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STANDPUNKT/1017: "Das Gerede von roten Linien" (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 9. Januar 2023
german-foreign-policy.com

"Das Gerede von roten Linien"

In Berlin werden Forderungen nach der Lieferung von Kampfpanzern und Kampfjets an die Ukraine laut. Westliche Militärs unterstützen deren Pläne, die Krim zurückzuerobern.


BERLIN/KIEW - Nach der Ankündigung der Bundesregierung, der Ukraine Schützenpanzer zu liefern, werden in Berlin weiterreichende Forderungen nach der Lieferung von Kampfpanzern und Kampfflugzeugen laut. Er "wünsche" sich "eine europäische Initiative für die Lieferung von Leopard 2", erklärt der Grünen-Abgeordnete Anton Hofreiter. Vizekanzler Robert Habeck schließt Leopard 2-Lieferungen an Kiew nicht aus. Carlo Masala, Professor an der Münchner Bundeswehr-Universität, spricht sich dafür aus, den ukrainischen Streitkräften auch Kampfjets zur Verfügung zu stellen; diese benötige man für "Gegenoffensiven". Masala und andere plädieren dafür, Russlands rote Linien nicht zu beachten. Zu den Gegenoffensiven, die zur Zeit diskutiert werden, gehört auch der Versuch, die Krim militärisch zurückzuerobern. Ein pensionierter US-General hält das bis August dieses Jahres für möglich. Freilich sei es dazu nötig, dass der Westen noch mehr Waffen an die Ukraine liefere, erklärt ein Ex-Berater des US-Generalstabs. Pläne, die Krim zurückzuerobern, sind in Kiew bereits im März 2021 per Präsidialdekret in Kraft gesetzt worden. Bei einer Realisierung könnten hunderttausende Russen zwangsvertrieben werden.

Vom Marder zum Leopard

Die Ankündigung der Bundesregierung, der Ukraine Schützenpanzer vom Typ Marder zu liefern, wird von Hardlinern unmittelbar mit weiterreichenden Forderungen quittiert. Berlin hatte Kiew in der vergangenen Woche zugesagt, bis Ende März 40 Marder zur Verfügung zu stellen und ukrainische Soldaten an der Waffe auszubilden. Gleichzeitig hatte Washington der Ukraine US-Schützenpanzer vom Typ Bradley versprochen, Paris einen Tag zuvor französische Spähpanzer vom Typ AMX-10 RC.[1] Nun werden Forderungen lauter, auch Kampfpanzer vom Typ Leopard 2 in den Krieg zu schicken. So erklärt etwa die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann: "Wir lassen nicht locker. Nach dem Marder kommt der Leopard. Ich bleibe dran."[2] Der Vorsitzende des Europaausschusses im Bundestag, der Grünen-Politiker Anton Hofreiter, äußert: "Ich würde mir wünschen, dass wir als Hauptherstellungsland für den Leopard 2 eine europäische Initative starten für die Lieferung von Leopard 2".[3] Auch die Vizepräsidentin des Bundestags Katrin Göring-Eckardt (Bündnis 90/Die Grünen) plädiert für die Übergabe von Kampfpanzern: "Stehen zu bleiben, wäre falsch."[4] Vizekanzler Robert Habeck schließt Leopard 2-Lieferungen an Kiew nicht mehr aus.[5]

Vom Panzer zum Kampfjet

Sogar noch weiter reichende Schritte werden inzwischen diskutiert. Bereits Ende Dezember hatte Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, konstatiert, bezüglich der Waffenlieferungen an die Ukraine werde inzwischen "von Schützenpanzern und Kampfflugzeugen geredet, die bisher weitgehend tabu waren".[6] Masala befürwortete dies: "Panzer und Flugzeuge sind die einzige Lösung." Eine Lieferung von Kampfjets hatte bereits Mitte Dezember die Slowakei angekündigt. Nach Mitteilung von Außenminister Rastislav Kácer bereitete sich damals eine ukrainische Delegation auf eine Reise in die Slowakei vor, um gemeinsam mit slowakischen und US-amerikanischen Spezialisten die Übergabe der Flugzeuge vorzubereiten. "Ich bin optimistisch", sagte Kácer, "dass die Flugzeuge bald in der Ukraine erscheinen werden".[7] Masala erklärt jetzt nach der Entscheidung, Schützenpanzer zu liefern: "In zwei Monaten reden wir möglicherweise über Kampfflugzeuge".[8] Noch ein Stück weiter geht der ukrainische Vize-Außenminister Andrij Melnyk, der während seiner Amtszeit als Botschafter in Deutschland mit der Forderung vorgeprescht war, schwere Waffen zu liefern. Melnyk wünscht nun neben Kampfflugzeugen auch "Kampfdrohnen, Kriegsschiffe, U-Boote, ballistische Raketen" - und zwar "schon morgen".[9]

Nötig für "Gegenoffensiven"

Laut Masala sind inzwischen Hemmungen weitgehend gefallen, die bislang die Lieferung schwerer Waffen verhindert hatten - Hemmungen, man könne damit Russlands rote Linien überschreiten und nicht mehr nur verdeckt, sondern auch offen zur Kriegspartei werden. Bereits zuvor hatte etwa Strack-Zimmermann gefordert, die roten Linien zu ignorieren: "Wer von der Sorge fabuliert", es werde mit bestimmten Waffenlieferungen "eine rote Linie gegenüber Russland überschritten", der erzähle "die Geschichte des Aggressors, nicht die der Opfer", behauptete Strack-Zimmermann.[10] Häufig zitiert wird in diesen Tagen ein Beitrag in der New York Times, in dem sich ein Experte des International Institute for Strategic Studies (IISS) aus London offen dafür aussprach, Moskaus rote Linien zu missachten: "Rote Linien sind fast immer weich, veränderlich und bedingt".[11] Masala urteilt nun: "Dieses ganze Gerede von 'Putin eskaliert, wenn wir bestimmte Waffensysteme liefern', ist jetzt endgültig vom Tisch"; dies öffne nun in der Tat "die Tür für andere Waffenlieferungen".[12] Über den Zweck der Lieferung von Kampfpanzern, womöglich auch Kampfjets und mehr äußert Masala, "kriegsentscheidend" sei diese zwar noch nicht; sie erleichtere allerdings "Gegenoffensiven der Ukrainer im Osten und im Süden".

Die Rückeroberung der Krim

Zu den ukrainischen Offensiven, die in jüngster Zeit immer wieder diskutiert werden, zählt eine Offensive zur Rückeroberung der Krim. Sie erhält unter westlichen Militärs zunehmend Unterstützung. So geht Ben Hodges, Ex-Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa, davon aus, die Ukraine werde die Krim bis August dieses Jahres einnehmen können. Dazu müssten zunächst die zwei Versorgungswege für die Halbinsel unbrauchbar gemacht werden - die Krim-Brücke und der Landweg über Mariupol.[13] Damit werde die Krim "unhaltbar", sagt Hodges voraus. Mick Ryan, ein Ex-Generalmajor aus Australien, der in der Vergangenheit unter anderem die U.S. Joint Chiefs of Staff beraten hat, hat Voraussetzungen skizziert, die es der Ukraine ermöglichen sollen, die Krim militärisch unter Kontrolle zu bekommen.[14] Demnach müsse die Ukraine zuerst die Gebiete Cherson und Saporischschja zurückerobern, um sodann die Krim über die schmale Landbrücke anzugreifen. Der Westen wiederum müsse bei seiner Unterstützung für die Ukraine Geschlossenheit wahren und seine Waffenlieferungen aufstocken. Kiew habe eine Liste der benötigten Waffen schon längst zusammengestellt, berichtet Ryan: Es handle sich um "Panzer, panzerbrechende Geschosse, Hubschrauber, Kampfjets". Die Pläne seien da; es gehe nur noch "um politischen Willen".

Zwangsvertreibungen

Die Rückeroberung der Krim hat die ukrainische Regierung bereits rund ein Jahr vor dem russischen Überfall zu planen begonnen. So hat Präsident Wolodymyr Selenskyj am 24. März 2021 eine Strategie per Dekret verbindlich gemacht, die zuvor vom Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrat der Ukraine erarbeitet worden war und die "De-Okkupation und Reintegration" der Krim vorsieht. Dazu seien eine Reihe verschiedenster Maßnahmen auf den Feldern von Politik, Diplomatie und Wirtschaft notwendig, aber auch militärische Schritte, hieß es. Versucht die Ukraine tatsächlich, die Krim auf militärischem Wege zurückzuerobern, dann könnte sie auf diese Pläne zurückgreifen. Im Rahmen der "De-Okkupation" müssten unter anderem, das fordert die Krim-Beauftragte der ukrainischen Regierung, Tamila Taschewa, die 800.000 Russen, die seit 2014 auf die Krim umgezogen seien, zwangsweise vertrieben werden.[15]

[1] Eckart Lohse, Markus Wehner, Michaela Wiegel: Eine neue Dimension der Unterstützung. Frankfurter Allgemeine Zeitung 06.01.2023.

[2] Markus Decker, Jan Emendörfer: Von "hätte früher kommen müssen" bis "Riesenfortschritt": Reaktionen auf die deutschen Waffenlieferungen. rnd.de 05.01.2023.

[3] Hofreiter: Müssen auch Kampfpanzer Leopard 2 liefern. daserste.de 06.01.2023.

[4] Rufe nach Leopard-Panzern für die Ukraine werden nach Marder-Zusage lauter. welt.de 08.01.2023.

[5] Habeck schließt Leopard-Lieferung nicht aus. welt.de 08.01.2023.

[6] "Panzer und Flugzeuge sind die einzige Lösung". Süddeutsche Zeitung 27.12.2022.

[7] MiG-29 für die Ukraine. Frankfurter Allgemeine Zeitung 13.12.2022.

[8] Markus Decker, Jan Emendörfer: Von "hätte früher kommen müssen" bis "Riesenfortschritt": Reaktionen auf die deutschen Waffenlieferungen. rnd.de 05.01.2023.

[9] Can Merey: Melnyk: Ukraine braucht von Verbündeten auch Kampfjets, Kriegsschiffe und U-Boote. rnd.de 06.01.2023.

[10] Sven Christian Schulz: "Putin kennt keine roten Linien". fr.de 08.01.2023.

[11] Nigel Gould-Davies: Putin Has No Red Lines. nytimes.com 01.01.2023.

[12] Markus Decker, Jan Emendörfer: Von "hätte früher kommen müssen" bis "Riesenfortschritt": Reaktionen auf die deutschen Waffenlieferungen. rnd.de 05.01.2023.

[13] When another military offensive might happen in Ukraine, and what it would look like. npr.org 02.01.2023.

[14] Fabian Sommavilla: Sehnsucht nach der Krim: Gelingt 2023 die Rückeroberung? derstandard.at 31.12.2022.

[15] Andrea Jeska: Droht den Krim-Russen die Vertreibung? NZZ am Sonntag 18.12.2022.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 10. Januar 2023

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