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STANDPUNKT/434: Anti-Was? (Uri Avnery)


Anti-Was?

von Uri Avnery, 21. Februar 2015


ANTISEMITISMUS ist auf dem Vormarsch. In ganz Europa erhebt er sein hässliches Haupt. Juden sind überall in Gefahr. Sie müssen sich schnell aufmachen und nach Hause nach Israel kommen, bevor es zu spät ist.

Stimmt das? Oder stimmt es nicht?

Unsinn.


PRAKTISCH ALLE alarmierenden Ereignisse, die kürzlich in Europa stattfanden - besonders in Paris und Kopenhagen - und bei denen Juden getötet oder angegriffen wurden, hatten nichts mit Antisemitismus zu tun.

All diese Gewalttaten wurden von jungen Muslimen, meist arabischer Abstammung, begangen. Sie waren ein Teil des fortwährenden Krieges zwischen Israelis und Arabern; das hat nichts mit Antisemitismus zu tun. Sie haben nichts mit dem Pogrom in Kishinew und nichts mit den Protokollen der Weisen von Zion zu tun.

Genau genommen ist arabischer Antisemitismus ein Widerspruch, da Araber Semiten sind. Tatsächlich können Araber semitischer sein als Juden, weil Juden sich seit vielen Jahrhunderten mit der einheimischen Bevölkerung des Landes, in dem sie lebten, vermischt haben.

Aber der deutsche Publizist Wilhelm Marr, der wahrscheinlich den Terminus Antisemitismus 1880 erfunden hat (nachdem er den Terminus Semitismus sieben Jahre vorher erfunden hatte) ist natürlich in seinem ganzen Leben keinem Araber begegnet. Für ihn waren nur die Juden Semiten, und sein Feldzug war nur gegen sie gerichtet.

(Adolf Hitler, der seinen Rassismus ernst nahm, wandte ihn gegen alle Semiten an. Er konnte auch Araber nicht ausstehen. Im Gegensatz zur Legende lehnte er den nach Deutschland geflohenen Großmufti von Jerusalem, Hadj Amin al-Husseini, ab. Nachdem er ihm ein einziges Mal zu einem Fototermin, der von der Nazi-Propaganda-Maschine arrangiert wurde, begegnet war, wollte er nie wieder mit ihm zusammentreffen.)


WARUM ALSO schießen junge Muslime in Europa auf Juden, nachdem sie Karikaturisten, die den Propheten beleidigten, getötet haben?

Experten sagen, dass der Hauptgrund ihr tiefer Hass gegen ihr Gastland sei, in dem sie sich - wohl zu Recht - verachtet, gedemütigt und diskriminiert fühlen. In Ländern wie Frankreich, Belgien, Dänemark und vielen andern braucht ihre gewalttätige Wut ein Ventil.

Aber warum gegenüber den Juden?

Da gibt es mindestens zwei Hauptgründe.

Der erste ist lokal bedingt. Französische Muslime sind meistens Immigranten aus Nordafrika. Während Algeriens verzweifelten Unabhängigkeitskampfes ergriffen fast alle algerischen Juden die Partei des Kolonialregimes gegen die Freiheitskämpfer vor Ort. Als alle Juden und viele Araber aus Algerien nach Frankreich auswanderten, brachten sie ihren Kampf mit. Da sie jetzt in den überfüllten Ghettos rund um Paris und anderswo nebeneinander wohnen, lebt ihr gegenseitiger Hass weiter und führt oft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.

Der zweite Grund ist der fortwährende arabisch-zionistische Konflikt, der mit der Masseneinwanderung der Juden ins arabische Palästina begann und sich mit der langen Liste von Kriegen fortsetzte und jetzt in voller Blüte steht. Praktisch jeder Araber in der Welt und die meisten Muslime sind gefühlsmäßig mit dem Konflikt verbunden.

Aber was haben französische Juden mit dem weit entfernten Konflikt zu tun? Alles.

Da Benjamin Netanjahu keine Gelegenheit versäumt, zu erklären, dass er alle Juden auf der Welt vertritt, macht er alle Juden der Welt für die israelische Politik und ihre Aktionen mitverantwortlich.

Wenn jüdische Institutionen sich in Frankreich, den USA und anderswo vollständig und unkritisch mit der Politik und den Operationen Israels, wie den letzten Gazakrieg, identifizieren, machen sie sich freiwillig selbst zu potentiellen Opfern von Racheakten. Die französisch-jüdische Führung, CRIF, hat das gerade erst getan.

Keiner dieser Gründe hat etwas mit Antisemitismus zu tun.


ANTISEMITISMUS ist ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur.

Viele Theorien sind vorgebracht worden, um dieses total unlogische Phänomen zu erklären, das an eine kollektive Geisteskrankheit grenzt.

Meine eigene bevorzugte Theorie ist religiöser Art. In ganz Europa und jetzt auch in beiden Amerikas hören christliche Kinder in ihren prägenden Jahren die Geschichten des Neuen Testamentes. Sie lernen, dass ein jüdischer Mob nach dem Blut Jesu (Math. 27,26), dem sanften und milden Prediger, schrie, während der römische Präfekt Pontius Pilatus verzweifelt versuchte, sein Leben zu retten. Der Römer wird als menschliche, liebenswürdige Person dargestellt, während die Juden als gemeiner, verachtenswerter Mob angesehen werden.

Diese Geschichte kann nicht wahr sein. Die römischen Herrscher pflegten im ganzen römischen Reich potentielle Unruhestifter zu kreuzigen. Das in den Geschichten dargestellte Verhalten der jüdischen Behörden entspricht nicht dem jüdischen Gesetz. Die Geschichten im Neuen Testament wurde lange nach dem Tode Jesu (sein Name auf Hebräisch lautet Jeshua) geschrieben und war für eine römische Zuhörerschaft gedacht, die die Christen zu missionieren versuchten - in starker Konkurrenz mit den jüdischen Missionaren.

Außerdem waren die frühen Christen eine kleine verfolgte Sekte im jüdischen Jerusalem und ihr Groll lebt [bei Evangelikalen und anderen Fundamentalisten - Anm. der Übersetzerin] bis zum heutigen Tage fort.

Das Bild der bösen Juden, die schreiend den Tod Jesu fordern, hat sich unbewusst in das Gedächtnis der christlichen Massen eingeprägt und Judenhass in jeder neuen Generation geweckt. Die Folgen waren Morde, Massenvertreibungen, Inquisition, Verfolgung in jeder Form, Pogrome und schließlich der Holocaust.


SO ETWAS hat es in der muslimischen Geschichte niemals gegeben.

Der Prophet führte einige kleine Kriege mit den benachbarten jüdischen Stämmen, aber der Koran enthält strikte Anweisung, wie man mit Juden und Christen - den "Völkern des Buches" - umgehen soll. Sie müssten gerecht behandelt werden und waren gegen eine Kopfsteuer vom Militärdienst befreit. Während der Jahrhunderte gab es hier und da einige seltene anti-jüdische (und anti-christliche) kriegerische Ausbrüche, aber Juden lebten in muslimischen Ländern unvergleichlich besser als in christlichen.

Wenn es nicht so gewesen wäre, hätte es nie ein "Goldenes Zeitalter" der muslimisch-jüdischen kulturellen Symbiose im mittelalterlichen Spanien gegeben. Es wäre für das muslimisch-osmanische Reich unmöglich gewesen, Hunderttausende jüdischer Flüchtlinge aus dem mittelalterlichen Spanien aufzunehmen, die von ihrer katholischen Majestät Ferdinand und Isabella vertrieben worden waren. Der herausragende jüdische religiöse Denker Moses Maimonides (der "Rambam") hätte nicht der persönliche Arzt und Berater des hervorragenden muslimischen Sultan Salah-al-Din al-Ayubi (Saladin) werden können.

Der gegenwärtige Konflikt begann als Zusammenstoß zwischen zwei großen nationalen Bewegungen, dem jüdischen Zionismus und dem säkularen arabischen Nationalismus, und hatte nur schwache religiöse Obertöne. Wie meine Freunde und ich viele Male gewarnt haben, ist es jetzt zu einem religiösen Konflikt geworden - eine Katastrophe mit möglicherweise schwerwiegenden Konsequenzen.

Das hat nichts mit Antisemitismus zu tun.


WARUM ALSO besteht die ganze israelische Propagandamaschinerie einschließlich aller israelischen Medien darauf, dass Europa einen katastrophalen Anstieg von Antisemitismus erlebt? Um einen Grund zu haben, alle europäischen Juden dazu aufzurufen, nach Israel zu kommen (In der zionistischen Terminologie: "Aliya machen").

Für einen wahren zionistischen Gläubigen ist die Ankunft jedes Juden ein ideologischer Sieg. Auch wenn Immigranten - besonders aus Ländern wie Äthiopien und der Ukraine - vernachlässigt werden, wenn sie erst einmal in Israel sind.

Wie ich schon oft geschrieben habe: "Die Israelis lieben die Immigration - aber nicht die Immigranten".

Als Folge der letzten Ereignisse in Paris und Kopenhagen hat Benjamin Netanjahu die französischen und dänischen Juden öffentlich aufgerufen, zu packen und um ihrer eigenen Sicherheit willen sofort nach Israel zu kommen. Die Ministerpräsidenten beider Länder haben wütend gegen diese Aufrufe protestiert, die den Anschein erwecken, sie seien nicht bereit oder willens, ihre eigenen Bürger zu schützen. Ich vermute, kein Führer eines Landes mag es, wenn ausländische Politiker seine Bürger aufrufen, das Land zu verlassen.

In diesem Aufruf liegt etwas Groteskes: Wie der verstorbene Professor Yeshayahu Leibowitz bemerkte, ist Israel der einzige Ort auf der Welt, wo jüdisches Leben ständig in Gefahr ist. Alle zwei Jahre ein Krieg und fast jeden Tag gewalttätige Vorfälle geben ihm Recht.

Aber als Folge der dramatischen Ereignisse mögen viele "französische" Juden - ursprünglich aus Nordafrika - sich veranlaßt sehen, Frankreich zu verlassen. Sie werden nicht alle nach Israel kommen. Die USA, Französisch-Kanada und Australien bieten verführerische Alternativen.

Es gibt viele gute Gründe für einen Juden, nach Israel zu kommen: ein mildes Klima, die hebräische Sprache, das Leben unter Juden und anderes mehr. Aber Weglaufen vor dem Antisemitismus ist keiner von ihnen.


GIBT ES in Europa wirklichen Antisemitismus? Ich vermute, dass es ihn gibt.

In vielen europäischen Ländern gibt es alte und neue supernationalistische Gruppen, die die Massen durch Hass auf den anderen anzuziehen versuchen. Juden sind (mit Sinti und Roma) die Anderen par Excellence. Eine ethnisch-religiöse Gruppe, die über viele Länder verteilt ist, die zu ihren Gastländern gehört und doch nicht gehört, mit fremden - und deshalb unheimlichen - Glaubensformen und Ritualen. Alle europäischen nationalistischen Bewegungen, die im 19. und 20. Jahrhundert entstanden, waren mehr oder weniger antisemitisch.

Juden sind immer - und sind es noch - die idealen Sündenböcke für die europäischen Armen gewesen. Es war der deutsche (nicht jüdische) sozialistische August Bebel, der sagte: "der Antisemitismus ist der Sozialismus der Ignoranten."

Mit der Zunahme von wirtschaftlichen Krisen und einer größer werdenden Diskrepanz zwischen den Armen vor Ort und den multinationalen Superreichen wächst der Bedarf an Sündenböcken. Aber ich glaube nicht, dass diese Randgruppen, obgleich einige nicht mehr so marginal sind, eine wirkliche antisemitische Welle darstellen.

Wie dem auch sei, die Gewalttaten in Paris und Kopenhagen haben nichts mit Antisemitismus zu tun.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 21.02.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Februar 2015

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