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STANDPUNKT/537: Der Rattenfänger von Zion (Uri Avnery)


Der Rattenfänger von Zion

von Uri Avnery, 27. Januar 2016


HAMELN, EINE kleine Stadt in Deutschland (nicht weit von meinem Geburtsort entfernt) wurde von Ratten heimgesucht. In ihrer Verzweiflung riefen die Bürger nach einem Rattenfänger und versprachen ihm eintausend Gulden, wenn er sie von der Rattenplage befreien würde.

Der Rattenfänger nahm seine Flöte und spielte eine hübsche Melodie, so dass alle Ratten aus ihren Löchern kamen und ihm folgten. Er marschierte mit ihnen zur Weser, wo sie alle ertranken.

Als sie von der Rattenplage befreit waren, sahen die Einwohner keinen Grund mehr zu zahlen. Der Rattenfänger nahm also noch einmal sein Instrument und spielte eine noch viel schönere Melodie. Die entzückten Kinder der Stadt sammelten sich um ihn und er marschierte mit ihnen direkt zum Fluss hinunter, wo sie alle ertranken.

Benjamin Netanjahu ist unser Rattenfänger. Entzückt von seinen Melodien, laufen die Leute von Israel hinter ihm her zum Fluss.

Auch die Bürger, denen bewusst ist, was da geschieht, sehen nur zu. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Wie soll man die Kinder retten?


DAS ISRAELISCHE Friedenslager ist verzweifelt. Kein Retter ist in Sicht. Viele sitzen vor ihrem Fernseher und ringen die Hände.

Der Rest debattiert weiter. Wird die Erlösung von innen kommen oder von außen?

Der letzte Mitwirkende an dieser Debatte ist Amos Schocken, der Besitzer der "Haaretz-Zeitung. Er hat einen seiner seltenen Artikel geschrieben, in dem er behauptet, dass uns nur Kräfte von außen retten können.

Lasst mich zuerst sagen, dass ich Schocken bewundere. "Haaretz" (Das Land) ist eine der letzten Bastionen der israelischen Demokratie. Verflucht und verachtet von der ganzen rechten Mehrheit führt sie die intellektuelle Schlacht für Demokratie und Frieden. All dies während die gedruckten Medien in Israel und in aller Welt in ernster finanzieller Notlage sind. Meine eigene Erfahrung als Besitzer und Herausgeber eines Magazins - das die Schlacht verloren hat - weiß genau, wie heroisch und herzzerreißend dieser Job ist.

In seinem Artikel sagt Schocken, dass die Schlacht, Israel von innen zu retten, hoffnungslos ist und dass wir deshalb den von außen kommenden Druck unterstützen müssen: die wachsende weltweite Bewegung, um Israel zu boykottieren: politisch, wirtschaftlich und akademisch.

Ein anderer prominenter Israeli, der diese Ansicht unterstützt, ist Alon Liel, ein früherer Botschafter in Südafrika und gegenwärtiger Hochschuldozent. Gestützt auf seine eigene Erfahrung, behauptet er, es sei der weltweite Boykott gewesen, der das Apartheidregime in Südafrika in die Knie gezwungen habe.

Es liegt mir fern, das Zeugnis eines solch hervorragenden Experten zu bestreiten. Ich war nie in Südafrika, um es selbst zu erleben. Aber ich habe mit vielen Teilnehmern - Schwarzen und Weißen - gesprochen und mein Eindruck ist ein wenig anders.


ES IST eine große Versuchung, das gegenwärtige Israel mit dem Apartheidstaat Südafrika zu vergleichen. Tatsächlich ist der Vergleich fast unvermeidbar. Aber was sagt uns das?

Die im Westen akzeptierte Ansicht ist, dass es der internationale Boykott des grauenhaften Apartheidregimes gewesen sei, was ihm das Genick gebrochen habe. Es ist eine tröstliche Ansicht: Das Gewissen der Welt erwachte und zerschmetterte die Bösewichte.

Doch dies ist ein Blick von außen. Der Blick von innen scheint ganz anders zu sein. Aus der Innenansicht hat man die Hilfe der internationalen Gemeinschaft durchaus geschätzt, der Sieg wird jedoch dem Kampf der schwarzen Bevölkerung selbst zugeschrieben: ihrer Bereitschaft zu leiden, ihrem Heldenmut, ihrer Hartnäckigkeit. Indem sie viele verschiedene Methoden anwandte, einschließlich Terrorismus und Streiks, machte sie das Aufrechterhalten der Apartheid schließlich unmöglich.

Der internationale Druck half mit, dass den Weißen zunehmend ihre Isolierung bewusst wurde. Einige Maßnahmen, wie der internationale Boykott der südafrikanischen Sportteams waren besonders schmerzlich. Aber ohne den Kampf der schwarzen Bevölkerung selbst, wäre der internationale Druck unwirksam gewesen.

Höchster Respekt gebührt den weißen Südafrikanern, die aktiv den Kampf der Schwarzen unterstützten, einschließlich Terrorismus bei großem persönlichem Risiko. Viele von ihnen waren Juden. Einige flohen nach Israel. Einer war mein Freund und Nachbar Arthur Goldreich. Die israelische Regierung unterstützte natürlich das Apartheid-Regime.

Selbst ein oberflächlicher Vergleich zwischen den beiden Fällen zeigt, dass das israelische Apartheid-Regime sich eines bedeutenden Kapitals erfreut, das Südafrika nicht besaß.

Die südafrikanischen weißen Herrscher wurden weltweit verabscheut, weil sie ganz offen die Nazis im Zweiten Weltkrieg unterstützten. Die Juden waren die Opfer der Nazis. Der Holocaust ist ein riesiges Guthaben der israelischen Propaganda. Ebenso die Bezeichnung aller Kritiker Israels als Antisemiten - eine sehr wirksame Waffe in diesen Tagen.

(Mein letzter Beitrag: Wer ist ein Antisemit? Derjenige, der die Wahrheit über die Besatzung sagt.)

Die unkritische Unterstützung der israelischen Regierung durch die mächtigen jüdischen Gemeinden in aller Welt ist etwas, wovon die südafrikanischen Weißen nicht einmal träumen konnten.

Und natürlich ist kein Nelson Mandela in Sicht.

Paradoxerweise liegt ein klein wenig Rassismus in der Ansicht, dass es die Weißen in der westlichen Welt waren, die die Schwarzen in Südafrika befreiten und nicht die schwarzen Südafrikaner selbst.

Es gibt noch einen großen Unterschied zwischen den beiden Situationen. Aufgrund der Abhärtung durch Jahrhunderte der Verfolgung in der christlichen Welt, können jüdische Israelis auf Druck von außen anders reagieren als erwartet. Druck von außen kann sich gegensätzlich auswirken. Er kann den alten jüdischen Glauben wieder bestätigen, dass Juden nicht wegen dem, was sie tun, verfolgt werden, sondern wegen dessen, was sie sind. Das ist einer von Netanjahus Hauptargumenten.

Vor Jahren sang und tanzte eine Unterhaltungsgruppe für die Armee zu der fröhlichen Melodie eines Liedes, das mit den Worten begann: "Die ganze Welt ist gegen uns, aber uns ist das schnuppe."

Das betrifft auch die Kampagne für Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen, BDS. Vor 18 Jahren waren meine Freunde und ich die ersten, die den Produkten aus den Siedlungen den Boykott erklärten. Wir wollten einen Keil zwischen Israelis und Siedler treiben. Deshalb erklärten wir den Boykott nicht den Produkten aus dem eigentlichen Israel, weil das die normalen Israelis den Siedlern in die Arme treiben würde. Nur die direkte Unterstützung der Siedlungen sollte zurückgewiesen werden.

Das ist noch immer meine Meinung. Aber jeder im Ausland sollte seine eigene Meinung dazu haben. Man sollte sich immer daran erinnern, dass das Hauptziel darin besteht, die öffentliche Meinung im eigentlichen Israel zu beeinflussen.


DIE "INNEN-AUSSEN"-Debatte könnte rein theoretisch sein, aber sie ist es nicht. Sie hat sehr praktische Konsequenzen.

Das israelische Friedenslager befindet sich in einem Zustand der Verzweiflung. Die Größe und Macht der Rechten wächst. Fast täglich werden widerliche neue Gesetze eingebracht und erlassen, einige von ihnen riechen unverkennbar nach Faschismus. Der Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat sich mit einem Pulk männlicher und weiblicher Rowdies umgeben, vor allem aus der Likud Partei, obwohl er selbst im Vergleich zu denen beinahe ein Liberaler ist. Die wichtigste Oppositionspartei, das "Zionistische Lager" (früher Labor) könnte man den zweiten Likud nennen.

Abgesehen von einigen Dutzend Randgruppen, die tapfer diese Welle aushalten und bewundernswerte Arbeit leisten, jede in ihrer ausgewählten Nische, ist das Friedenslager gelähmt durch seine eigene Verzweiflung. Sein Slogan könnte gut sein: "Da ist nichts mehr zu machen. Es hat keinen Sinn, irgendetwas zu tun." (Im gemeinsamen Kampf innerhalb Israels wäre auch jüdisch-arabische Zusammenarbeit wichtig. Die ist jetzt leider nicht vorhanden.)

In diesem Klima ist die Idee, dass Israel nur durch Druck von außen vor sich selbst gerettet werden kann, tröstlich. Irgendjemand dort draußen wird die Arbeit für uns tun. Erfreuen wir uns also der Demokratie, solange sie noch besteht.

Ich weiß, dass Schocken, Liel und allen anderen, die ihren täglichen Kampf kämpfen, nichts fernerliegt als diese Gedanken. Aber ich fürchte, dass derartige Gedanken die Schlussfolgerung aus ihren Ansichten sein können.


WER ALSO hat recht? Diejenigen, die glauben, dass der Kampf innerhalb Israels uns retten kann oder jene, die ihr Vertrauen ganz auf den Druck von außen setzen?

Meine Antwort: weder noch.

Oder eher beide.

Diejenigen die innen kämpfen, benötigen alle Hilfe, die sie von außen bekommen können. Alle moralisch denkenden Menschen in allen Ländern der Welt sollten es als ihre Pflicht ansehen, den Gruppen und Personen innerhalb Israels zu helfen, die weiter für Demokratie, Gerechtigkeit und Gleichheit kämpfen.

Wenn Israel ihnen am Herzen liegt, sollten sie diesen tapferen Gruppen moralisch, politisch und materiell zu Hilfe kommen.

Damit der Druck von außen jedoch wirksam werden kann, müssen sie sich mit dem Kampf im Inneren verbinden können, ihn publik machen und Unterstützung für ihn gewinnen. Sie können damit denen, die am Verzweifeln sind, neue Hoffnung geben. Nichts ist lebenswichtiger.

Der Regierung ist das klar. Deshalb erlässt sie alle möglichen Gesetze, um die israelischen Friedensgruppen von der Hilfe von außen abzuschneiden.

Also setzen wir den guten Kampf fort - innerhalb, außerhalb, ja überall.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 27.01.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2016

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