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STANDPUNKT/545: Das große Vorbeben - Ökonomische Aspekte der Wanderungs- und Fluchtbewegungen (Manfred Sohn)


Das große Vorbeben

Ökonomische Aspekte der Wanderungs- und Fluchtbewegungen

von Manfred Sohn, 6. März 2016


Der folgende Text fußt auf einem Referat, das der Autor auf der Jahresmitgliederversammlung der Marx-Engels-Stiftung am 23. Januar 2016 in Wuppertal gehalten hat. Er berücksichtigt Argumente aus der anschließenden Diskussion und neuere Entwicklungen. Eine redaktionell bearbeitete Fassung ist erstmals in der Tageszeitung "junge welt" am 9. März 2016 erschienen.


Die Diskussionen um die große Fluchtbewegung, die vor allem aus Nordafrika kommend zur Zeit Europa und hier vor allem die nördlichen Länder zu Ziel hat, ist bislang auch auf der Linken vor allem unter moralischen und politischen Gesichtspunkten geführt worden. Im folgenden sollen ergänzend dazu vor allem ökonomische Aspekte der gegenwärtigen Wanderungs- und Fluchtbewegungen aus marxistischer Sicht beleuchtet werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gliedert sich das in der Betrachtung der Wanderungsursachen, des Wanderungsvollzugs und der Wanderungsfolgen sowohl für die Aus- als auch für die Einwanderungsländer und hier insbesondere für Deutschland. Dem sollen sich einige Überlegungen zu politischen Schlußfolgerungen anschließen. Vorweg scheint mir aber eine Vorbemerkung zwingend notwendig.


Vertraute und neue Fragestellungen

Die "Marxistischen Blätter" haben dankenswerterweise das Thema "Flucht" zum Schwerpunkt ihrer ersten Ausgabe in diesem Jahr gemacht. Darin findet sich ein bemerkenswerter, nun schon 26 Jahre alter Artikel von Lothar Elsner zu einigen Aussagen von Marx, Engels und Lenin zur Frage der "Arbeiterwanderungen". In dem Artikel wird die Resolution des Stuttgarter Sozialistenkongresses vom August 1907 zur "Ein- und Auswanderung der Arbeiter", an dessen Erarbeitung sich auch Wladimir Iljitsch Lenin beteiligt hatte, erwähnt. Diese Resolution lohnt einen genaueren Blick und deshalb will ich diese Darlegungen mit der Wiedergabe der Einleitung dieser bemerkenswert aktuellen Resolution beginnen:

"Die Ein- und Auswanderung der Arbeiter sind vom Wesen des Kapitalismus ebenso unzertrennliche Erscheinungen wie die Arbeitslosigkeit, Überproduktion und Unterkonsum der Arbeiter. Sie sind oft ein Mittel, den Anteil der Arbeiter an der Arbeitsproduktion herabzusetzen und nehmen zeitweise durch politische, religiöse und nationale Verfolgungen anormale Dimensionen an.

Der Kongreß vermag ein Mittel zur Abhilfe der von der Aus- und Einwanderung für die Arbeiterschaft etwa drohenden Folgen nicht in irgendwelchen ökonomischen oder politischen Ausnahmemaßregeln zu erblicken, da diese fruchtlos und ihrem Wesen nach reaktionär sind, also insbesondere nicht in einer Beschränkung der Freizügigkeit und in einem Ausschluß fremder Nationalitäten oder Rassen.

Dagegen erklärt es der Kongreß für eine Pflicht, sich gegen die im Gefolge des Massenimports unorganisierter Arbeiter vielfach eintretende Herabdrückung ihrer Lebenshaltung zu wehren, und erklärt es außerdem für ihre Pflicht, die Ein- und Ausfuhr von Streikbrechern zu verhindern. Der Kongress erkennt die Schwierigkeiten, welche in vielen Fällen dem Proletariat eines auf hoher Entwicklungsstufe des Kapitalismus stehenden Landes aus der massenhaften Einwanderung unorganisierter und niederer Lebenshaltung gewöhnter Arbeiter aus Ländern mit vorwiegend agrarischer und landwirtschaftlicher Kultur erwachsen, sowie die Gefahren, welche ihm aus einer bestimmten Form der Einwanderung entstehen. Er sieht jedoch in der übrigens auch vom Standpunkt der proletarischen Solidarität verwerflichen Ausschließung bestimmter Nationen oder Rassen von der Einwanderung kein geeignetes Mittel, sie zu bekämpfen."

Es folgt ein Katalog von Maßnahmen, die der Kongreß empfiehlt, die ebenfalls von erstaunlicher - angesichts der seitdem vergangenen fast 110 Jahre etwas trauriger - Aktualität sind wie der Forderung nach "Einführung eines Minimallohnsatzes" und einer ebenfalls traurig aktuellen Thematisierung dessen, was heute unter dem Schlagwort "Schlepper" oder "Schleuser" diskutiert wird: "Da die Arbeiterauswanderung außerdem oft durch Eisenbahn- und Dampfschiffsgesellschaften, durch Landspekulanten und andere Schwindelunternehmen, durch Erteilung falscher erlogener Versprechungen an die Arbeiter künstlich stimuliert wird, verlangt der Kongreß: Überwachung der Schiffsagenturen, der Auswanderungsbüros, eventuell gesetzliche oder administrative Maßnahmen gegen diese, um zu verhindern, daß die Auswanderung für die Interessen solcher kapitalistischen Unternehmungen mißbraucht werden." Hinsichtlich dieser Transportwege der damaligen Wanderung empfiehlt der Kongreß dann, um damit dieses Zitat abzuschließen, eine "Überwachung der Bestimmung durch Inspektoren mit Disziplinargewalt, welche aus den Reihen der gewerkschaftlichen organisierten Arbeiter des Einwanderungs- sowie des Auswanderungslandes zu bestellen sind ..." - das wäre doch mal eine Aufgabenperspektive für Funktionäre unseres DGB-Apparates.

In dieser Resolution von 1907 sind die Grundorientierungen allgemein linker Politik enthalten, die bis heute wirken:

  • Solidarität mit den Wandernden, also heute: den Fliehenden
  • Keine Beschränkung der Freizügigkeit, so verständlich das Liebäugeln damit auch sei
  • Kampf um die erreichten Standards in den entwickelten kapitalistischen Ländern (Mindestlohn)

Es gibt aber bei der heutigen Analyse ein paar neue Aspekte zu berücksichtigen.

Karl Marx ist bekanntlich nicht dadurch so eine herausragende Gestalt geworden, daß er dem zu seinen Lebzeiten emporstrebenden System Krisen prophezeit hätte. Er hat in seinem ökonomischen Hauptwerk weit mehr vollbracht: Er hat die auf dem Tauschwert beruhende Produktion als ein alle ihm vorgesetzten Schranken niederreißendes unentwegt Geld zu mehr Geld, G zu G' machendes System analysiert, das aber eben nicht lediglich von Krise zu Aufschwung, zur Baisse, zurück zum Abschwung und zur nächsten Krise wandelt so wie sich Winter, Frühjahr, Sommer und Herbst abwechseln. Vielmehr führt seine Analyse zu der Schlußfolgerung, daß dieses System über einen integrierten Selbstzerstörungsmechanismus verfügt, daß es über kurz oder lang und wie quälend auch immer letztlich scheitert an seiner "wahren Schranke", die im Wesen des Kapitalismus selbst liegt. Den Kern dieser Analyse kennt jeder marxistisch einigermaßen gebildete Mensch: Wertbildend ist in dieser Gesellschaftsordnung nur die Ware Arbeitskraft. Sie aber wird, getrieben durch die Peitsche der Konkurrenz, diesem alles zerfräsenden Prinzip, beständig aus dem Produktionsprozess herausrationalisiert.

Die hier verfochtene Grundthese lautet: Das, was uns als "Flüchtlingskrise" verkauft wird, ist in seinem Kern vielmehr der an den Flüchtlingen exekutierte Beginn der finalen Krise des kapitalistischen Systems. Er ist der schreiendste Teil der Kapitalismuskrise, die unser aller Leben in den nächsten Jahrzehnten immer mehr bestimmen wird.


Wanderungsursachen

Mit millionenschweren Subventionen aus öffentlichen Kassen ist vor einigen Jahren in Wietze in Niedersachsen ein Geflügelschlachthof errichtet worden, in dem pro Stunde bis zu 24.000 Hühner getötet und verarbeitet werden. Dort arbeiten 380 Menschen und vielleicht noch 20 Leute von Wach- und Schließgesellschaften, weil es gegen diese Schlachtfabrik zeitweise erheblichen örtlichen Widerstand gab - also insgesamt 400 Menschen. Auf den europäischen Märkten werden von den Tieren, die sie hochproduktiv töten und verarbeiten, vor allem Brustfilets und Schenkel abgesetzt. Wie von anderen Agrarfabriken auch gehen die hier nicht verwertbaren Teile dorthin, wo auch das sogenannte Hühnerklein - also der von den kapitalistischen Wohlstandsgesellschaften verschmähte Rest - noch verkäuflich ist. Zum einen ist das industrielle Verwertung überall dort, wo tierisches Fett und Eiweiß gebraucht werden. Der Sender sat 1 berichtete am 21. Oktober 2014 über eine andere Verwertung. Von den in Deutschland erzeugten 445.000 Tonnen Geflügelfleisch, das 2012 in den Export ging, wurden 47.000 Tonnen nach Afrika verschifft. Aus der gesamten EU sind allein in Ghana 90.000 Tonnen gelandet mit dem Ergebnis, daß dort neun von zehn Hühnerfarmen vom Markt verschwunden sind. DIE ZEIT präzisierte am 20. Januar 2015 solche Berichte und wies darauf hin, daß sich die Exporte von Hähnchenfleisch aus der EU in afrikanische Länder seit 2009 fast verdreifacht hätte - auf jetzt 592.000 Tonnen. Gegen solche Massenimporte industrieller Nahrungserzeugung haben die kleinbäuerlichen Strukturen Afrikas und Asiens keine Chance. Die Bauern Afrikas, berichtet das linken Unterstellungen gegenüber gänzlich unverdächtige Blatt, hätten Produktionskosten von 1,80 Euro - europäisches Hähnchenfleisch aber koste nur die Hälfte. Würden nun die dortigen Staaten einen Zoll von 50% auf europäisches Hühnerklein oder ganze Hähnchen erheben, könnten sie ihre internen Produzenten schützen. Das dürfen sie aber nicht, weil Handelsabkommen mit der EU seit 2015 nur noch einen Zoll von 35% erlauben. Damit kostet das Kilo aus der EU eben trotz Transport- und sonstiger Kosten immer noch 1,20 Euro und damit so viel weniger als einheimische Produkte, daß die vorher auf dem Lande tätigen überwiegend jungen Menschen in Scharen arbeits- und perspektivlos werden. Ähnliches wie hier für Fleisch dargelegt gilt für Tomaten, Kartoffeln und auch andere Lebensbedürfnisse wie die nach Kleidung oder Wohnungseinrichtungen, die jahrtausendelang von einheimischen Handwerkern befriedigt wurden. Der letzte Anstoß für die millionenfache Wanderung, die jetzt einsetzt, sind die militärischen Konflikte. Auch die Kürzung von Lebensmittelrationen in den Flüchtlingscamps Nordafrikas sind ein wesentlicher Auslöser der Massenwanderung. Aber sie konnten nur wirken, weil sich diese Lager gesammelt hatten mit Menschen, die der weltweite Kapitalismus in ihrer Heimat ökonomisch entwurzelt hat. Die Staaten Westeuropas haben Nordafrika mit Billigfleisch und Waffen bombardiert und erhalten als Antwort die erwerbslos gemachten und in ihrem Leben bedrohten Menschen zurück. Bildlich gesprochen: Die von Wietze erwerbslos gemachten Afrikaner machen sich auf den Weg, um einen der dort bestehenden 400 Arbeitsplätze zu ergattern.

Kapitalismus heute zieht nicht mehr - wie in den Marxistischen Blättern Tom Vickers annimmt - in die Welt, um fremde Arbeitskraft auszubeuten. Vielmehr hat die Produktivität Ausmaße angenommen, wo die von Marx so bezeichnete industrielle Reservearmee ein stehendes Heer dauerhaft überflüssiger Ware Arbeitskraft geworden ist - die Arbeiterklasse hat sich so wie von Marx angekündigt in eine A-Klasse der Arbeiter, Angestellten und dauerhaft Ausgegrenzten verwandelt.[1]

Zu uns, in das Zentrum der Bestie, die dieses System immer offensichtlicher wird, kommen allerdings nicht die völlig Mittellosen. Sie verrecken in ihren Geburtsländern oder auf der von Verzweiflung und Geldnot gleichermaßen beherrschten Flucht vor dem heimatlichen Elend.


Wanderungsvollzug

Das US-Magazin Time bringt am 18. Januar 2016 einen großen Bericht unter der Überschrift "Warum Afrikaner immer noch ihr Leben riskieren, um nach Europa zu emigrieren"[2]. Dort wird anhand des Beispiels eines während der Emigration getöteten Mannes aus Äthiopien entwickelt, daß mithilfe der "Schmuggler" vor allem die dort besser verdienenden Männer fliehen. Mahamed Yahya, afrikanischer Koordinator des "UN Development Programme" (UNDP) wird dort mit dem Satz zitiert: "Die Leute, die wir verlieren, sind ökonomisch aktiv, sie sind dynamisch, sie sind diejenigen, die sich weigern, weiter in Armut zu leben. Das sind die Leute, die Afrika braucht." Sie zahlen für die Flucht gegenwärtig relativ verläßlich feste Summen von 3000 bis 4000 Dollar - jeweils in Teilraten zu übergeben, wenn ein bestimmter Punkt zwischen Aus- und Einwanderungsland erreicht ist. Gefragt, ob sie denn nicht durch die Meldungen über die Toten auf der Strecke abgeschreckt würden, antwortet einer der Migranten laut diesem Artikel: "Laß uns sagen, daß 9 von 10 durchkommen und einer stirbt. Warum sollte ich denken, daß ich dieser eine sein werde?".

Die Debatte um ihre Fluchthelfer ist der zynischste Teil der ganzen Flüchtlingsdebatte.

Die Bild-Zeitung, die dem im Mittelmeer ertrunkenen dreijährigen Aylan am 4. September 2015 drei Seiten widmete, richtet die von ihrem Bericht erzeugte Wut der Leser in Fettdruck auf diejenigen, die die Flucht unterstützten: »Und was wurde aus den Schleusern, die die Tragödie zu verantworten haben?« An dem Satz ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen sind in der Zeitung nun diejenigen, die noch vor drei Jahrzehnten positiv gefeierte »Fluchthelfer« waren, als sie Menschen bei der gefahrvollen Wanderung von Ost nach West unterstützten, negativ belegte »Schleuser« geworden, seitdem die Wanderung von Süd nach Nord versucht wird. Die Redakteure des Blattes unterstellen ihren Lesern zweitens, dass sie den geschickten Tausch von Ursache und Wirkung übersehen. Denn klar ist: Fluchtbewegungen haben nicht diejenigen zu verantworten, die einen Fliehenden mit welchen Mitteln und gegen welche Gegenleistung auch immer unterstützen. Verantwortlich sind diejenigen, die in den Ländern der Fliehenden Zustände herstellen oder herzustellen helfen, die so unerträglich sind, dass sich ganze Familien auf den Weg in andere Länder machen. Wenn es für diese Wanderung aber keine legalen Wege gibt, sind sie angewiesen auf Kundige, die auch illegale Wege öffnen. Schlepperei ist, wie der österreichische Journalist Franz Schandl vor einiger Zeit feststellte, nicht der Fluchtgrund, sondern das Fluchtmittel. Und ohne Fluchthelfer - Entschuldigung: Schlepper - sind die Flüchtlinge schlechter dran als mit ihnen. Weil die ökonomischen Ursachen der Wanderungsbewegung weiter nicht behoben sind und die Grenzen kontrolliert und geschlossen bleiben, wird die Fluchtbewegung genauso anhalten wie das Fluchthelfer-Gewerbe gedeihen wird.


Wanderungsfolgen: Flüchtlinge als Lohndrücker

Der dritte ökonomische Aspekt der Wanderungsbewegungen wird die bundesdeutsche Politik künftig intensiv beschäftigen. Den Ton hat am 22. September 2015 die FAZ in einem Kommentar vorgegeben: »Sollen aus Flüchtlingen Arbeitnehmer werden, die einmal die Rente sichern, muss die Regierung ihnen zunächst juristisch den Weg in die Arbeit frei machen ..., wichtig wäre es, den Arbeitsmarkt aufnahmefähiger zu machen, statt ihn mit Mindestlohn, Hürden für Zeitarbeit und Werkverträge oder Arbeitsstättenverordnungen unzugänglicher zu machen. Es ist zur fixen Idee von Schwarz-Rot geworden, dass Arbeit allein nicht genügt, sondern dass es 'gute Arbeit' sein muss.« Seitdem wird in den Medien von rechts dieses Argument hin und her gegurgelt und ist zu einem Beschlußpapier der stärksten Regierungspartei geworden. Der Juniorpartner SPD schwenkt zeternd auf diesen Kurs ein. Am 8. Februar 2016 lobte Hans-Werner Sinn im "Handelsblatt" die SPD-Arbeitsministerin Andrea Nahles dafür, daß sie das Stichwort Ein-Euro-Jobs für Flüchtlinge ins Lob gebracht habe, "denn mit diesen Jobs wird die Grundsicherung faktisch zu einem Lohn für einfache Arbeit." Er vergleicht diesen Vorstoß mit seinem eigenen Vorschlag, "zu einem System mit Lohnzuschüssen und Leistungen für kommunale Arbeit überzugehen" - also einer Art Bundesarbeitsdienst (BAD). Nicht dumpfe Unterschichts-Fremdenfeindlichkeit, sondern mindestens auch die Vorahnung , dass dieser Gedanke die Hauptursache für die offenen Arme der herrschenden Politik gegenüber den überwiegend zwar arbeitslosen, aber gut ausgebildeten Syrern und anderen Flüchtlingen war, bestimmt wenigstens teilweise die Skepsis vieler schlecht verdienender Bundesbürger gegenüber dem, was da an Lohndrücker-Kolonnen auf sie zukommt. Sie haben - wie klar formuliert auch immer - in einem recht: Kapitalismus kennt in seinem Wesen Pflanzen nur als Nutzpflanzen, Tiere nur als Nutztiere und Menschen nur als Nutzmenschen. Die gegenüber Pflanzen überhaupt nicht, bei Tieren nur ganz schwache und bei Menschen nur in Zeiten, wo der Kapitalismus floriert, etwas stärkere Relativierung dieses Nützlichkeitsprinzips, dem alles unterworfen wird, wenn sich aus Geld mehr Geld machen lässt, sollte den Blick auf diesen Wesenskern nicht trüben - in zugespitzten Kriegs- und Krisenzeiten schockiert er sonst den Sehenden. Insofern ist es abermals zynisch, wenn Springer's WELT am 9. Februar 2016 auf ihrer Titelseite scheinheilig fragt, wie es sein könne, "daß bei einem bayerischen Faschingsumzug eine Panzerattrappe mit der Aufschrift 'Asylabwehr' bejubelt wird".[3]

Ein Nebenaspekt ökonomischer Fragen im Zusammenhang mit dem Drama der großen Wanderung betrifft die Finanzierung von Bildungsmaßnahmen. Die für die Integration von Flüchtlingen entstehenden Bildungs- und Ausbildungskosten werden vor allem in den Landeshaushalten anfallen, die sich inzwischen alle der Forderung des Neuverschuldungsverbots - landläufig Schuldenbremse genannt - unterworfen haben. Also wird es spürbare Kürzungen bei Kindergärten, Schulen und Hochschulen geben. Das hat eine gewisse innere Logik: Nicht im selben Umfang wie von 1949 bis 1961, aber doch mit vielen Hoffnungen verbunden sind die Zuflüsse von bereits im Ausland ausgebildeten jungen Arbeitskräften. Also ist es aus bornierten kapitalistische Sicht folgerichtig, die so günstig als politischer Windfall-Profit eingefangenen Bildungsaufwendungen im Inland perspektivisch einzusparen.

Aktuell erscheint ein weiterer wohl dauerhaft drohender Aspekt am Horizont, der bezeichnenderweise in den Stuttgarter Dokumenten von 1907 überhaupt keine Rolle gespielt hat. Dort gibt es Vorschläge zu den Herkunfts- und Zielländern der Wanderungsbewegungen. Inzwischen entwickeln sich aufgrund der Verknotung alter und neuer Widersprüche im aktuellen Kapitalismus Dauertransitländer, in denen tausende und abertausende von Flüchtlingen zwangsinterniert werden, die weder zurück in ihre alte Heimat wollen oder können noch in die - wie illusionsbehaftet auch immer - ersehnten Zielländer gelassen werden. Diese Zielländer, die starken imperialistischen Zentren, zahlen Gelder an die Türkei, Griechenland und demnächst wohl weitere Länder dafür, daß sie ihnen die nicht benötigten Flüchtlinge vom Leibe halten. Die Gesänge der "Freizügigkeit", mit denen die Systemauseinandersetzung von 1949 bis 1989 begleitet war, bekommen unter diesem Aspekt einen neuen höhnischen Nachklang.


Vorsichtige politische Schlußfolgerungen

Beginnen wir auch hier noch einmal mit dem Stuttgarter Sozialistenkongreß. In seinen Betrachtungen über die dort debattierten Fragen kritisierte Lenin die Bemühungen, "zünftlerisch beschränkte Anschauungen zu verfechten, ein Verbot der Einwanderung von Arbeitern aus den rückständigen Ländern (Kulis aus China usw.) durchzubringen. Das ist derselbe Geist des Aristokratismus unter den Proletariern einiger 'zivilisierter' Länder, die aus ihrer privilegierten Lage gewisse Vorteile ziehen und daher geneigt sind, die Forderungen internationaler Klassensolidarität zu vergessen."[4] Es liegt auf der Hand, daß damit die bis in die Partei "Die Linke" (PdL) reichende Forderungen nach Flüchtlingskontingenten und Obergrenzen nicht zu vereinbaren sind.

Die sich vor unseren Augen immer raumgreifender entfaltende Kriegs- und Krisenzeit holt die vom Kapitalismus erzeugten und in ihren negativen Erscheinungen bisher weitgehend außerhalb deutscher Grenzen gebannten Wirkungen »heim ins Reich«. Das gilt für die jetzige Flüchtlingswelle und für die am Horizont sich bereits abzeichnenden Klima-Flüchtlingswellen. Auch sie haben weniger mit einem gottgegebenen Klima als vielmehr damit zu tun, daß der unersättliche Wahn, aus G unentwegt G' machen zu müssen, unvermeidbar immer mehr Naturressourcen in seinen Schlund zieht und genauso unvermeidbar das für Menschen grundlegende Klima-Gleichgewicht der letzten Jahrtausende aus der Balance bringen muß und wird. Die damit zwangsläufig einhergehende Völkerwanderung und ihre angesichts der kapitalistischen Krise auch in den Zielländern dieser Wanderung ebenfalls absehbaren Abwehrreaktionen werden die politischen Verhältnisse solange nach rechts verschieben, wie es nicht gelingt, den Kern dieser Probleme - das kapitalistische Prinzip, Geld und seine Vermehrung zum weltweit alles niederzuwalzenden Selbstzweck zu machen - zum Gegenstand der Debatten zu machen.

Strategisch ist es vielleicht an der Zeit, die Schlußfolgerung aus der Tatsache zu ziehen, daß die lange Serie von Versuchen, durch Erklimmen von Positionen in bürgerlichen Staatsapparaten dem Systembruch näher zu kommen, mit schöner Regelmäßigkeit - wie zuletzt im kurzen Frühling von Syriza - in Abstürzen endet. Die abgeschmackte Fixierung auf Wahlzirkus, Parlamente und Regierungsbeteiligungen sollte zumindest in Frage gestellt und von einer Orientierung auf das Ertrotzen realer alternativer Lebensstrukturen diesseits der Sphäre von Warenproduktion und der sie schützenden Staatsmaschine abgelöst werden. Mindestens erforderlich ist kurzfristig eine Verschiebung des Schwerpunkts politischer Aktivitäten - und zwar nicht erst als Notlösung in sich auflösenden Staatsstrukturen des Südens, sondern auch in den Zentren der kapitalistischen Maschine selbst.

Im übrigen hat auch die an Marx geschulte und orientierte Bewegung hat noch erheblichen theoretischen Diskussionsbedarf. Bislang weicht sie einer Debatte aus, deren einen Pol Hermann Böttcher zum Jahreswechsel so auf den Punkt brachte:

"Zwar wird inzwischen auch im politischen Mainstream ganz selbstverständlich von 'zerfallenden Staaten' gesprochen. Militärische Interventionen beschleunigen den Zusammenbruch, erst recht wenn wie in Syrien regionale und globale staatliche Akteure im Gemetzel um die Zerfallsprodukte mitmischen. Während die militärischen Interventionen in bürgerlichen und linken Kreisen oft unmittelbar für die Prozesse der Auflösung verantwortlich gemacht werden, und ebenso unmittelbar nach Frieden gerufen wird, bleiben die objektiv ablaufenden Krisenprozesse außerhalb des Bewusstseins. Unbegriffen bleibt, dass sie das Ergebnis des einbrechenden "Waren produzierenden Patriarchats" (Roswitha Scholz) sind, das infolge des nicht mehr kompensierbaren Verlusts an Mehrwert schaffender Arbeit nun auch historisch an die Grenze seiner Reproduktionsfähigkeit stößt. Damit geraten auch Staaten, die ja vom Wertschöpfungsprozess abhängig sind, an das Ende ihrer Möglichkeiten. Die Staaten der Peripherie sind die ersten Opfer des kollabierenden kapitalistischen Weltsystems. Sie zerfallen, verschwinden jedoch nicht einfach von der Bildfläche.

Die Zerrüttungen erfahren Menschen, die ihr Leben in den Formen von Warenproduktion und Staat nicht mehr reproduzieren können. In den Leerräumen machen sich Plünderungsökonomien und terroristische Subkulturen breit. Kriegerische Auseinandersetzungen, in denen die Zerfallsprodukte aufeinander einschlagen - Warlords, die sich die Herrschaft über verwertbare Überbleibsel einstiger Strukturen sichern wollen, Terrorbanden und intervenierendes Militär - können nicht von diesem Zusammenhang abgelöst betrachtet werden. Deshalb lässt sich der Schalter auch nicht - halt mit etwas mehr gutem Willen - auf Frieden umlegen. So wird es im Rahmen des erodierenden Weltsystems dabei bleiben, dass auch noch primitive Reste der Subsistenzsicherung zerstört werden. Die Folgen liegen auf der Hand und werden auch in Europa immer sichtbarer: 'Wer noch brachliegende Tatkraft besitzt und nicht zum Aktivisten der Plünderungsökonomie wird, macht sich allein oder mit Kind und Kegel auf in die gelobten Länder und Regionen der globalen Marktwirtschaft.' (Robert Kurz, Weltordnungskrieg, Bad Honnef 2003, S. 157) Dies ist oft nur unter Rückgriff auf sog. Schlepperbanden möglich. Sie sind ihrerseits wiederum Produkte des zerfallenden Weltsystems und zugleich Ziel seiner militärischen Interventionen. Wie die Interventionen in Zusammenbruchsregionen, so zielen auch sie darauf ab, doch noch die Hoheit über den eigenen Zerfall zu gewinnen.

Wenn Staaten sich auflösen, verlieren sie das Gewaltmonopol, mit ihm die Herrschaft über ein Territorium und damit ihre Souveränität. Sie brechen ein, weil ihre Grundlage - der Formzusammenhang von abstrakter Arbeit, (Mehr-) Wert und Abspaltung - einbricht. Der Zusammenbruch staatlicher Souveränität geht einher mit dem 'Ende der modernen Rechtsform', die ebenso gebunden ist 'an das Fetisch-System von abstrakter Arbeit und Verwertung des Werts' (ebenda, S. 324). Der Bruch des Völkerrechts zeigte sich bereits im Zusammenhang des Krieges gegen Rest-Jugoslawien und der darauf folgenden Kriege und Interventionen mit dem Ergebnis, dass sich Krisenpotentaten, Terroristen und staatliche Kriegsverbrecher auf Augenhöhe begegnen."[5]

Das bedeutet nicht, daß das Denken in den gewohnten Kategorien überflüssig geworden ist. Natürlich kämpfen auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung gegenwärtig die USA mit ihren Verbündeten gegen Rußland und die Regierung Syriens um ihr globales Gewaltmonopol, dem sich aus ihrer Sicht alle anderen staatlich und nichtstaatlich organisierten Kräfte unterzuordnen haben. Die alten und neue Widersprüche dieses Systems überlappen sich. Aber das Bestimmende ist zunehmend nicht mehr das Gewohnte. Daran werden wir uns noch zu gewöhnen haben.

Zu gewöhnen haben wir uns auch an die Größe der vor uns liegenden Herausforderung - wenn die oben skizzierten Analysen stimmen. Zuweilen hoffen wir als Marxisten ja auf den eigenen Irrtum. Aber wenn sie zutreffen, dann ist diese große Fluchtbewegung vor allem Ausdruck der sich herausbildenden finalen Krise des Kapitalismus, der einerseits alle nichtkapitalistischen Wirtschaftsstrukturen zerfräst, andererseits aber eben anders als früher nicht mehr in der Lage ist, die von ihm massenhaft freigesetzte Ware Arbeitskraft kapitalistisch noch zu ver-wert-en. Das wäre dann die Grundmelodie der menschlichen Dramen, die sich um das Mittelmeer, in der mexikanischen Wüste und an anderen tektonischen Bruchlinien dieses globalen Kapitalismus entfalten.

Die Debatten, die um die Stellung der Linken zur sogenannten Flüchtlingskrise zur Zeit toben, sind vielfach innerkapitalistische Debatten, also Debatten zwischen Menschenrechts-Fundamentalisten und selbsternannten Realisten, die gemeinsam aber davon ausgehen, daß die Rahmenbedingungen - also weiter Jahrzehnte lang herrschender weltweiter Kapitalismus - am Beginn dieser Krise auch die Rahmenbedingungen an ihrem Ende sein werden. Die hier dargestellten Grundursachen führen zu einer anderen Annahme. Wir wissen, daß die letzte große europäische Flüchtlingswelle von 1945 der Nachklang einer noch größeren historischen Tragödie, der des II. Weltkriegs, war. Der 2015 begonnene große, von Süd nach Nord ziehende Flüchtlingstreck ist das Vorbeben eines noch größeren historischen Dramas, nämlich des Epochenbruchs, der mit der Herausbildung der finalen Krise der "auf dem Tauschwert ruhenden Produktion" (Marx, Grundrisse) beginnt.

Daher verbietet es sich von selbst, auf die jetzt nach Deutschland Fliehenden von oben herab zu sehen - weder in der Variante der heiligen Samariterin noch in der Variante der brandsatzlegenden Dumpfbacke. Sie sind der Spiegel, der uns auf gleicher Augenhöhe gleich in zweifacher Hinsicht vorgehalten wird. Die Gründe, die sie zur Flucht aus ihrer Heimat zwangen, traten ihnen als scheinbare Naturmächte, die sie nicht beeinflussen konnten, gegenüber. Aber anders als Naturereignisse der vorkapitalistischen Zeit entstanden und entstehen sie nicht außerhalb der menschlichen Gesellschaft, sondern in ihr. Da sie aber von ihnen wie von den hiesigen Menschen nicht begriffen werden, handeln sie als bewußt handelnde Wesen nur individuell, nicht gesellschaftlich. Auch ein intelligentes Tier reagiert auf ihn zu Handlungen zwingenden Veränderungen der Rahmenbedingungen seiner Lebensumwelt. Der Schritt von der Tier- in die Menschenwelt und damit aus der Vor- in die eigentliche menschliche Geschichte ist aber erst vollziehbar, wenn bewußtes Handeln sich von der Ebene des Einzelwesens auf die Sozietät dieser Einzelwesen ausdehnt. Das ist weder dort noch hier der Fall. Weil das aber so ist, sind die Flüchtlinge zweitens ein Zeichen an der Wand, ein Menetekel, das uns unsere eigene Zukunft in der sich desintegrierenden kapitalistischen Formation spiegelt: Verzweifelt Fliehende vor Kräften, die sie als Menschen selbst geschaffen haben, aber in ihren Wechselwirkungen hinter ihrem Rücken als scheinbar unbeherrschbare Kräfte einer aus den Fugen geratenen Welt erscheinen.

Manfred Sohn, Rittmarshausen, 6. März 2016


Anmerkungen:

[1] Nicht zu diesem Thema, aber zumindest erwähnt gehört die damit zusammenhängende Wandlung der Kriege von Eroberungs- zu reinen Zerstörungsfeldzügen.

[2] Übersetzung wie auch im folgenden MS - Artikel in Time, January 18, 2016, page 10f

[3] Wer auch nur ein bißchen geschichtsbewandert ist, kann schon vom Bild die Urheber dieses makabren Umzugswagens erahnen: Vorbild für die mit dem Balkenkreuz der faschistischen Wehrmacht verzierten Panzerattrappe ist unverkennbar der von der Wehrmacht am meisten gebaute Panzer IV - und auch die Kennzahl 142 wird wohl kein Zufall sein - die Produktion dieses Typs erreichte 1942 ihren Höhepunkt.

[4] W.I. Lenin, der internationale Sozialistenkongreß in Stuttgart, L'W' 13, S. 71, hier zitiert nach Lothar Elsner, Marx, Engels und Lenin über einige mit der Arbeiterwanderung im Kapitalismus verbundene Probleme, in: Marxistische Blätter 1_2016, S. 56

[5] EXIT, Krise und Kritik der Warengesellschaft, "Handlungsbedarf - offener Brief ... zum Jahreswechsel 2015/16", Online-Abruf vom 3. Februar 2016

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Quelle:
© 2016 by Manfred Sohn
mit freundlichen Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. März 2016

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