Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 4. Juli 2023
german-foreign-policy.com
Die Debatte um Sicherheitsgarantien
Deutsche Denkfabriken dringen auf NATO-Beitritt der Ukraine und Sicherheitsgarantien durch eine europäische Koalition der Willigen. Die Ukraine könne sich nuklear bewaffnen wollen.
BERLIN/KIEW - Die zwei größten deutschen Denkfabriken auf dem Gebiet der Außenpolitik dringen vor dem NATO-Gipfel in Vilnius auf die Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis. Zwar habe US-Präsident Joe Biden dem Schritt zumindest für die nähere Zukunft eine Absage erteilt, heißt es in aktuellen Stellungnahmen aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und aus der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Alternative Sicherheitsgarantien für Kiew seien jedoch entweder nicht ausreichend oder nicht wünschenswert bzw. nicht realistisch. Letzteres gelte für eine "Demilitarisierung Russlands". Nicht wünschenswert sei die Option einer nuklearen Aufrüstung der Ukraine. Unzulänglich seien die aktuellen Pläne, Kiew umfassend konventionell zu bewaffnen, etwa mit dem geplanten Bau einer Panzerfabrik und weiterer Waffenschmieden in der Ukraine durch den Rheinmetall-Konzern. Die DGAP bringt die Bildung einer Koalition der Willigen aus europäischen Staaten ins Gespräch, die sich zu aktivem militärischen Beistand für die Ukraine verpflichten. Dies dürfe aber nur als Übergangslösung bis zu einem formalen ukrainischen NATO-Beitritt gelten.
In einer aktuellen Stellungnahme aus der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) zur derzeitigen Debatte über mögliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine heißt es, jenseits einer formalen NATO-Mitgliedschaft gebe es lediglich zwei Optionen, die Kiew wirklich Sicherheit gewährten. "Die erste" bestehe "in der Demilitarisierung Russlands".[1] Dazu sei "eine Reduzierung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie" des Landes "auf ein Maß" notwendig, das zur Verteidigung genüge, aber "keine Offensivoperationen" erlaube, erklärt die SWP. Ergänzend sei "eine Demilitarisierung der strategischen Kultur" erforderlich. Weil sich diese jedoch "nur über langfristige Sozialisationsprozesse oder externe Schocks" verändern lasse, seien "eine eindeutige Niederlage" der russischen Armee und ein Verzicht der russischen "Führung und Bevölkerung" auf "ihr neoimperiales Rollenverständnis" nötig. "Dafür sind ein Regimewechsel und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der hegemonialen Vergangenheit unumgänglich", heißt es weiter bei der SWP. Absolut "sicher fühlen" könne sich die Ukraine aber selbst in diesem Fall lediglich "bei einer gleichzeitigen Denuklearisierung des russischen Militärpotentials" - und diese Variante, räumt die SWP offen ein, sei "zurzeit unrealistisch".
Die zweite Option, die Kiew verlässlich Sicherheit biete, besteht der SWP zufolge darin, "dass die Ukraine ihr Abschreckungspotential durch eine unilaterale Nuklearisierung stärkt", also "entweder ein Atomwaffenarsenal aufbaut" oder doch zumindest "mittels einer Ankündigung", dies zu tun, "Druck erzeugt". Zwar sei "der Weg zu Atomwaffen ein sehr komplexes und langwieriges Projekt", das "erst langfristig Sicherheitsgewinne brächte und der Reputation der Ukraine schaden würde". Doch bestätige "das Beispiel Südkorea", dass "allein die Drohung damit helfen kann, US-Sicherheitsgarantien zu erhalten". Südkoreas Präsident Yoon Suk-yeol hatte zu Jahresbeginn eine Debatte über eine nukleare Aufrüstung seines Landes ausgelöst; daraufhin hatte US-Präsident Joe Biden erklärt, setze Nordkorea Atomwaffen ein, dann bedeute dies das "Ende" der nordkoreanischen Regierung. Die USA kündigten zudem an, ein nuklear bewaffnetes U-Boot vor die Küste Koreas zu entsenden.[2] Zu einer möglichen nuklearen Aufrüstung der Ukraine heißt es bei der SWP weiter, wenn Kiew "diesen Weg" wähle, nähere es sich "dem israelischen Modell ..., das auf starken Streitkräften, Atomwaffen und bilateralen Abkommen beruht". Eine Atommacht Ukraine sei aber aus Berliner Sicht "nicht wünschenswert", weil sie "die europäische Sicherheitsordnung ... schwer belaste[n]" würde.
Mit Optionen, die unterhalb einer Demilitarisierung Russlands, einer nuklearen Aufrüstung der Ukraine und eines NATO-Beitritts liegen, befasst sich ein Ende vergangener Woche von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) publiziertes Papier.[3] Es analysiert unter anderem eine Variante, die unter dem Stichwort "Igel" im Gespräch ist. Das Wort symbolisiert eine massive Aufrüstung der Ukraine - so umfassend, dass sich jeder künftige Angriff auf sie verbiete. Die Variante wird, nicht zuletzt mit deutscher Hilfe, längst vorbereitet. So hat der deutsche Rheinmetall-Konzern angekündigt, in der Ukraine eine moderne Panzerfabrik und andere Waffenschmieden zu bauen, um dem Land eine mächtige rüstungsindustrielle Basis zu verschaffen (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Eine Gruppe weiterer NATO-Staaten hat Kiew perspektivisch die Lieferung von F-16-Kampfjets in Aussicht gestellt und die Ausbildung ukrainischer Piloten angekündigt. Dazu heißt es jedoch bei der DGAP, all dies genüge nicht, weil es der Ukraine keine garantierte Sicherheit biete. Zwar sei es denkbar, Kiew nicht nur mit Gerät auszustatten, das eine Verteidigung gegen künftige Angriffe gewährleiste, sondern ihm auch die Produktion von Angriffswaffen zu ermöglichen. Das erforderliche Know-how allerdings rückten die westlichen Mächte gewöhnlich nicht heraus.
Die DGAP schlägt deshalb eine weitere Variante vor, für die vor kurzem Tobias Ellwood plädiert hat, der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im britischen Parlament. Demnach soll eine westliche Koalition der Willigen der Ukraine militärische Unterstützung zusichern. Dies soll durch allerlei praktische Maßnahmen untermauert werden - von der Ausbildung ukrainischer Soldaten über gemeinsame Großmanöver auf ukrainischem Territorium bis hin zur Aufstellung einer schlagkräftigen Schnellen Einsatztruppe. Als Kernelement der Koalition der Willigen komme die Joint Expeditionary Force (JEF) in Frage, heißt es - im Anschluss an Ellwood - bei der DGAP. Deren Einrichtung wurde auf dem NATO-Gipfel im September 2014 im britischen Newport beschlossen; an ihr nehmen neben Großbritannien fünf Staaten Nordeuropas (Dänemark, Finnland, Schweden, Norwegen, Island), die baltischen Staaten und die Niederlande teil. Wie es in dem DGAP-Papier heißt, könne die JEF zur Unterstützung der Ukraine um andere Staaten erweitert werden; dafür komme insbesondere Frankreich in Frage, das sich jüngst für den ukrainischen NATO-Beitritt stark gemacht habe.[5] Eine Beteiligung solle auch die Bundesrepublik in Betracht ziehen. Die DGAP schlägt für die Truppe die Bezeichnung Joint European Defence Initiative (JEDI) vor.
Laut dem Urteil der DGAP reicht dies jedoch auf Dauer nicht aus. Die Schaffung der JEDI könne lediglich einen gewissen Zeitraum überbrücken; langfristig sei der NATO-Beitritt der Ukraine unverzichtbar. Letzteren fordert auch die SWP. Zwar sei die Aufnahme der Ukraine in das westliche Militärbündnis "risikovoll und schwierig"; doch sollten bereits auf NATO-Gipfel in Vilnius "praktische Schritte zum Beitritt" in den Blick genommen werden. Um der Forderung Nachdruck zu verleihen, legt die DGAP nahe, Kiew werde sicherlich Konsequenzen aus dem Scheitern des Budapester Memorandums aus dem Jahr 1994 ziehen. In dem Memorandum hatten die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Russland der Ukraine im Gegenzug gegen einen Verzicht auf Atomwaffen Sicherheitsgarantien zugesagt. Garantien, die, wie die damaligen, nicht wirklich verlässlich seien, werde Kiew nicht mehr akzeptieren, sagt die DGAP voraus. Beim Ausbleiben wirksamer Sicherheitsgarantien sei deshalb eine nukleare Aufrüstung der Ukraine nicht mehr auszuschließen.
[1] Zitate hier und im Folgenden aus: Margarete Klein, Claudia Major: Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine. SWP-Aktuell 2023/A 44. Berlin, 29.06.2023.
[2] S. dazu Blockbildung in Ostasien.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9245
[3] Benjamin Tallis: Security Guarantees for Ukraine. dgap.org 30.06.2023.
[4] S. dazu Eine rüstungsindustrielle Basis für die Ukraine.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9242
[5] S. dazu Deutsch-französische Konflikte.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/9277
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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 4. Juli 2023
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