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STREITSCHRIFT/015: Nun auch noch - Kanonenfutter! (Hans Fricke)


Nun auch noch: Kanonenfutter!

Von Hans Fricke, 21. Juli 2009


Was waren die Ostdeutschen nicht schon alles in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten? Verzwergt, bildungsunfähig, verproletarisiert und undankbar. Später waren sie tapfer, anpassungsfähig, leidensfähig und schon etwas dankbarer. Andererseits aber weiterhin harmonie- und kollektivsüchtig, nostalgisch und mit Angewohnheiten ausgestattet, ihre Föten zu verscharren. Wieder ein paar Jahre später waren sie "die Ostdeutschen" und dann in soziologischer Einbildung sogar die Avantgarde für irgendetwas. Seit sie mit den Füßen abstimmen und in den Westen oder auch nach Skandinavien abwandern, gelten sie als flexibel. Dass sie nach fast 20 Jahren im diesjährigen Jubiläumsjahr bei der Entlohnung und auf anderen Gebieten noch immer Bundesbürger "zweiter Klasse" sind, dass ihr Verarmungsrisiko trotz jahrlanger Schönfärberei und Gesundbeterei der Merkel, Tiefensee, Springer, Bertelsmann & Co. nach Angaben des DGB doppelt so hoch ist wie im Westen und sie nun auch beim klaglosen Sterben als Kanonenfutter für die Interessen des deutschen Imperialismus eine Spitzenposition innehaben, stört das von Politik und Medien gezeichnete selbstzufriedene Bild von den Ergebnissen der "friedlichen Revolution" und der "Wiedervereinigung".

Aber auch das hängt irgendwie mit den den Ostdeutschen zugeschriebenen Eigenschaften zusammen, die im "einheitlichen" Deutschland erst so richtig zum Tragen kommen. Der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages Reinhold Robbe (SPD) umschreibt ihre Rolle als Kanonenfutter lieber mit "oftmals etwas flexibler und weniger anspruchsvoll". Sie lassen sich eher ein auf Versetzungen und andere 'unbequeme' Dinge, weil sie in der Bundeswehr oft die einzige Möglichkeit sehen, eine sichere berufliche Zukunft zu haben. Auch der sächsische Bundestagsabgeordnete Peter Hettlich ( Bündnis 90/Die Grünen) führt die führende "Opferrolle" ostdeutscher Soldaten "vor allem darauf zurück, dass ostdeutsche junge Leute sehr viel geringere Lebensperspektiven haben als westdeutsche". Und so ziehen diese nun zwanzig Jahre nach Helmut Kohls und seiner CDU grandiosem Volksbetrug in Ermangelung der versprochenen ostdeutschen "blühenden Landschaften" im Auftrag von Angela Merkel und ihrer CDU durch die voller tödlicher Gefahren blühenden Mohnlandschaften Afghanistans, um Tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt den dort lebenden Menschen westliche Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beizubringen. Peinlich nur, dass immer mehr "undankbare" Afghanen begreifen, dass es den Regierungen der NATO-Staaten in Wahrheit um geostrategische Interessen und um die Profite ihrer Konzerne geht.

Aber so, wie der Bundesverteidigungsminister Jung (CDU) sich entgegen aller Vernunft an dem Wort "Krieg" vorbeizumogeln versucht, weist Reinhold Robbe mit Blick auf das Gelöbnis vor dem Reichstag heuchlerisch auf die besondere Bedeutung der Ostdeutschen bei den Auslandseinsätzen der Bundeswehr hin und versucht wider besseres Wissen, aus deren Not auch noch eine Tugend zu machen. "Wenn ich in die Einsatzgebiete fahre, herrscht dort oft der sächsische Dialekt", zitiert ihn die in Halle erscheinende Mitteldeutsche Zeitung vom 20.7.2009. "Die Soldatinnen und Soldaten aus den neuen Bundesländern sind auch in den Einsätzen überproportionale vertreten und somit überproportional belastet."

Gibt es im Afghanistan-Krieg Verletzte und Tote auf Seiten der Bundeswehr, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um Ostdeutsche handelt. Während der Anteil der Ostdeutschen an der Gesamtbevölkerung knapp 20 Prozent beträgt, stellen ostdeutsche Soldaten gegenwärtig bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr 49,1 Prozent. Bei den niedrigen Mannschaftsdienstgraden liegt die Quote mit 62,4 Prozent sogar noch deutlich höher. Bisher hieß es aus dem Verteidigungsministerium: "Eine Unterscheidung nach der Herkunft der ums Leben gekommenen Soldatinnen und Soldaten ist nicht Bestandteil der Datenerfassung durch die Bundeswehr". Nach einem Artikel in junge Welt hat das Verteidigungsministerium nun erstmals auch die Herkunft der im Afghanistan-Krieg gestorbenen deutschen Soldaten nach Ost und West aufgeschlüsselt. Von den 35 Bundeswehrangehörigen, die seit 2001 in Afghanistan getötet wurden, waren 13 Ostdeutsche - also mehr als 37 Prozent.

Aber die ostdeutsche Pfarrerstochter Angela Merkel hat beim Gelöbnis vor dem Reichstag den Hinterbliebenen wieder einmal mit platten Redensarten Trost gespendet; Redensarten, die ihr die große Mehrheit der Bevölkerung schon lange nicht mehr abnimmt. Während am 20.7. vor dem Reichstag rund 400 Soldaten und am 30.7. weitere 700 Soldaten auf dem Marienplatz in München geloben, Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen, haben die Minister Jung (CSU) und Schäuble (CDU) alle Hände voll zu tun, um diese Militaristenspektakel vor dem Unwillen derjenigen, die sich am Hindukusch partout nicht verteidigen lassen wollen, durch weiträumige Absperrungen von Polizei und Feldjägern der Bundeswehr zu schützen.

Und dass die Demonstranten gegen diese Gelöbnisse und damit gegen den völkerrechtswidrigen Krieg in Afghanistan nicht eine unzufriedene nörgelnde Minderheit vertreten, sondern die Meinung von zwei Dritteln unseres Volkes zum Ausdruck bringen, gegen die eine Bundestagsmehrheit der großen Koalition nun schon seit Jahren regiert, muss selbst der stramme Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages angesichts der mangelnden Kriegsbegeisterung in der deutschen Bevölkerung eingestehen: "Eine ganz andere Frage ist, wie der Soldat in der Bevölkerung anerkannt wird. Da herrscht nicht nur, aber eben auch in den neuen Bundesländern eine stark ablehnende Haltung gegenüber den Auslandseinsätzen."

Noch einmal Ost-West-Truppenschau: Laut Verteidigungsministerium befinden sich zur Zeit 6 391 Soldatinnen und Soldaten "in den Auslandseinsätzen der Bundeswehr" Von diesem sind 3 143 ostdeutscher Herkunft. Dies entspricht einem Anteil von 49,18 Prozent. Zum Vergleich: In der Gesamtbevölkerung machen Ostdeutsche nur 20 Prozent aus (einschließlich Berlin).

Und das Morden und Sterben in Afghanistan geht entsprechend einer Aufforderung Obamas weiter, wobei er sich der gehorsamen Beteiligung Deutschlands an diesem afghanischen Holocaust ebenso sicher sein kann, wie zu Bushs Zeiten. Was die gegenwärtige US-Administration von ihrer Vorgängerin unterscheidet, ist ihr Umgangston. Einem Barack Obama schlägt man schwerer eine Bitte um Unterstützung eines völkerrechtswidrigen Krieges ab als George W. Bush. Das von den Euro-Imperialisten reklamierte Mitspracherecht in Kriegsfragen setzt eine größere europäische Kriegsbereitschaft voraus.

Doch das nützt den NATO-Aggressoren alles nichts, wenn der Widerstandsgeist der Afghanen, an dem bisher noch jede ausländische Macht gescheitert ist, rasant zunimmt. Die fremden Soldaten werden keineswegs als Wohltäter und Aufbauhelfer wahrgenommen, sondern als Peiniger, Mörder und Zerstörer. Und je mehr sich die Bundeswehr an diesen Morden beteiligt, umso mehr wird sie zum Ziel von Vergeltungsaktionen und deren Opfer.

Doch die "Heimatfront" tut das Ihrige, um für den notwendigen Nachschub zu sorgen. Inzwischen heben nicht nur Werbeanzeigen der Bundeswehr die Arbeitsplatzsicherheit, hohes Einkommen usw. hervor, sondern auch die "Agentur für Arbeit". Immer wieder gibt es Veranstaltungen zur Anwerbung von vor allem jugendlichen Arbeitslosen oder Schulabgängern, die gemeinsam vom Arbeitsamt und der Bundeswehr organisiert werden. Speziell auf Frauen ausgerichtet sind "Girls Days", bei denen die Bundeswehr die Möglichkeit hat, Frauen direkt anzusprechen. Sie fanden in den letzten Jahren in zahlreichen Arbeitsagenturen statt.
Im Zusammenhang mit den zunehmenden Auslandseinsätzen der Bundeswehr und dem Versprechen, einen Großteil der Dienstzeit im Ausland zu verbringen - mit 92 Euro am Tag bekommen die Truppen in Afghanistan die höchstmögliche Gefahrenzulage - sind Hinweise, wonach die Einstellung als Soldat auf Zeit auch den Arbeitsmarkt entlaste, mehr als zynisch. Ein Verheizen von Arbeitslosen in Afghanistan und den zahlreichen anderen Ländern, in denen sich die Bundeswehr in Zukunft "engagieren" wird, um dort "Deutschland zu verteidigen" und den Bewohnern dieser Länder "Freiheit und Demokratie zu bringen", entlastet natürlich den besonders in der gegenwärtigen Krise immer angespannter werdenden Arbeitsmarkt - Nachschub wird ständig benötigt.

Der Druck, eine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle zu finden und sei es als Soldat der Bundeswehr wurde mit Hartz IV zum Zwang. Die Verpflichtung von Hartz IV-Empfängern, jede "zumutbare" Arbeit anzunehmen, heißt in diesem Zusammenhang auch, dass es zumutbar ist, Soldat zu werden und "deutsche Interessen", sprich: Interessen deutscher Großkonzerne, mit dem eigenen Leben überall in der Welt "verteidigen" zu müssen.
Auch wenn bisher noch niemand direkt dazu gezwungen werden muss, sich als Soldat zu verpflichten, kann man angesichts der befürchteten sinkenden Bewerberzahlen davon ausgehen, dass dies nicht dauerhaft so bleiben wird. Das Engagement der Agentur für Arbeit legt diese Vermutung nahe.

Die Verpflichtung von Arbeitslosen für die Bundeswehr wurde von Peter Struck (SPD) als Verteidigungsminister bereits angedacht, wenn auch nicht für Auslandseinsätze, so doch als Lernobjekte für Soldaten, die auf Auslandseinsätze vorbereitet werden.
Beim Besuch einer Übung der Bundeswehr in Mecklenburg-Vorpommern, so berichtete die Berliner Zeitung am 29. Juni 2006, kam Struck die Idee, man könne doch anstelle der teuren Soldaten Arbeitslose dazu verpflichten, an den Übungen als Zivilisten oder feindliche Gruppen teilzunehmen. Mit der Kritik, der sich Struck daraufhin ausgesetzt sah, konnte er nichts anfangen und verwies darauf, dass in Bayern die Übungsobjekte von einer Zeitfirma angeheuert werden.

Das Beunruhigende an der jetzigen Situation ist, dass die Arbeitslosen bisher nicht einmal zum Kriegsdienst gezwungen werden müssen. Der ökonomische und soziale Druck ist so hoch, dass sie vermeintlich freiwillig in den Krieg ziehen. Das bedeutet, dass vor allem Menschen aus der sogenannten Unterschicht bei Bundeswehreinsätzen ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren müssen. Dadurch spaltet sich die Gesellschaft immer offensichtlicher auf einem weiteren Gebiet, und zwar in diejenigen, die von Kriegseinsätzen profitieren, das sind Rüstungskonzerne wie zum Beispiel die Diehl-Gruppe, die Howaldtswerke Deutsche Werft AG und andere, die mit milliardenschweren Großaufträgen der Bundeswehr Unsummen verdienen und deshalb mit Hilfe ihrer Lobby Kriegseinsätze initiieren bzw. aufrechterhalten und diejenigen, die im schlimmsten Fall bei solchen Einsätzen sterben oder von ihnen traumatisiert zurückkehren.

Also auch heute wieder das "alte Lied" vom engen Zusammenhang zwischen dem aggressiven deutschen Imperialismus und Militarismus, Eroberungskriegen, an ihnen verdienende Rüstungskonzerne und Millionen Toten, darunter immer mehr zivile Opfer, das schon unsere Väter und Vorväter kannten und viele von ihnen mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit bezahlen mussten, wogegen der Erste Weltkrieg Hindenburg nach seinen Worten "wie eine Badekur" bekam:
- Kaiser Wilhelm II - deutsche Rüstungskonzerne wie Krupp - "Krieg zur Verteidigung des Vaterlandes " - Millionen Tote - Milliarden Profite für die Rüstungskonzerne.
- Adolf Hitler - deutsche Rüstungskonzerne wie Krupp, Siemens & Halske, Junkers, Heinkel - "Kriege zur Verteidigung des Vaterlandes und für Lebensraum" - noch mehr Millionen Tote - und noch mehr Milliarden Profite für die Rüstungskonzerne.
- Adenauer bis Merkel - deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Siemens, Messerschmitt-Bölkow-Blohm, Kraus-Maffei, EADS - seit dem Überfall der NATO auf Jugoslawien unter aktiver deutscher Beteiligung, der deutschen geheimdienstlichen und großzügigen logistischen Unterstützung der Aggression der USA gegen Irak und seit der aktiven Teilnahme am Afghanistan-Krieg unter den Vorwänden "Verteidigung der Menschenrechte", "Kampf gegen den Terrorismus" und " Verteidigung Deutschlands am Hindukusch" - wieder unzählige Tote, vor allem unter der Zivilbevölkerung - wieder Milliarden Profite für die Rüstungskonzerne - und so weiter und so fort.

Statt endlich einzuhalten, die deutschen Soldaten so schnell wie möglich nach Hause zu holen, wie es die Mehrheit unseres Volkes immer nachdrücklicher fordert, schwadronieren Mitglieder der Bundesregierung in unverantwortlicher Weise davon, dass der Afghanistan-Krieg noch weitere zehn Jahre dauern kann. Dabei bedarf es keiner militärstrategischen Kenntnisse, um zu begreifen, dass der Westen auch den Krieg am Hindukusch früher oder später verloren geben muss.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-89793-155-8


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Quelle:
© 2009 Hans Fricke, Rostock
mit freundlicher Genehmigung des Autors
    


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2009