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STANDPUNKT/652: Eins, zwei - freut euch! (Uri Avnery)


Eins, zwei - freut euch!

von Uri Avnery, 6. Mai 2017


DER DIESJÄHRIGE Unabhängigkeitstag am letzten Dienstag war keine sehr fröhliche Angelegenheit.

Ich erinnere mich an die ersten Unabhängigkeitstage kurz nach der Gründung des Staates Israel. Damals gab es einen spontanen Jubel, wir waren alle auf den Straßen und haben wirklich gefeiert.

Das ist nun lange her. Der Feiertag in diesem Jahr war gedämpft, ja, sogar traurig. Ältere Personen hatten das Gefühl, "dass dies nicht mehr unser Staat ist", dass "sie" den Staat gestohlen haben. Mit "sie" meint man die Rechten.

Einer der Gründe mag sein, dass es keine wirkliche Einheit mehr gibt. Die israelische Gesellschaft ist in eine Anzahl von Untergesellschaften auseinander gefallen, die immer weniger gemeinsam haben.

Da sind die Aschkenasim (europäischer Herkunft). Die Mizrahim (aus arabischen Ländern und dem Iran, oft irrtümlicherweise auch Sephardim genannt, die "Russen" (aus der früheren Sowjetunion, die ihr eigenes Leben führen), die Haredim (gottesfürchtig, ultraorthodox, keine Zionisten), die National-Religiösen (religiöse Zionisten, darunter die Siedler in den besetzten Gebieten und faschistische Elemente) und natürlich die palästinensisch-arabische Minderheit, die mehr als 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht und die außerhalb von so gut wie allem steht.

In letzter Zeit haben einige der Mizrahim einen fast pathologischen Hass gegen die Aschkenazim entwickelt, von denen sie sich verachtet und diskriminiert fühlen.

Also wurden die üblichen Feierlichkeiten des Unabhängigkeitstages ohne viel Begeisterung und ohne irgendetwas Neues planmäßig abgehalten: Das Feuerwerk, der Flug der Luftwaffe, das Bibel-Quiz, die offiziellen Fackeln von herausragenden Bürgern angezündet (darunter ein Führer der Siedler, der sich dadurch hervortut, dass er Araber aus Jerusalem vertreibt).

Die meisten Zeremonien waren lediglich Gelegenheiten, König Benjamin Netanjahu immer wieder im Fernsehen zu zeigen. Seine Königin Sarah'le bekam auch das Maß an Publicity, das sie einfordert. Weh dem Redakteur, der Sarah'le nicht gibt, was ihr gebührt!

(Was ist ihr Verdienst? Nun, sie heiratete Netanjahu, als sie Stewardess in einer Luftfahrtslinie war und er nur ein junger Diplomat, zweimal geschieden.)


ICH MAG keine offiziell verordneten Feiertage und offizielle Tage des Trauerns.

Als die Nazis in Deutschland an die Macht kamen, war ich neun Jahre alt. Ich hatte den Eindruck, dass fast jeder zweite Tag ein nationaler Feiertag war, an dem man an einen deutschen Sieg in einem vergessenen Krieg erinnerte oder an ein Nazi-Ereignis.

Bei solch einer Gelegenheit wurden alle Jungs (es war nur eine Jungenschule) an meinem Gymnasium in der Aula versammelt, sie hörten patriotische Reden an, hoben den rechten Arm und sangen zwei Hymnen - die Nationalhymne und die Nazi-Hymne.

Dieses Mal war der besondere Anlass die Schlacht von Belgrad im 17. Jahrhundert, in der der österreichische Prinz Eugen die Türken besiegte. Ich war der jüngste und kleinste Schüler in der untersten Klasse und der einzige jüdische Schüler in der Schule. Ich stand stramm, wie jeder, aber hob meinen rechten Arm nicht und sang das Nazi-Lied nicht mit. Ich hatte mächtig Herzklopfen.

Mein Klassenlehrer, ein katholischer Priester, schützte mich. Ein paar Wochen später waren wir auf unserem Weg nach Palästina.

Seit damals mag ich keine offiziell befohlenen Feiern.


WIR IN ISRAEL sind - vielleicht mehr als jede andere Nation der Welt - mit offiziellen Freuden- und Trauertagen gesegnet. Einige davon sind national und einige religiös, ohne dass dies deutlich voneinander zu trennen wäre.

Nach meiner Zählung sind es 15 im jüdischen Jahr, aber ich könnte ein oder zwei vergessen haben. Es sind die folgenden:


Neujahr: ein religiöser Feiertag. Er kam vor langer Zeit in einer landwirtschaftlichen Gesellschaft auf. In Palästina ist der Herbst die Zeit, in der die Natur erwacht, wie in Europa der Frühling.

Yom Kippur: der heiligste Tag im Judentum, an ihm entscheidet Gott endgültig über unser Schicksal im folgenden Jahr.

Sukkot, das Laubhüttenfest, erinnert an die 40 Jahre der Wanderung durch die Wüste nach der Flucht aus Ägypten. In der Wüste gab es keine Häuser.

Shmini Atseret, der achte Tag des Sukkot, als Gott uns die Zehn Gebote gab.

Hanukkah, das Lichterfest, erinnert - an was? Für Nationalisten war es der Sieg der Makkabäer über die "Griechen" (tatsächlich die Syrer). Für die Religiösen ist es ein Wunder: Gott ließ eine Lampe im Tempel acht Tage lang brennen, obwohl kein Öl mehr drin war. Jetzt zünden die Juden täglich während dieser acht Tage Kerzen an.

Der 15. Tag des Monat Shvat - der Geburtstag der Bäume ehrt alle Pflanzen in unserem Land.

Purim - ein lustiger Tag, ähnlich dem Karneval anderswo: Als der Antisemit Haman in Persien im Begriff war, alle Juden zu töten, gelang es der jungen Jüdin Esther, den betrunkenen König Ahasuerus zu heiraten und ihn davon zu überzeugen, das Dekret Hamans zu ändern und den Juden zu erlauben, ihre Feinde zu töten, allen voran Haman und seine Söhne.

Pessach: das Fest erinnert an den Auszug aus Ägypten. Dann ist es den Juden verboten, normales Brot zu essen, und ihnen wird befohlen, Mazze, ungesäuertes Brot, zu essen.

Zweites Pessach: der letzte Tag des Festes. Die Tage dazwischen sind Halb-Feiertage.

Holocaust-Tag, der Tag der Trauer um die Millionen Juden, die von den Nazis durch Vergasen, Erschießen, Verhungernlassen und Krankheit getötet wurden. Praktisch jeder Aschkenasi-Jude hatte Verwandte unter denjenigen, die ums Leben kamen. Da nur wenige Mizrahi unter den Opfern waren, gibt das Anlass zu viel Eifersucht.

Der Erinnerungstag: zur Erinnerung an die Gefallenen in den Kriegen des modernen Israel. Es sind etwa 23.000, aber dieses Jahr wurde die Öffentlichkeit damit überrascht, zu erfahren, dass diese Zahl auch alle Soldaten einschließt, die bei Verkehrsunfällen und durch Krankheiten gestorben sind.

Der Unabhänigkeitstag beginnt unmittelbar nach dem Erinnerungstag.

Lag B'Omer: ein altes Ackerbaufest, das den Sommer ankündigte, aber in der jüdischen Mythologie mit verschiedenen historischen Ereignissen verbunden war, wie zum Beispiel der letzten Rebellion gegen Rom, die dem jüdischen Staat in Palästina ein Ende bescherte. Kinder zünden im ganzen Land Freudenfeuer an.

Shvuot: das Erntefest, auch ein Fest der Torah.

Der 9. des Monats Av: der Tag, an dem der Tempel in Jerusalem zweimal zerstört wurde, zuerst von den Babyloniern und Jahrhunderte später von den Römern. Ein Tag der Trauer.

An den meisten dieser Tage ist fast alles geschlossen. Einige halten sogar noch mehr Tage des Gedenkens an alle möglichen Katastrophen in der Vergangenheit ein.

Was ist der Grund für diese Ausuferung von Freuden- und Trauertagen?

Viele Jahrhunderte waren die Juden eine ethno-religiöse Gemeinschaft ohne territoriale Heimat. Sie waren keine Ausnahme. In der byzantinischen und der osmanischen Zeit waren Gemeinschaften in dieser Art organisiert. Ein jüdisches Mädchen in Antiochien (heute Syrien) konnte einen jüdischen Jungen in Alexandria (Ägypten) heiraten, aber keinen katholischen Jungen von nebenan. Die Gemeinden waren ziemlich autonom.

Solche Gemeinschaften verschwanden vor langer Zeit. Die Leute nahmen neue Formen gesellschaftlicher Organisation an. Aber die Juden hingen an ihren alten Gewohnheiten. All diese Feier- und heiligen Tage waren nötig, um sie zusammenzuhalten. Die Juden in Riga lasen die Pesach-Haggadah am selben Abend und in genau derselben Weise wie die Juden in Kapstadt.

Vor etwa 250 Jahren wurden die Gemeinschaften zu Nationen. Da all diese Nationen zur Norm wurden, wurden die Juden zunehmend "abnormal" und verhasst. Die Gründer des Zionismus entschieden, dass auch Juden eine Nation werden müssen.

Wie aber sollte eine religiöse Gemeinschaft in eine moderne Nation verwandelt werden? All die bedeutenden Rabbiner jener Tage verfluchten den Zionismus und seinen Gründer, den Wiener Journalisten und Stückeschreiber Theodor Herzl. Um diesen Widerstand zu überwinden und die Juden nach Palästina zu locken, übernahm Herzl die religiösen heiligen Tage und gab ihnen einen neuen nationalistischen Inhalt.

So besteht also der israelische Festkalender aus einer Mischung aus Feiertagen der alten Religion und Nationalfeiertagen und vielen, die beides sind.

Zu Beginn des modernen Zionismus mag solch eine Anhäufung heiliger Tage nötig gewesen sein, um die neue Gesellschaft zusammenzuhalten. Aber jetzt?



WAS IST daran so schlecht?

Das Üble daran ist, dass diese Feiertage Anlass zu einer endlosen Fortsetzung von Indoktrinierung geben. Jedes Kind absorbiert die nationale Geschichte fast von Geburt an. Die Eltern sorgen dafür.

Im Kindergarten werden diese Ideen tief in ihren Seelen verankert. In der Schule wird von Fest zu Fest, von Jahr zu Jahr die Indoktrination vertieft. Das Endergebnis ist eine Gemeinschaft, die völlig von sich selbst überzeugt ist: halb-religiös und halb nationalistisch, abgeschnitten von allen anderen Nationen, sodass ihr universelle Werte fehlen.

Ausdrücke wie "die ganze Welt ist gegen uns" oder "sie wollen uns alle zerstören" sind oft zu hören. Die große Mehrheit der Israelis aller Schattierungen glaubt tief in ihrem Herzen daran.

Vielleicht ist es wahr, dass es keinen wirklich säkularen jüdischen Israeli gibt. Nimm ein säkulares Exemplar, grabe in seinem Bewusstsein und man findet die Spuren all dieser heiligen Tage. Nur wenige können dem entfliehen.

Vielleicht ist der Übergang, den wir letzten Montagabend erlebten, besonders symbolisch. Der Tag der Erinnerung an die gefallenen Soldaten ging direkt in den Unabhängigkeitstag über.

Außerordentliche Freude nach außerordentlicher Trauer, die fast miteinander verschmelzen. Ein Meisterstück der Gefühlsmanipulation.

Wenn wir wollen, dass Israel ein normaler Staat wird, dann muss diese Überfülle an heiligen Tagen auf eine normale Anzahl reduziert werden.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 06.05.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2017

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