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STANDPUNKT/639: Die moralischste Armee (Uri Avnery)


Die moralischste Armee

von Uri Avnery, 18. März 2017


VOR EIN paar Tagen sah ich zufällig einen exzellenten britischen Film: "Das Testament der Jugend", der sich auf die Memoiren der Vera Brittain gründete.

Vera erzählt ihre Geschichte, die Geschichte eines britischen Mädchens, das in einer bürgerlichen Familie ohne Nöte und Sorgen aufwuchs, als der Erste Weltkrieg dem Paradies ein Ende bereitete. Ihr Bruder, ihre Freunde und ihr Verlobter starben einer nach dem anderen im schrecklichen Schlamm Frankreichs. Sie meldete sich als Krankenschwester nahe der Front und hatte es mit Hunderten von Verletzten und Toten zu tun. Das zarte Mädchen vom Lande wurde zu einer abgehärteten Frau.

Die Szene, die mich am meisten rührte, war die, als sie zu einer Baracke voll verwundeter Deutschen kommandiert wurde. Ein deutscher, nicht mehr ganz junger Offizier stirbt. In seinem Delirium sieht er seine Geliebte, fasst Veras Hände und flüstert: "Bist du es Klara?" und Vera antwortet auf Deutsch: "Ich bin hier". Mit einem glücklichen Lächeln auf seinen Lippen stirbt der Deutsche.

Gleich nach dem Krieg fordert die englische Menge einen rachsüchtigen Frieden. Vera geht auf die Bühne und erzählt dieses Erlebnis. Die Menge wird still.


DER FILM brachte mich wieder auf die Affäre mit Elor Azaria, dem Soldaten, der einen schwer Verletzten arabischen Angreifer, der hilflos am Boden lag, tötete. Er ist vom Militärgericht zwar mit scharfen Worten verurteilt worden, bekam aber nur eine lächerlich leichte Gefängnisstrafe von anderthalb Jahren. Sein öffentlichkeits-geiler Anwalt hat Berufung eingelegt.

Einen Verletzten oder einen gefangenen Feind zu töten, ist ein Kriegsverbrechen. Warum?

Für viele Leute ist dies ein Rätsel. Krieg ist der Bereich des Tötens und der Zerstörung. Soldaten werden für das Töten ausgezeichnet. Warum ist das Töten eines verletzten Feindes plötzlich ein Verbrechen? Wie kann man meinen, ein Gesetz sollte im Krieg gelten, wenn doch der Krieg selbst alle Gesetze bricht? Eine Armee, die ihre Soldaten trainiert, zu töten, wie kann die von ihnen fordern, dass sie einem Feind Gnade erweisen?

Seit Anbeginn der Menschheit ist Krieg eine menschliche Angelegenheit gewesen. Es begann beim primitiven Stamm, der seine begrenzten Nahrungsressourcen vor den raubenden Nachbarn verteidigte. Nachbarn zu töten bedeutete einen Zugewinn an Nahrung.

Die Grenzen der Kriegsverwüstung wurden in einem der furchtbarsten Konflikte in der Geschichte - dem 30jährigen Krieg (1618-1648) - festgelegt. Sein Hauptschlachtfeld war Deutschland - ein flaches Land mitten in Europa ohne natürliche wehrhafte Grenzen. Fremde Armeen drangen von allen Seiten ein, um sich untereinander zu bekämpfen. Armeen verwüsteten ganze Städte, töteten, vergewaltigten und plünderten.

Er begann als Religionskrieg, wurde aber ein Krieg um Vorherrschaft und Gewinn.

Millionen starben. Am Ende waren zwei Drittel Deutschlands verwüstet, ein Drittel der deutschen Bevölkerung ausgelöscht. Eines der Ergebnisse war, dass die Deutschen, da sie keine natürlichen Grenzen hatten, die sie hätten verteidigen können, etwa Meere und Gebirge, eine künstliche Grenze schufen: eine starke Armee. Es war der Anfang des deutschen Militarismus, der mit dem Nazi-Wahnsinn seinen Höhepunkt erreichte.


HUMANISTEN, DIE Zeugen der Gräueltaten des Dreißigjährigen Krieges waren, dachten über Wege nach, die Kriegsführung einzuschränken und ein Kernstück des Völkerrechts zu schaffen. Der herausragende Verfechter dieser Idee war der Niederländer Hugo de Groot ("Grotius"). Er legte das Fundament für Kriegsregeln.

Wie kann ein Krieg begrenzt werden? Wie können Waffen "rein" sein, wenn ihr Hauptzweck das Töten und Zerstören ist? Grotius legte dem ein einfaches Prinzip zu Grunde: Zwar kann man nichts tun, um die Mittel und Praktiken einzuschränken, die für das Gewinnen eines Krieges notwendig sind. Keine Armee würde derartige Einschränkungen anerkennen.

Aber im Krieg geschehen Dinge, die nichts mit einem Sieg zu tun haben. Gefangene und Verwundete zu töten, trägt nicht zum Sieg bei. Wenn man ihr Leben schont, ist das für alle Seiten gut. Wenn eine Seite das Leben gefangener Soldaten ihres Feindes schont und der Feind wiederum das Leben der gefangenen Soldaten eben dieser Seite schont, ist das ein Gewinn für beide Seiten.

Die modernen Kriegsgesetze waren also nicht nur moralisch und menschlich, sondern sie waren auch vernünftig. Alle zivilisierten Nationen erkannten sie an. Sie zu brechen, ist ein Verbrechen.

Anfangs wurde das Gesetz, das das Töten Gefangener und Verwundeter verbot, nur auf uniformierte Soldaten angewandt. In der Lebenszeit der letzen Generationen wurde die Trennung zwischen uniformierten Soldaten und kämpfenden Zivilpersonen aber immer schwerer zu vollziehen. Guerillas, Partisanen, Untergrundkämpfer und Terroristen beteiligen sich an Kämpfen, die als Krieg anerkannt werden. Das Völkerrecht wurde auch auf sie ausgedehnt.

(Was ist der Unterschied zwischen einem Terroristen und einem Freiheitskämpfer? Ich bin stolz, dass ich vor langer Zeit die einzige wissenschaftliche Formel entdeckt habe: "Freiheitskämpfer sind auf meiner Seite, Terroristen sind auf der anderen Seite".)

So kommen wir zurück zu Elor Azaria. Einen verwundeten, kampfunfähigen feindlichen "Terroristen" zu töten, ist ganz einfach ein Kriegsverbrechen. Verwundete "Terroristen" müssen medizinisch behandelt werden. Sie sind keine Feinde mehr, sie sind verletzte Menschen. Wie der sterbende Deutsche in dem Film.


SARAH NETANJAHU, die weithin unpopuläre Gattin unseres Ministerpräsidenten, sagte kürzlich in einem Interview: "Ich glaube, dass die israelische Armee die moralischste Armee der Welt ist."

Sie zitierte nur einen israelischen "Glaubensartikel", der endlos in allen israelischen Medien, Schulen und politischen Reden wiederholt wird.

Einige mögen denken, dass eine "moralische Armee" ein Oxymoron ist. Armeen sind von Natur aus unmoralisch. Armeen sind dazu da, Krieg zu führen und der Krieg ist von Grund auf unmoralisch.

Man mag sich fragen, wie der Krieg all die Jahrtausende überlebt hat. Die Menschheit hat einen enormen Fortschritt auf allen Gebieten gemacht, doch der Krieg hat angedauert. Es scheint, dass er zu tief in der menschlichen Natur und der menschlichen Gesellschaft verwurzelt ist.

Wenn zwei Bürger sich streiten, ist es ihnen nicht mehr erlaubt, einander zu töten. Sie müssen vor Gericht gehen und das Urteil akzeptieren, das sich auf ein Gesetz gründet, das alle akzeptieren. Der gesunde Menschenverstand würde sagen, dass dasselbe auch bei Nationen gelten sollte. Wenn zwei Staaten einen Streit haben, sollten sie vor den internationalen Gerichtshof ziehen und dann dessen Urteil friedlich akzeptieren.

Wie weit sind wir von solch einer Realität entfernt? Jahrhunderte? Millionen Jahre? Eine Ewigkeit?

Im 17. Jahrhundert wurde Krieg von Söldnern geführt, die um Gewinn kämpften. Manchmal wechselten Regimenter auf dem Schlachtfeld die Seiten. Soldaten plünderten. Die "Plünderung Magdeburgs" während des 30jährigen Krieges ist bis heute in der deutschen Geschichte lebendig. Es war eine Orgie des Plünderns, Tötens, der Vergewaltigung in jener Stadt westlich von Berlin.

Ein Jahrhundert später wurde Krieg von professionellen nationalen Armeen geführt und er wurde ein wenig zivilisierter. In den Kriegen von Ludwig XIV. und Friedrich dem Großen blieb die zivile Bevölkerung weithin unbehelligt.

Mit der Französischen Revolution kamen die modernen Massenarmeen auf. Allgemeiner Wehrdienst wurde zur Regel, die in Israel und anderen Ländern immer noch in Kraft ist.

Wehrdienst bedeutet, dass fast jeder Seite an Seite dient - der Gute und der Böse, der Normale und der Lasterhafte. Ich habe wohlerzogene Söhne aus "guten Familien" gesehen, die schreckliche Kriegsverbrechen begingen. Als ich sie ein paar Jahre später traf, waren sie gesetzestreue Bürger, stolze Väter von Familien.

Meine eigene Beobachtung war, dass wenn in einer gewöhnlichen Einheit ein paar moralisch gefestigte Soldaten auf einige faule Äpfel treffen und die Mehrheit der Soldaten dazwischen steht, die Chance vorhanden ist, dass die Besseren den Ton angeben.

Doch gibt es auch die Möglichkeit, dass die Besseren sich den anderen angleichen und am Ende ist der ganze Haufen entmenschlicht. Das ist ein gutes Argument für Wehrdienstverweigerer.

(Ich muss zugeben, dass ich bei diesem Problem hin und her gerissen bin. Einerseits würde ich gern moralisch gesunde Männer und Frauen beim Militär haben, dass sie ihren Dienst tun und ihre Einheit beeinflussen. Andererseits bin ich mit denen tief verbunden, die dem Ruf ihres Gewissens folgen und den Preis zahlen.)


WENN ICH einen Soldaten sehe, der einen verletzten Feind kaltblütig erschießt, frage ich mich: Wer sind seine Eltern? In welcher Familie ist er aufgewachsen? Wer sind seine Kommandeure?

Die Hauptschuld muss man den Offizieren geben, vom Kompanieführer aufwärts bis zum Front-Kommandeur. In einer Armee müssen immer die Kommandeure die Hauptverantwortung tragen. Alles hängt von den moralischen Standards ab, die sie Ihren Untergeordneten einschärfen. Denen gebe ich als erstes und vor allem die Schuld.

Direkt zu Beginn dieser Affäre schlug ich für Azaria eine harsche Gefängnisstrafe vor, damit es alle sehen. Dann würde ich ihn begnadigen - aber nur unter der Bedingung, dass er öffentlich sein Verbrechen zugibt und um Vergebung bittet. Bisher hat er sich geweigert, dies zu tun, stattdessen sonnt er sich im Glanz seiner Stellung als Held, die er in manchen Teilen der Bevölkerung innehat. Ebenso seine Eltern, die anscheinend ihre Auftritte in der Öffentlichkeit genießen.



WIE MORALISCH ist also die israelische Armee?

Noch bevor der Staat Israel gegründet wurde, war die Untergrundorganisation (die Hagana), die ihre Basis bildete, stolz auf ihre Moral. "Die Reinheit der hebräischen Waffen" war der Slogan damals wie heute. Das traf damals ebenso wenig wie heute zu, aber es schuf den Glauben an die "moralischste Armee der Welt".

Aber so etwas wie eine moralische Armee gibt es nicht. Leider sind Armeen in dieser Welt nötig. Aber ihre Moral ist immer fragwürdig.

Wenn ich unsere Armee einstufen sollte, würde ich meinen, dass sie moralischer ist als die russische Armee und weniger moralisch ist als - sagen wir mal - die Schweizer Armee.

Die einzige völlig moralische Armee ist die Armee, die keine Kriege führt.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 18.03.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. März 2017

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