jahren täglich wiederholt wird, formt die militärische Gesinnung. Es wird so weitergehen, bis es der Menschheit gelingt, Weltregierungsstrukturen zu schaffen, um den Krieg zu einem Ding der Vergangenheit zu machen.



ALL DIESE Trends sind in Israel besonders extrem.

Der Staat Israel wurde in der Mitte eines langen und brutalen Krieges geschaffen. Vom 1. Tag seiner Existenz an hing er von der Moral und der materiellen Stärke seiner Armee ab. Die Armee ist das Zentrum des nationalen Lebens, der Liebling der jüdischen Bürger. Sie ist heute in Israel bei weitem die populärste Institution.

Dies erinnert einen an das Deutsche Kaiserreich, wo gesagt wurde, dass "Der Soldat der beste Mann im Staate" sei. Vielleicht war es ein Zufall, dass der Gründer des Zionismus, Theodor Herzl, ein eifriger Verehrer des Kaiserreichs war.

In meinem ständigen Internet-Dialog mit meiner Freundin in Lahore, war ich wieder von der Ähnlichkeit unserer beiden Länder beeindruckt. Pakistan und Israel wurden zur selben Zeit geboren; aus früheren britischen Kolonien, nach einer schmerzvollen Teilung mit viel Blutvergießen, bei der riesige Massen von Menschen Flüchtlinge und Vertriebene wurden. Beide Länder gründen sich auf eine religiös-ethnische Ideologie und leben in ständigem Konflikt mit ihren Nachbarn.

Beides sind Demokratien - hinter den Kulissen beherrscht, von ihren Armeen und den Geheimdiensten.


VON JEDEM jungen jüdischen Israeli wird angenommen, dass er in der Armee dient. Männer dienen drei Jahre - die prägendsten Jahre im Leben eines jungen Mannes, die Jahre des Idealismus, noch unbelastet von Familien, bereit sich zu opfern.

(In der Praxis dienen fast 40% nicht - arabische Bürger und orthodoxe jüdische Bürger werden aus verschiedenen Gründen ausgenommen).

Die Armee ist der Schmelztiegel für in Israel geborene junge Leute und Immigranten aus Russland, Marokko, Äthiopien und vielen anderen Ländern. Während 1100 Tagen und Nächten formt die Armee ihren gemeinsamen Nenner und ihre gemeinsame Weltanschauung.

Sie kommen schon vorbereitet. Das israelische Bildungssystem ist eine Werkstatt für die zionistische Indoktrination - vom Kindergarten an. Diese 15 Jahre, gekrönt von den drei Armeejahren, schaffen eine große Mehrheit von engstirnigen, nationalistischen, ethnisch-zentrierten Männern und Frauen. Von da startet der professionelle Militäroffizier seine Karriere, und nimmt sein ideologisches Gepäck mit sich.

Wenn er die Armee mit 42 verlässt und eine zivile Kariere beginnt, heißt das nicht, dass er diese Scheuklappen ablegt. Im Gegenteil, die Armeeoffiziere bleiben selbst dann Armeeoffiziere, wenn sie Zivilkleidung tragen. Man könnte sagen, dass die Offiziere, in der Gegenwart und in der Vergangenheit, die einzig wirkliche Partei im Lande bilden.

Dies ist nicht dieselbe Armee, der ich den Treueeid am Tag ihrer Gründung geschworen habe. Zu der Zeit waren viele Offiziere Kibbuz-Mitglieder, die im Geist des Sozialismus und der Solidarität aufgewachsen sind. Nach 57 Jahren der Besatzung ist die Armee brutal geworden, viele Offiziere sind Siedler, viele tragen die gestrickte nationalistisch-religiöse Kippa. Die extrem rechten religiösen Parteien bemühen sich, bewusst diese Siedler ins Offizierskorps zu bringen - und es gelingt ihnen zum großen Teil.


VOR MEHR als 200 Jahren sagte Graf Mirabeau, ein Führer der französischen Revolution sehr treffend, dass Preußen "kein Staat sei, der eine Armee habe, sondern dass es eine Armee sei, die einen Staat habe."

Dasselbe kann heute auch über die einzige Demokratie im Nahen Osten gesagt werden.



Copyright 2014 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 14.06.2014
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Juni 2014