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STANDPUNKT/479: Der Vertrag (Uri Avnery)


Der Vertrag

von Uri Avnery, 18. Juli 2015


UND WAS ist, wenn das ganze Drama nur ein Täuschungsmanöver war?

Was, wenn die schlauen Perser nicht im Traum daran dachten, eine Atombombe zu bauen, aber die Drohung benutzten, ihren wahren Zielen näherzukommen?

Was, wenn Benjamin Netanjahu überlistet wurde, unabsichtlich der Haupt-Kollaborateur der iranischen Ambitionen zu werden?

Das klingt verrückt? Nicht wirklich. Werfen wir einen Blick auf die Fakten!


DER IRAN ist eine der ältesten Mächte der Welt mit Tausenden von Jahren politischer Erfahrung. Einst besaßen die Perser ein Imperium, das sich über die ganze zivilisierte Welt ausbreitete, einschließlich unseres kleinen Landes. Ihr Ansehen als kluge Händler sucht seinesgleichen.

Sie sind viel zu klug, um eine Atombombe zu bauen. Wofür? Es würde eine riesige Menge Geld verschlingen. Sie wissen, dass sie niemals in der Lage sein werden, sie anzuwenden. Dasselbe gilt für Israel mit seinem großen Arsenal.

Netanjahus Alptraum eines iranischen nuklearen Angriffs auf Israel ist eben nur gerade dies - ein Alptraum eines ignoranten Dilettanten. Israel ist eine Atommacht mit der Ausrüstung zu einem massiven Zweitschlag. Wie wir sehen, sind die iranischen Führer hart gesottene Realisten. Würden sie es auch nur im Traum wagen, die unvermeidliche Rache Israels heraufzubeschwören, eine Rache, die ihre drei Jahrtausende alte Kultur vom Angesicht der Erde tilgen würde?

(Falls dieses Potential mangelhaft ist, sollte Netanjahu angeklagt und wegen krimineller Nachlässigkeit verurteilt werden.)

Selbst wenn die Iraner die ganze Welt täuschten und eine Atombombe bauten, würde nichts anderes geschehen, als die Schaffung eines "Gleichgewichts des Schreckens", so wie dies die Welt auf der Höhe des kalten Krieges zwischen Amerika und Russland rettete.

Die Leute rund um Netanjahu geben vor, zu glauben, dass die iranischen Mullahs im Gegensatz zu den damaligen Sowjets, Verrückte seien. Das entbehrt jeglicher Grundlage. Seit ihrer Revolution von 1979 hat die iranische Führung nicht einen einzigen bedeutenden Schritt getan, der nicht absolut vernünftig gewesen wäre. Verglichen mit den amerikanischen Fehltritten in der Region (von den israelischen ganz zu schweigen) handelt die iranische Führung vollkommen rational.

Vielleicht tauschen sie ihre nicht existierenden nuklearen Pläne gegen ihre sehr realen politischen Pläne ein, um die Vormachtstellung der muslimischen Welt zu erringen.

Wenn es so ist, haben sie Netanjahu eine Menge zu verdanken.


WAS HAT die islamische Republik in den 45 Jahren ihrer Existenz getan, um Israel zu schaden?

Im Fernsehen kann man Massenversammlungen in Teheran sehen, auf denen israelische Fahnen verbrannt werden und wo "Tod für Israel" geschrien wird. Sie nennen uns nicht gerade schmeichelhaft "den kleinen Satan" als Ergänzung zum "großen Satan" Amerika.

Schrecklich, und was sonst noch?

Nicht viel. Vielleicht einige Unterstützung für die Hisbollah und die Hamas, die nicht seine Geschöpfe sind. Irans wahrer Kampf wird gegen die Kräfte in der muslimischen Welt geführt. Er will die Länder der Region zu seinen Vasallen machen, wie es vor 2400 Jahren der Fall war.

Das hat sehr wenig mit dem Islam zu tun. Der Iran benutzt den Islam wie Israel den Zionismus und die jüdische Diaspora benutzt (und wie Russland in der Vergangenheit den Kommunismus benutzte) als Werkzeug für seine imperialen Ambitionen.

Was jetzt in dieser Region geschieht, ähnelt den "Religionskriegen" im 17. Jahrhundert in Europa. Ein Dutzend Länder kämpfte im Namen der Religion unter Flaggen des Katholizismus und Protestantismus gegen einander, benutzen aber die Religion, um ihre sehr irdischen imperialen Pläne durchzusetzen.

Die USA, von einem Haufen neo-konservativer Narren geführt, zerstörten den Irak, der viele Jahrhunderte lang als Bollwerk der arabischen Welt gegen die iranische Ausdehnung gedient hat. Jetzt unter dem Banner der Schiiten erweitert der Iran seine Macht in der ganzen Region.

Der schiitische Irak ist jetzt größtenteils ein iranischer Vasall (Wir werden noch auf Daesh zurückkommen). Das Überleben der Führung des sunnitischen Syriens, das von einer kleinen halb-schiitischen Sekte regiert wird, hängt vom Iran ab. Im Libanon ist die schiitische Hisbollah ein naher Verbündeter mit wachsender Macht und Ansehen. So ist es auch mit der Hamas in Gaza, die vollkommen sunnitisch ist. Und mit den Huthi-Rebellen im Jemen, die Zaidis sind (eine Schule der Schiiten).

Der Status quo in der arabischen Welt wird von einem Haufen korrupter Diktatoren und mittelalterlicher Scheichs verteidigt, wie den Herrschern von Saudi-Arabien, Ägypten und den Öl-Potentaten am Golf.

Zweifellos gehört dem Iran und seinen Verbündeten die Zukunft, Saudi-Arabien und seine Verbündeten gehören der Vergangenheit an.

Da bleibt noch Daesh, der sunnitische "islamische Staat" in Syrien und im Irak. Das ist auch eine aufstrebende Macht. Im Gegensatz zum Iran, dessen revolutionärer Elan sich vor langem erschöpft hat, strahlt Daesh revolutionären Eifer aus und zieht Anhänger aus aller Welt an.

Daesh ist der wahre Feind des Iran - und Israels.


PRÄSIDENT OBAMA und seinen Beratern ist dies vor einiger Zeit klar geworden. Ein Teil ihrer neuen Verbindung mit dem Iran gründet sich auf diese Tatsache.

Mit dem Auftauchen von Daesh haben sich die Realitäten vor Ort von Grund auf verändert. Der Wandel bestätigt die alte britische Maxime, dass der Feind in dem einen Krieg im nächsten durchaus zum Verbündeten werden kann und umgekehrt. Weit davon entfernt naiv zu sein, baut Obama ein Bündnis gegen den neuen und sehr gefährlichen Feind. Diese Allianz sollte logischerweise Bashar Assads Syrien einschließen, aber Obama hat noch Angst davor, dies laut zu sagen.

Obama und seine Berater glauben auch, dass durch die Aufhebung der lähmenden Sanktionen die Iraner sich darauf konzentrieren, Geld zu verdienen, was ihren nationalistischen und religiösen Eifer noch mehr abschwächt. Das klingt vernünftig genug.

(Netanjahu denkt, das amerikanische Volk sei "naiv". Nun, für eine naive Nation haben die USA es ganz geschickt angestellt, zur einzigen Supermacht der Welt zu werden.)

Ein Nebenprodukt der Situation ist, Israel wird wieder mit der ganzen politischen Welt im Clinch liegen. Der Wiener Vertrag wird nicht nur von den USA unterzeichnet, sondern auch von allen führenden Weltmächten. Dies scheint eine Situation zu schaffen, die ein munteres israelisches Volkslied so ausdrückt: "Die ganze Welt ist gegen uns, uns aber ist es scheißegal."

Im Gegensatz zu Obama, steckt Netanjahu leider in der Vergangenheit. Er dämonisiert weiter den Iran, statt sich dem Kampf gegen Daesh anzuschließen, der für Israel viel, viel gefährlicher ist.

Man muss nicht bis Cyrus dem Großen (6. Jahrhundert v. Chr.) zurückgehen, um zu realisieren, dass der Iran ein enger Verbündeter sein kann. In den Beziehungen zwischen den Nationen triumphiert die Geographie über die Religion. Es ist noch nicht so lange her, dass der Iran Israels engster Verbündeter in der Region war. Wir sandten Khomeini sogar Waffen, um gegen den Irak zu kämpfen. Die Mullahs hassten Israel nicht so sehr wegen ihrer Religion, sondern wegen unserer Verbindung zum Schah.

Das gegenwärtige iranische Regime hat seit langem seinen revolutionären religiösen Eifer verloren. Es handelt seinen nationalen Interessen gemäß. Was zählt, ist die Geographie. Eine weise israelische Regierung würde die nächsten zehn oder mehr Jahre eines garantiert atomwaffenfreien Irans nutzen, um die Allianz - besonders gegen Daesh - zu erneuern.

Dies könnte zu neuen Beziehungen mit Assads Syrien, der Hisbollah und auch der Hamas führen.


ABER SOLCH weitreichende Überlegungen sind dem Geist Netanjahus fremd. Netanjahu ist zwar der Sohn eines Historikers, doch es mangelt ihm an jeder historischen Kenntnis und jedem Gespür dafür.

Der Kampf wird jetzt in Washington DC fortgesetzt. Dort ist Netanjahu Sheldon Adelson, dem Eigentümer der Republikanischen Partei, fest als Söldner verpflichtet.

Es ist ein trauriger Anblick: der Staat Israel, der sich immer der vollen Unterstützung beider amerikanischer Parteien erfreute, ist ein Anhängsel der reaktionären republikanischen Führung geworden.

Ein noch traurigerer Anblick ist Israels politische und Medien-Elite am Morgen der Unterzeichnung des Wiener Vertrages. Es war fast unglaublich.

Fast alle politischen Parteien schlossen sich Netanjahus Politik an, wetteiferten miteinander mit ihren Bekundungen unterwürfiger Loyalität. Vom "Führer der Opposition", dem bemitleidenswerten Yitzhak Herzog bis zum redseligen Yair Lapid, jeder beeilte sich, dem Ministerpräsidenten in seiner kritischen Stunde beizustehen.

Die Medien waren sogar noch schlimmer. Fast alle prominenten Kommentatoren, linke wie rechte, liefen gegen den "katastrophalen" Vertrag Amok und häuften ihre gleichartige Empörung und Verachtung auf den armen Obama, als ob sie von einer vorbereiteten Regierungs- "Liste von Argumenten" ablesen würden (wie es auch tatsächlich war).

Das war nicht die beste Stunde der israelischen Demokratie und der so sehr gelobten "jüdischen Intelligenz". Nur gerade ein jämmerliches Beispiel einer allzu gewöhnlichen Gehirnwäsche.

Eines von Netanjahus Argumenten ist, die Iraner können und werden die naiven Amerikaner betrügen und die Bombe bauen. Er ist sicher, das sei möglich. Nun ja, er muss es wissen. Wir haben es ja schließlich so gemacht oder etwa nicht?



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 18.07.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2015

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