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STANDPUNKT/962: Ausnahmezustand. Zur Politischen Ökonomie einer Seuche (spw)


spw - Ausgabe 2/2020 - Heft 237
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Ausnahmezustand. Zur Politischen Ökonomie einer Seuche

von Klaus Dörre(1)


Die Welt ist im Ausnahmezustand. Ursache ist Covid-19 - eine Krankheit, für die es noch keine Therapie gibt. Das Virus Sars-CoV-2 wirkt antisozial. Einziger Schutz ist Social Distancing. Hält man Abstand und bleibt zuhause, bedeutet das radikale Entgesellschaftung, ja Entgemeinschaftung menschlichen Lebens. Jede andere Person kann Viren übertragen. Deshalb muss digitalisierte Kommunikation einstweilen ersetzen, was sonst Direktkontakte zwischen Menschen leisten. Steckt in der Corona-Krise dennoch eine Chance? Manch öffentlich geführte Debatte legt das nahe. "Jetzt oder nie: Der Corona-Schock birgt die Chance auf eine bessere Welt", titelt beispielsweise der Spiegel.(2) Er trifft damit den Grundton eines Krisendiskurses, der bis weit ins Lager der politischen Linken reicht. Unterstützung erhält er auch aus den sich als kritisch verstehenden Sozialwissenschaften. "Wir können das Hamsterrad anhalten", verkündet mein Freund und Kollege Hartmut Rosa. Die Krise habe gigantische Bremsen an die Beschleunigungsgesellschaft gelegt. Nicht das Virus, "wir selbst" täten dies, "im Modus politischen Handelns.(3) Dem vereinnahmenden Wir können sich auch linke Politiker nur schwer entziehen. Er habe dem Optimismus des Willens den Vorzug vor dem Pessimismus des Verstandes gegeben, schrieb mir ein links orientiertes Nationalratsmitglied, das der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz angehört. Selbst das Institut der Rosa-Luxemburg-Stiftung möchte ein wenig Hartmut Rosa nicht missen.(4)

Bei so viel Einigkeit und der verständlichen Sehnsucht nach positiven Botschaften in dunklen Zeiten fällt Widerspruch schwer. Ich wage ihn dennoch. Den Optimismus des Willens in Ehren, wäre es doch fahrlässig, ihm die gebotene Skepsis präziser Analyse zu opfern. Kein Zweifel, Debatten über eine bessere Gesellschaft jenseits des Beschleunigungskapitalismus werden dringend benötigt, doch warum bedarf es dazu erst einer Pandemie? Und weshalb sollte ausgerechnet eine Seuche, die Zehntausende tötet, Millionen arm und arbeitslos macht und Milliarden Menschen mit dem Verlust von Grundrechten konfrontiert, den Weg in eine Gesellschaft ebnen, die sich von Wachstums- und Beschleunigungszwängen befreit?

Ich halte solche Visionen eher für das Erzeugnis einer neuen Deutschen Ideologie, für die der Kapitalismus in erster Linie eine Mentalität darstellt. Mentalitäten lassen sich trotz aller Beharrungskraft überwinden, wenn man es nur genügend will. Wer so denkt, kann den Lockdown ernsthaft als "Moratorium" begreifen, das die Menschen unverhofft mit Zeitwohlstand belohnt und uns lehrt, das Dringliche vom Wichtigen zu unterscheiden.(5)

Trotz allem, was an solch idealistischen Einlassungen auch richtig ist, kommt es darauf an, sie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Um es klar zu sagen: Die Pandemie und die von ihr verursachte globale Gesellschaftskrise sind nicht in erster Linie Chance. Die Seuche, so meine These, ist ein externer Schock,(6) der Gesellschaften jedweden Typs hart trifft. Wir kennen dies unter anderem aus den Analysen der Feministin Silvia Federici. Anhand des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus hat Federici gezeigt, wie die schwarze Pest, ein externer Schock von entsetzlichen Ausmaßen, zu Arbeitskräfteknappheit führte und Spielraum für häretische Bewegungen schaffte, die sich vom Joch einer religiös legitimierten Kontrolle des Privatlebens und selbst der Sexualität befreien wollten. Tatsächlich gelang es vorübergehend, größere Freiheiten für Frauen und subalterne Klassen durchzusetzen. Der Gegenschlag folgte prompt. Die Repräsentationen der herrschenden Klassen reagierten mit Gewalt und Repression, ursprüngliche Akkumulation und kapitalistische Klassengesellschaft waren das Resultat.(7)

Man muss Federicis Erzählung nicht in allem folgen. Sicherlich überschätzt sie die Bedeutung, die der Klassenkampf von unten bei der Herausbildung des Kapitalismus spielte. Auch ist klar, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Dennoch trifft zu, was bereits Fernand Braudels Analysen des Übergangs zu neuen sozialen Formationen nahelegten. Der Kapitalismus werde nicht "durch 'endogenen' Zerfall zugrunde gehen", "nur ein äußerer Stoß von extremer Heftigkeit im Verein mit einer glaubwürdigen Alternative" könne "seinen Zusammenbruch bewirken"(8). Ist die Corona-Pandemie ein solcher Stoß? Wir wissen es nicht. Offensichtlich ist jedoch, dass eine glaubwürdige Alternative zum Kapitalismus derzeit nur in vagen Umrissen existiert.(9) Der Gegenschlag herrschender Klassen und Eliten ist hingegen bereits in vollem Gange.

Begünstigt wird dies durch den Verlauf und das Ausmaß der Katastrophe. Noch immer ist das Wissen um die genaue Wirkung des Virus ein sehr begrenztes.(10) Das Virus tötet, es kann aber auch bei jenen, die genesen, bleibende gesundheitliche Schäden verursachen. Allein in der norditalienischen Lombardei, dem europäischen Epizentrum der Seuche, waren bis zum 6. April offiziell 8.656 Menschen an dem Virus gestorben. Vieles deutet darauf hin, dass die wirkliche Todesquote weitaus höher liegt.(11) Das Robert-Koch-Institut kommt angesichts der unzureichenden Datenlage für Deutschland zu ähnlichen Einschätzungen. Doch unabhängig von der Ungewissheit über die Zahl der Toten gilt: Je länger die Pandemie dauert, desto gewaltiger werden sich ihre kulturellen, sozialen und ökonomischen Destruktivkräfte entfalten.

Zweifellos steuert die Weltwirtschaft auf eine tiefe Rezession zu, die laut IWF heftiger ausfallen wird als der globale Crash von 2007-09. Selbst wenn Shut- und Lockdown nur wenige Wochen dauern sollten, muss die Bundesrepublik mit Wachstumseinbrüchen von ca. vier Prozent des BIP rechnen. Ein dreimonatiger Shutdown könnte bis zu einem Minus von 20 Prozent führen, ca. 5,5 Millionen Menschen wären dann in Kurzarbeit. So sähe die Bilanz in einem reichen Land aus, das sich Instrumente wie Langzeitkurzarbeit leisten kann. Wo wohlfahrtsstaatliche Sicherheitsnetze nicht oder nur rudimentär vorhanden sind, werden die Folgen ungleich härter sein. Allein in den USA haben sich binnen eines Monats 26 Millionen Menschen erwerbslos gemeldet. Die Arbeitslosenquote ist - genaue Zahlen liegen noch nicht vor - wahrscheinlich auf über zehn Prozent gestiegen. Informell Tätige und illegal lebende Migranten gehen in solche Statistiken gar nicht ein.

Absehbar ist, dass jene Staaten am besten durch die Krise kommen werden, die über ein robustes Gesundheitssystem und einen halbwegs krisenfesten Wohlfahrtsstaat verfügen. Damit ist auch klar, wer die Krisenfolgen besonders hart zu spüren bekommt - in Europa zweifellos die süd- und südosteuropäischen Gesellschaften, die schon unter der europäischen Austeritätspolitik am stärksten gelitten haben. Die hohen Todesraten bei Corona-Infizierten hängen zumindest in Spanien und Italien zweifellos mit Einsparungen im Gesundheitswesen zusammen, die von der europäischen Austeritätspolitik erzwungen wurden. Auch in Großbritannien ist ein ausgeblutetes Gesundheitssystem für die hohe Mortalitätsrate mitverantwortlich. In diesen Staaten und selbst in den USA ist die Lage aber noch ungleich besser als in den meisten Ländern des globalen Südens, in denen die Pandemie häufig noch als "Krankheit der Reichen" gilt. Das dürfte sich schon bald ändern. Laut ILO sind 81 Prozent (2,7 Milliarden) der Arbeitskräfte, die zur global workforce zählen, vom Lockdown betroffen. Am verwundbarsten sind - wenig überraschend - informell und prekär Beschäftigte sowie die Belegschaften kleiner und mittlerer Unternehmen. In low- und middle-income countries sind Jobverlust oder auch nur die Reduktion von Arbeitszeit gleichbedeutend mit Existenzgefährdung.(12) Besonders verwundbar ist wohl der afrikanische Kontinent. Sollte sich die Pandemie in den 54 afrikanischen Staaten rasch ausbreiten, könnte sie im schlimmsten Fall Millionen Menschen das Leben kosten.(13)

Solche Katastrophenszenarien vor Augen wird klar, weshalb Staaten, die es sich leisten können, alles daransetzen, die wirtschaftlichen Folgen des Shutdown mit Hilfe öffentlicher Finanzmittel zu überbrücken. Vieles, was lange als unumstößliche ökonomische Wahrheit galt, wird nun über Bord geworfen: Schuldenbremse: passé! Schwarze Null in öffentlichen Haushalten: war gestern, Staatsschulden: absolut angesagt! Vorerst jedenfalls. Die US-Regierung investiert mehr als zwei Billionen Dollar, um ihre Wirtschaft zu stabilisieren. Auch Deutschland und die EU legen Rekordprogramme auf. Doch ist dies bereits ein Indiz für einen nachhaltigen wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel? Ein Blick auf die europäische Realität weckt Zweifel. Zwar fragen sich viele, wie es zu bewerten ist, dass die kapitalistische Weltwirtschaft zum zweiten Mal binnen zehn Jahren mit nicht-marktwirtschaftlichen Mitteln gerettet werden muss. Als "schwarzen Schwan" wird man solche Ereignisse künftig sicher nicht mehr abtun können. Dennoch hoffen politische und Wirtschaftseliten in erster Linie auf einen raschen Wachstumsschub nach der Pandemie. Für Deutschland prognostizieren die Wirtschaftsweisen mehr als fünf Prozent Wachstum für 2021.

Ob es dazu kommt, ist völlig ungewiss. Für den Exportweltmeister Deutschland hängt vieles davon ab, wie rasch sich neben China die europäischen Nachbarn erholen. Gerade die europäische Binnenökonomie bietet Anlass zu größter Sorge. Eigentlich müsste die Bundesregierung an raschen Hilfen für die am stärksten gebeutelten Länder der EU hochgradig interessiert sein. Stattdessen blockiert sie im Bündnis mit den Niederlanden Corona-Bonds. Dieses Instrument würde eine gemeinsame Kreditaufnahme der EU-Staaten an den Finanzmärkten als solidarisches Mittel der Krisenbewältigung ermöglichen. Dass sich der italienische Premier Giuseppe Conte in Sachen Corona-Bonds quasi als Bittsteller per TV und in Zeitungs-Interviews an die deutsche Bevölkerung wenden musste, während in der Merkel-Regierung vor allem über das Tragen von Mundschutz diskutiert wurde, ist ein Skandal, der seinesgleichen sucht. Dass weite Teile der deutschen Linken in dieser Sache schweigen, ist deshalb unverzeihlich.(14)

Contes symbolischer Kniefall zeigt exemplarisch, wie die Bewältigung der Seuche im internationalen Staatensystem zum Gegenstand eines Ringens um künftige Vormachtstellungen geworden ist. Chinesische und russische Hilfssendungen für Italien konnten nur deshalb zu einem Propaganda-Coup werden, weil die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten zu Beginn der Pandemie ausschließlich innerhalb des nationalen Containers agierten. Das Versagen gegenüber Italien hat dazu beigetragen, dass China und Russland aus der inneren Zerrissenheit der EU politisches Kapital schlagen konnten. Tatsächlich gleicht die EU-Politik auch auf anderen Feldern einem Trauerspiel. Die Migrationspolitik liefert Anschauungsunterricht. In den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln vegetieren Zehntausende unter hygienisch katastrophalen Bedingungen vor sich hin. Die wenigen unbegleiteten Jugendlichen, die der Zwergstaat Luxemburg und mit Verzögerung auch die Bundesrepublik aufgenommen haben, sind nicht mehr als der berüchtigte Tropfen auf den heißen Stein. Derweil stehen in Deutschland die 2015 geschaffenen Flüchtlingsunterkünfte leer. Der Arbeitsmarkt wird nach der Pandemie in den reichen europäischen Staaten wieder unter Fach- und Arbeitskräfteengpässen leiden. Dies vor Augen, gleicht der Umgang mit den Fluchtmigranten einer moralischen Bankrotterklärung der Europäischen Union.

Die europäische Abschottungspolitik verdankt sich wesentlich der Angst vor der anhaltenden rechtspopulistischen Revolte. Diese Ängste sind nachvollziehbar, politisch aber völlig dysfunktional. Überall dort, wo Rechtspopulisten wie Trump oder Rechtsradikale wie Bolsonaro regieren, versagt das Krisenmanagement. Wegen Trumps zögerlicher Haltung sind die USA zum Weltzentrum der Pandemie geworden. China - wegen intransparenter Informationspolitik auch selbstverschuldet - und die WHO müssen als Sündenböcke herhalten, um vom eigenen Versagen abzulenken. Die Staaten der EU hätten allen Grund, sich glaubhaft von einem derart desaströsen Krisenmanagement abzusetzen. Dazu müssten sie allerdings vor der eigenen Haustüre kehren. Die Lombardei ist Hochburg der "Lega Salvini Premier" - einer rechtsradikalen Organisation, die mit der Privatisierung des Gesundheitssystems und der Verharmlosung von Covid-19 als grippalem Effekt für die hohe Sterberate zumindest mitverantwortlich ist. Als die Pandemie längst ausgebrochen war, drängten führende Lega-Politiker Verantwortliche in Pflege- und Altenheimen, um die wirklichen Todeszahlen zu verschweigen. Wer Mundschutz für das Personal forderte, wurde wegen angeblicher Panikmache mit Entlassung bedroht. Von den 5.060 gemeldeten Intensivbetten stellt der seitens der Lega gehätschelte Privatsektor nicht einmal acht Prozent. Das ist einer der Gründe, weshalb Ärzte entscheiden müssen, welche Notfälle sie nicht behandeln, um die Betroffenen sodann dem sicheren Tod zu überlassen.(15) Das Schicksal der Lombardei zeigt: In Zeiten der Pandemie ist Rechtsradikalismus im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich. Trotz mancher Verschwörungstheorien im Netz und der Konstruktion von Sündenböcken werden viele Menschen das registrieren. Die Seuche könnte daher zu einer schweren Niederlage der radikalen Rechten führen. Dies setzte jedoch voraus, dass es eine offensive politische Auseinandersetzung mit den Rechtspopulisten und Radikalnationalisten gibt. Statt sich, wie die Bundesregierung, aus Angst vor der AfD gegen Corona-Bonds und damit auch gegen eine italienische Regierung zu positionieren, der die Salvini-Rechte vorwirft, vor Deutschland und der EU zu kapitulieren, braucht es eine europäische Allianz für eine progressive Anti-Krisenpolitik. Auf Mittel aus dem in Südeuropa vollständig diskreditierten Europäischen Rettungsschirm (ESM) lässt sich eine solche Allianz nicht gründen.

Käme es zu einem solchen Bündnis, wäre die Corona-Krise aber noch immer nicht in erster Linie eine Chance. Denn es gibt keine Gewähr, dass es bei Covid-19 als "äußerem Stoß" bleibt. Der vorerst etwas in den Hintergrund gedrängte Klimawandel wird möglicherweise eine Reihe externer Schocks auslösen, die ebenfalls ein großangelegtes staatliches Krisenmanagement erfordern. Denkbar ist, dass der Ausnahmezustand allmählich zum Normalfall wird. Dergleichen hatte der Soziologe Ulrich Beck bereits vor Jahrzehnten vorausgesagt. Die Risikogesellschaft sei "eine Katastrophengesellschaft", denn in ihr "drohe der Ausnahme- zum Normalzustand zu werden".(16) Nun gibt die Pandemie Beck in diesem Punkt recht. Die Seuche ist auch ökologisch ein Desaster, genauer: sie bewirkt degrowth by disaster.(17) Wie schon 2009 werden klimaschädliche Emissionen und vielleicht auch der Ressourcenverbrauch sinken. Es könnte sogar sein, dass Deutschland und andere europäische Staaten ihre Klimaziele wegen des Kriseneinbruchs doch noch erreichen. Das hat aber nichts mit jener sozialen und ökologischen Nachhaltigkeitsrevolution gemein, die wir weltweit so dringend benötigen.

Im Gegenteil, die Krise dürfte jene sozialen Disparitäten weiter verstärken, die seit langem eine ökologische Wende blockieren. Während das oberste Einkommensdezil weltweit 49 Prozent der klimaschädlichen Emissionen verursacht, sind die untersten 50 Prozent kumuliert gerade einmal für 10 Prozent verantwortlich.(18) Das wohlhabendste Prozent in den USA, Luxemburg, Singapur und Saudi-Arabien produziert jährlich 200 Tonnen CO2 pro Kopf und damit zweitausendmal mehr als die untersten Einkommensgruppen in Honduras, Ruanda und Malawi (0,1 Tonnen pro Person jährlich). Im mittleren Bereich mit ca. sechs bis sieben Tonnen CO2 bewegen sich u. a. das reichste Prozent der Tansanier, das siebte chinesische, das zweite französische und das dritte deutsche Einkommensdezil. Durchschnittlich ist jede und jeder Deutsche jährlich für 11,5 Tonnen Treibhausgase verantwortlich; der Weltdurchschnitt liegt bei ca. sieben Tonnen, jener der EU bei 8,5 Tonnen.(19)

Solche Daten signalisieren, dass ökologische Großrisiken keineswegs in weltweite, klassenübergreifende "Allbetroffenheit" münden, wie Ulrich Beck fälschlicherweise annahm.(20) Im Gegenteil: Je dringlicher die Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen wird, desto heftiger könnten die gesellschaftlichen Verteilungskämpfe ausfallen, die spätestens nach der Corona-Krise zu führen sind. Schon jetzt mehren sich Stimmen, die dafür plädieren, die Realisierung von Dekarbonisierungszielen weiter in die Zukunft zu verschieben. Dafür haben es Bewegungen wie Fridays for Future gegenwärtig schwer, öffentlich Gehör zu finden.

Staatliche Politik könnte gegensteuern. Die Krise belegt, dass Staaten trotz Globalisierung in der Lage sind, verbindliche Regeln zu setzen. "Wir" sind aber nicht der Staat. Der Staat ist, um es mit dem bekannten marxistischen Denker Nicos Poulantzas zu sagen, ein soziales Verhältnis. Er beruht auf der materiellen Verdichtung von Kräfteverhältnissen zwischen Klassen und Klassenfraktionen, die sich in unterschiedlichen Staatsformen ausdrücken können.(21) Wahrscheinlich müssen wir in Zukunft mit einem Staatsinterventionismus neuen Typs rechnen. Dazu tragen neben der Pandemie auch die langfristigen Herausforderungen bei, die Digitalisierung und Klimawandel mit sich bringen. Gleich ob Reorganisation von Wertschöpfungsketten, Sicherung "systemrelevanter Produktion" oder Schaffung von Infrastruktur für Elektromobilität und Digitalisierung - der Staat wird künftig mitmischen, sonst drohen Niederlagen in der neuen imperialen Rivalität.

Doch selbst wenn der Marktradikalismus ideologisch wie politisch weiter an Bedeutung verlieren sollte - Staatsintervention als solche ist keineswegs immer progressiv. Entscheidend bleibt, ob und in welchem Maße staatliches Handeln an die demokratische Willensbildung rückgebunden bleibt. Demokratie benötigt Gegenöffentlichkeit, Streit, Disput, Versammlungen, Demonstrationen, Streiks. Diese Grundrechte müssen dauerhaft gesichert bleiben - trotz Krisen jeglicher Art. Demokratie verkörpert daher das Gegenteil eines Ausnahmezustands, und Freiheit besitzt stets eine soziale Dimension. Das gilt besonders für unternehmerische Freiheiten. Nur wenn diese Freiheiten künftig strikt an Nachhaltigkeitsziele rückgebunden werden, besteht überhaupt eine Chance, den menschengemachten Klimawandel noch in halbwegs kontrollierbaren Grenzen zu halten. Das heißt konkret: Die Zivilgesellschaften müssen in demokratischer Weise direkt darauf Einfluss nehmen, was wie und zu welchem Zweck produziert und reproduziert wird. Es geht um eine Umverteilung von Entscheidungsmacht zugunsten der gegenwärtig ohnmächtigen Mehrheiten, denn ohne solch tiefgreifende Eingriffe in die bestehende Wirtschaftsordnung wird sich Nachhaltigkeit weder in der ökologischen, noch in der sozialen Dimension realisieren lassen.

Gibt es Anzeichen dafür, dass die politischen Eliten einen solch radikalen Wandel anstreben? Ich gestehe, dass diese Frage eine rhetorische ist. Man schaue nur auf die Akademie Leopoldina, deren Expertise die Kanzlerin vertraut. Die marktwirtschaftliche Ordnung müsse erhalten bleiben, heißt es. Für die Bewältigung des Klimawandels sollen allein marktwirtschaftliche Instrumente wie ein CO2-Preis sorgen. Immerhin, im Gesundheitssektor seien, man höre und staune, dem Wettbewerb Grenzen zu setzen.(22) All das klingt eher nach einem modifizierten Weiter-so als nach radikalem Wandel. Politische Gegenkräfte, die dies ändern könnten, sind vorerst nicht in Sicht. Vom Krisenmanagement profitiert in Wahlumfragen die Union. Die SPD legt zwar leicht zu, dafür hat die Linkspartei, den Schwung, der von Thüringen ausging, offenbar schon wieder verspielt. Radikaler Wandel mit GroKo oder Schwarz-Grün?

Das mag glauben, wer will. Machen wir es deshalb ein paar Nummern kleiner. Wenn schon der Formationswandel ausbleibt - gibt es dann zumindest Chancen für einen politischen Pfadwechsel? Mag sein, doch auch hier ist Realismus angesagt. Aus dem Kontaktverbot und der Beschränkung auf digitale Kommunikation lernen gegenwärtig viele, wie wichtig Sozialkontakte am Arbeitsplatz und in der Privatsphäre sind. Handy, Videokonferenz und Chatroom können solche Kontakte nicht ersetzen. Das gilt für die Arbeitsprozesse insgesamt. Selbst eine schwere, monotone Tätigkeit lässt sich besser ertragen, wenn die Chemie unter den Arbeitenden stimmt. Der Zusammenhalt am Arbeitsplatz fällt in der Corona-Krise weitgehend weg. Allerdings erhalten Busfahrer, Kassiererinnen, Altenpfleger oder Krankenschwestern endlich mehr Anerkennung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.

Arbeitsminister Heil hat immerhin entdeckt, was die Debatte um die Krise sozialer Reproduktion seit Jahren thematisiert. Pflegende, sorgende, erziehende und bildende Tätigkeiten sind ebenso unterbezahlt wie Jobs in der Logistik oder dem Verkehrswesen. Sie werden häufig in prekärer Beschäftigung ausgeübt, als Frauenarbeit abgewertet und sind in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide weit unten platziert. 1.500 Euro Prämie, wie sie der Arbeitsminister auslobt, sind mehr als nichts. Das Versprechen wöge schwerer, wenn in den zuständigen Einrichtungen klar wäre, wovon die Prämie zu bezahlen ist und wer sie bekommen soll. Letztendlich sind 1.500 Euro nur ein wenig Anerkennung für besondere Belastungen. Gesellschaftlich benötigt wird sehr viel mehr - eine Care-Revolution, die als unabdingbarer Bestandteil einer Wende zu Nachhaltigkeit ebenfalls schon lange überfällig ist.(23)

Dergleichen ist derzeit nicht einmal ansatzweise in Sicht. Selbst dafür, dass der Anerkennungszuwachs für Sorgetätigkeiten nach der Pandemie anhält und sich für die Beschäftigten auch materiell niederschlägt, gibt es keine Gewähr. Im Grunde müsste man den Pflegerinnen, Krankenschwestern, Busfahrern, Bäckern, Arzthelferinnen und nicht zuletzt den Landwirten deshalb raten, etwas lebensbedrohliches zu tun. Sie müssten jetzt streiken, denn erst die Krise verhilft ihnen zu maximaler (Gegen-)Macht.(24)

Das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht geschehen, wenngleich in Italien und anderen Ländern - etwa beim Krisengewinner Amazon - auch mit dem Mittel des Arbeitskampfs darum gerungen wird, dass die Folgen der Pandemie nicht primär auf den Schultern derer abgeladen werden, die arbeitsbedingt ohnehin das höchste Risiko zu tragen haben. Die Prämienidee signalisiert aber: Gesellschaften funktionieren am besten mit einer gut ausgebauten sozialen Infrastruktur. Diese Infrastruktur muss zu einem bevorzugt finanzierten öffentlichen Gut werden. Nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa und auf der Welt. Für eine soziale Infrastruktur, die Basisgüter bereitstellt, zu streiten, wäre ein erster kleiner Schritt, um trotz der verheerenden Katastrophe, die Covid-19 für Milliarden von Menschen darstellt, doch noch Weichenstellungen zugunsten einer besseren Gesellschaft vorzunehmen.

Für allzu großen Optimismus gibt es indes keinen Anlass, denn schon bald dürften die wirtschaftlichen Schäden des Lockdowns gegen die Zahl der Pandemie-Toten aufgerechnet werden. "Durchkommen!" wird dann die Devise vieler sein. "Die Alternativlose. Was Merkel zum Krisenprofi macht", heißt es passend dazu auf dem gleichen Spiegel-Titel, der den "Aufbruch" wegen des Corona-Schocks prophezeit. Auch Hartmut Rosa lässt uns wissen, dass es mit der Muße vorbei ist, weil sich sein Terminkalender - nun wegen Covid-19 - bereits wieder füllt. Ein Schuft, wer Böses dabei denkt! Angesichts von so viel Kontinuität halte ich es für grundfalsch, dem Wünschbaren den Rang eines wahrscheinlichen Zukunftsszenarios zu verleihen. Nur Realitätssinn, gepaart mit der Skepsis des Verstandes und der solidarischen Anteilnahme am Schicksal all derer, die in große Not geraten, werden der politischen Linken zu Handlungsfähigkeit in und nach der Krise verhelfen. Ein Verzicht auf das vereinnahmende Wir, das, zumal wenn es um den Staat geht, völlig fehl am Platze ist, wäre dazu ein erster kleiner Schritt.


Anmerkungen

(1) Dr. Klaus Dörre ist Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Mitherausgeber der spw. Für wichtige Anregungen danke ich Peter Reif-Spirek. Der Text ist ein Auszug aus einem Buch-Beitrag, der im Juni 2020 erscheinen wird: Christian Keitel, Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.), Die Corona-Gesellschaft. Analysen der Lage und Perspektiven für die Zukunft. Bielefeld: transcript Verlag. Jacobin Deutschland hat eine gekürzte und teilweise modifizierte Fassung veröffentlicht.

(2) Der Spiegel Nr. 17/18.04.2020.

(3) Rosa, Harmut (2020): "Wir können das Hamsterrad anhalten".
https://www.uni-jena.de/200403_Rosa_Interview.

(4) Einige bedenkenswerte Vorschläge zum Umgang mit der Corona-Krise finden sich in: Ein Gelegenheitsfenster für linke Politik? In: Luxemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis.
https://www.zeitschrift-luxemburg.de/lux/wp-content/uploads/2020/04/rls_lux_mini_corona_final-2.pdf

(5) King, Vera/Rosa, Hartmut (2020): Vom Dringlichen zum Wichtigen. In: Frankfurter Rundschau vom 22. April 2020.

(6) Externer Schock heißt nicht, das sich eine Seuche unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen ausbreitet. Noch ist die Entstehung des Virus nicht vollständig geklärt, doch es scheint ähnlich zu sein wie beim Sterben. An dem ist alles gesellschaftlich bis auf den Tod selbst. An der Ausbreitung und Bewältigung von Covid-19 ist ebenfalls alles gesellschaftlich bis auf das Virus Sars-CoV-2 selbst.

(7) Federici, Silvia (2015) Caliban und die Hexe. Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation. Budapest: Mandelbaum, 3. Aufl.

(8) Braudel, Fernand (1986 [1979]: Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts. Aufbruch zur Weltwirtschaft. München: Kindler Verlag, S. 720.

(9) Schon vor der Pandemie wurde über eine neo- oder ökosozialistische Option wieder diskutiert. Vgl.: Dörre, Klaus/Schickert, Christine (Hrsg.) (2019): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus. München: Oekom. Bezeichnend ist, dass diese Debatte in der Corona-Krise selbst von manchen ihrer Protagonist*innen nicht mehr aufgegriffen wird.

(10) Eines der Grundprobleme der aktuellen Debatte ist, dass die Zahlen ungenau sind. Bei den gezählten Toten ist unklar, ob sie wirklich am Virus gestorben sind. Wird mehr getestet, steigt die Zahl der Infizierten. Umgekehrt heißt das, wo wenig getestet wird, erscheint die Gefahr gering.

(11) ntv (2020): Massensterben in Salvinis Heimat. Warum das Virus die Lombardei so befällt. ntv Politik von Montag, 06.04.2020

(12) ILO Monitor 2nd edition: Covid-19 and the world of work. Updated estimates and analysis. 7 April 2020.
https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/dgreports/dcomm/documents/briefingnote/wcms_740877.pdf

(13) Afrika drohen Millionen Tote, in: Frankfurter Rundschau, 76. Jahrgang, Nr. 82 vom 06.04.2020, S. 7. Während das Verhältnis von Ärzten zu Menschen in Europa durchschnittlich bei 1:300 liegt, kommen in Subsahara-Afrika etwa 5.000 Menschen auf einen Arzt. Nur Südafrika verfügt über ein halbwegs ausgebautes Gesundheitswesen mit 3.000 Intensivbetten. Die Millionen Menschen, die in Elendsquartieren hausen, teilweise an Unterernährung leiden und Social Distancing nicht praktizieren können, haben dem Virus wenig entgegenzusetzten.

(14) Immerhin hat sich der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke klar zugunsten der Corona-Bonds positioniert. Ob der von den EU-Regierungschefs mittlerweile gefundene Kompromiss einen guten Ersatz für Corona-Bonds bietet, wird man erst beurteilen können, wenn die Kompromissformeln inhaltlich gefüllt sind. Das kann noch lange dauern.

(15) Vgl. ntv 2020, a.a.O.; zum italienischen Gesundheitssystem allgemein: Susanne Böhme-Kuby (2020): SOS Italien. In: Ossietzky 7/20, S. 220-223.

(16) Beck, Ulrich (1984): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 105.

(17) Victor, Peter A. (2008): Managing Without Growth - Slower by Design, Not Disaster. Cheltenham: Edward Elgar.

(18) Gallagher, Kevin P./Kozul-Wright, Richard (2019): A New Multilateralism for Shared Prosperity. Geneva Principles for a Global Green New Deal, Geneva, S. 22.

(19) Chancel, Lucas/Piketty, Thomas (2015): Carbon and inequality: From Kyoto to Paris, S. 9, 10.

(20) "Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch", argumentierte Beck. Ders. (1986), S. 48. Diese Formel geht nicht auf und sie ist auch für das Corona Virus ungültig. Bei der Verteilung der Gesundheitsrisiken lässt die Pandemie schon jetzt Klassenunterschiede stärker hervortreten. Sobald das Ringen um die Kosten der Krise einsetzt, wird sich dieser Trend noch verstärken.

(21) Poulantzas, Nicos (1978 [2002]: Der Staat, die Macht und der Sozialismus. Hamburg: VSA

(22) Leopoldina. Nationale Akademie der Wissenschaften (2020): Coronavirus-Pandemie - Die Krise nachhaltig überwinden. 13. April 2020; siehe auch: Dies. (2019): Klimaziele 20230. Wege zu einer nachhaltigen Reduktion der CO-Emissionen.

(23) Winker, Gabriele (2015): Care Revolution. Schritte in eine solidarische Gesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag.

(24) Die Idee verdanke ich Sigrun Matthiesen, die als Redakteurin bei OXI arbeitet.

*

Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2020, Heft 237, Seite 26-32
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2020

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