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STREITSCHRIFT/021: SPD in Thüringen - Taktiert, getäuscht, gemogelt (Hans Fricke)


Taktiert, getäuscht, gemogelt

Von Hans Fricke, 3. Oktober 2009


Diese drei Worte kennzeichnen den Wahlbetrug der Thüringer SPD-Führung unter ihrem Vorsitzenden Christoph Matschie. Am 30. August hatten die Menschen in Thüringen den Wechsel gewollt. Ihr Wähler-Votum war klar: Der schwarze Filz und das System Althaus (CDU) müssen weg. Linke, SPD und Grüne wurden dafür mit einer komfortablen Mehrheit ausgestattet. Mehr Demokratie, bessere Bildung, eine bürgernahe Verwaltung und eine ökologische Energiewende waren die gemeinsamen Kernpunkte für echte Reformen.

Mit 27,7 Prozent der Stimmen ist die Linke in Thüringen die mit Abstand stärkste Oppositionspartei, die SPD liegt neun Prozentpunkte darunter. Beide haben große politische Schnittmengen - gemeinsam könnten sie locker eine neue Landesregierung bilden. Auch die Grünen hätten mitgemacht und damit eine breite Basis im Parlament gewährleistet.

Aber da die SPD offenbar von vornherein auf eine Koalition mit der CDU aus war, musste sie immer neue Bedingungen erfinden. Die erste war: Ein Linker darf nicht Ministerpräsident werden. Da der linke Spitzenkandidat Bodo Ramelow selbst keinerlei Angriffsfläche bietet, griff die SPD in die Schmuddelkiste: In der Linkspartei soll es Leute geben, die früher mit der DDR-Sicherheit in Verbindung standen. Ist zwar schon über 20 Jahre her, ihnen kann auch keine persönliche Schuld vorgeworfen werden - macht aber nichts. "Stasi" zieht immer.

Dann war Bodo Ramelow bereit, auf den ihm zustehenden Posten des Ministerpräsidenten zu verzichten, wenn SPD-Landeschef Christoph Matschie seinerseits zurückstehe. Der tat das dann auch und präsentierte Erfurts Oberbürgermeister Andreas Bausewein (SPD) als Kompromiss. Die Linkspartei stimmte zu, die Regierungskoalition hätte stehen können - wenn Matschie sich nicht wenige Stunden später der CDU an den Hals geworfen hätte.

Damit lieferte er ein weiteres Mal den Beweis dafür, dass das Brechen von Wahlversprechen mittlerweile zur politischen Folklore der Sozialdemokraten gehört. Nicht das Interesse und der Wille der Wähler zählen, sondern Macht und lukrative Posten. So finden es Matschie &Co offensichtlich völlig normal, dass, obwohl die SPD mit 19 Prozent der Stimmen weit hinter der CDU mit 31,8 Prozent liegt, jedes Mitglied der vierköpfigen Verhandlungskommission der SPD mit einem Ministerposten bedacht wird und damit die CDU nicht mehr Ministerposten erhält als die SPD. Offenkundiger können Bestechung und Bestechlichkeit im Interesse von Macht und Vorteil wohl kaum sein.

Matschie, ehemals in der DDR Theologe und in der "unabhängigen Friedenbewegung", aus der ab 1989 viele Freunde der NATO und weltweiter "humanitärer Interventionen" hervorgingen, ließ die SPD-Wähler am 1. Oktober wissen, dass ihm sein Geschwätz von gestern die Bohne interessiert und er m i t der CDU "den Politikwechsel" vollziehen will, für den er g e g e n die CDU angetreten war.

Auf der Basis ihres desaströsen Wahlergebnisses will die thüringische SPD nun Juniorpartner in einem schwarz-roten Bündnis sein. Ihr "Erfolg": mehr Ministerposten, als ihr dies in einem Dreierbündnis bei einer stärkeren Linkspartei möglich gewesen wäre. Aber gerade darin liegt der Irrtum der thüringischen SPD-Spitze - die Zahl der Ministerien in einem solchen Bündnis ist unerheblich für die Wahrnehmung und Durchsetzung von sozialdemokratischer Politik.

Verständlich, dass es an der Basis heftig rumort, da sich zahlreiche Ortsvereine und Kreisverbände für ein Zusammengehen mit der Linkspartei ausgesprochen hatten. Die parteiinterne Opposition formiert sich, nicht zuletzt mit Hilfe des früheren SPD-Landesvorsitzenden Richard Dewes, der nichts gegen eine Landesregierung unter Führung der Linkspartei hätte. Sein Urteil über Matschie ist vernichtend: "Politischer Scharlatan."

Die SPD in Thüringen hat ersichtlich nichts gelernt aus den Erfahrungen:
- der schwarz-roten Koalition von 1994 bis 1999 in Thüringen,
- der großen Koalition im Bund, die am 27.September 2009 abgewählt wurde,
- den Niedergang der Berliner Sozialdemokraten in der großen Koalition ab 1990, aus der sich die Berliner SPD 2001 nur durch Rot-Rot befreien konnte und
- aus dem vielsagenden Verharren der sächsischen Sozialdemokraten bei zehn Prozent nach fünf Jahren schwarz-roter Koalition.

Dennoch sollte die Entscheidung in Thüringen nicht losgelöst von den Ereignissen in Berlin gesehen werden, die darauf hindeuten, das auch der Führung der SPD im Bund offenbar nicht zu helfen ist.

Anders als "Weiter so!" kann es wohl kaum verstanden werden, wenn mit Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel zwei ausgemachte Hartz-IV-Politiker den Fraktions- und Parteivorsitz übernehmen sollen. Und was ist davon zu halten, wenn der Wahlvergeiger Steinmeier kurz nach Bekanntgabe des SPD-Waterloo sich selbst kraft eigenen Beschlusses zum Fraktionschef wählt, die Mitglieder der Fraktion letztlich diese dicke Kröte schlucken, seine Eigenmächtigkeit durch ihre überwiegende Zustimmung akzeptieren und Steinmeier schon wieder eifrig im Geheimen mitmischt, wenn die Führungsposten der Partei verteilt werden?

Sollte der harte Vorwurf des Bundestagsabgeordneten Dr. Peter Gauweiler (CSU) an seine "angepassten, unkritischen und uneigenständigen" Fraktionskollegen: "Manchmal haben wir vor Feigheit gestunken", auch für Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion zutreffen?

Es kann doch sicher nicht damit getan sein, dass Andrea Nahles, die zukünftige SPD-Generalsekretärin, als geeignete Vertreterin der SPD-Linken gehandelt wird, obwohl auch sie wie Steinmeier, Gabriel und andere die folgenschwere Politik der SPD mitgetragen, also auch den jetzigen Scherbenhaufen mit zu verantworten hat.

Gegen den langjährigen Finanzsenator der Hauptstadt und jetzigen Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin (SPD) wird wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung ermittelt und Brandenburgs alter und neuer Ministerpräsident Mathias Platzeck (SPD) weist wenige Tage nach der Bundestagswahl den DDR-Behörden postum eine Mitschuld dafür zu, dass der Thälmann-Gedenkstätte in Ziegenhals "nicht der Rang eines nationalen Kulturgutes eingeräumt werden" konnte, und denkt, damit überspielen zu können, dass der Erwerb der Gedenkstätte durch den aus Westdeutschland stammenden Gerd Gröger und der von diesem gerichtlich erstrittene Abriss des historischen Gebäudes den Segen seiner Landesregierung hat. Vor der Wahl galt das Wort seines Vorgängers, Manfred Stolpe (SPD), dass der Ort nicht angetastet wird.

Da aber in Ziegenhals 1933 "nur" Kommunisten versammelt waren und "nur" der auf Hitlers Befehl in Buchenwald ermordete Ernst Thälmann seine letzte Rede hielt, nicht aber bayrische Freiherrn und preußisch-adlige Hitlergegner, kann mit Billigung einer SPD-Landesregierung getrost abgeräumt und abgerissen werden.

Der in der BRD de facto als einziger offiziell anerkannte deutsche Widerstand fand etwas später, zumeist als der von Ernst Thälmann und seiner Partei vorhergesagte Weltkrieg seinem für Deutschland vernichtenden Ende entgegenging, statt. Im Bonner Haus der Geschichte hängen derzeit die Porträts der Kampfgefährten Thälmanns Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht neben dem von Adolf Eichmann im Raum "Diktatur der schönen Bilder".

Der politische Zusammenhang zwischen dieser Ungeheuerlichkeit und dem Geschenk zum "Tag der Einheit": Abriss der Thälmann-Gedenkstätte in Ziegenhals ist nicht zu übersehen.

Der einzige bemerkenswerte Wahlerfolg der SPD in den letzten Jahren, und daran sollte gerade jetzt erinnert werden, wurde bei der Hessenwahl 2008 erzielt. Dieser Wahlsieg hatte zudem das einzige Mal eine Ahnung von Aufbruch und Hoffnung auf eine Politik mit sozialdemokratischer Handschrift aufkommen lassen. Als "Anerkennung" wurde Andrea Ypsilanti aus der eignen Partei torpediert, sabotiert und schließlich demontiert. Die vier neoliberalen Abweichler hatten gewiss nicht aus "Gewissensgründen" gegen sie konspiriert und gehandelt, sondern um eine neue fortschrittliche SPD-Politik auf jeden Fall zu vereiteln, womit sie sich voller Übereinstimmung mit. der vom früheren Generalsekretär der SPD, Ottmar Schreiner, im vorigen Jahr als neoliberale "Clique" in der SPD-Führung bezeichneten Kräften befanden.

Es ist nicht zu übersehen, dass die Kritik der SPD-Basis an diesen Kräften landauf-landab wächst. So erklärte der bekannte langjährige SPD- und Gewerkschaftsfunktionär Veit Wilhelmy aus Wiesbaden in seiner an den Parteivorstand im Berliner Willy-Brand-Haus gerichteten Austrittserklärung vom 17. September 2009 unter anderem:

"Der Bruch mit einer Politik der sozialen Gerechtigkeit wurde zuerst durch Schröder, Bodo Hombach und Wolfgang Clement eingeleitet. Sehr schnell folgten dann Franz Müntefering, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier und andere. Diese Neoliberalen führten und führen einen Richtungskampf in der Partei gegen die Anhänger des Sozialstaatsprinzips - Ziel ist eine andere SPD und eine andere Gesellschaft. Die SPD hat hierdurch das 'S' im Namen momentan genauso wenig verdient wie die CDU das 'C'.

Die SPD war früher die Partei für soziale Gerechtigkeit und Frieden. Heute ist sie eine Partei für Sozialabbau und Krieg. Beispiele gibt es viele: Agenda 2010, Hartz-IV-Gesetze, schärfere Zumutbarkeitsregelungen bei Arbeitslosigkeit, Ein-Euro-Jobs, Rente 67, Gesundheitsreform mit Praxisgebühr und Zuzahlungen, Lebenslüge Irak-Krieg, Afghanistan-Kriegseinsatz usw. usw.

Was die Neoliberalen in der SPD vertreten, das findet das Wahlvolk schon in anderen Parteien - in der Union, in der FDP, teilweise bei den Grünen. Warum sollten die Bürger eine SPD neoliberalen Zuschnitts wählen, wenn sie auch gleich die Originale ankreuzen können? Seit 1988 hat die Partei zehn bis elf Millionen Wähler verloren. In der gleichen Zeit haben Hunderttausende verbittert die Parteimitgliedschaft gekündigt.

Kurz nach der Vereinigung Deutschlands stellte die SPD neun von sechzehn Ministerpräsidenten. Heute sind es nur noch fünf. Der Niedergang der SPD in den Ländern offenbart sich auch dadurch, dass ehemalige Ministerpräsidenten nach Berlin geflohen sind. Die Wahlverlierer Hans Eichel und Reinhard Klimm wurden Minister unter Schröder. Die Wahlverlierer Sigmar Gabriel und Peer Steinbrück dienen als Minister im Kabinett Merkel.

Durchhalteparolen wie 'Jetzt erst recht!' und 'Weiter so!', wie sie nach dem Europadesaster ausgegeben wurden, zeugen eher davon, dass der todkranke Patient nach wie vor mit derselben Medizin kuriert werden soll. Vielleicht sollte man besser eine andere Therapie versuchen. Die Abkehr von der Grundidee der sozialen Gerechtigkeit, dem Markenzeichen der Sozialdemokratie, hat dazu geführt, dass die SPD derzeit weder ein Volkspartei noch eine Arbeitnehmerpartei ist. Zu viele Werte dieser guten, alten Partei wurden missachtet, sinnverändert und verbogen (...)"

Wortlaut der Austrittserklärung siehe unter: www.veit-wilhelmy.de

Auch im Landesverband der SPD Mecklenburg-Vorpommern werden nach der Bundestagswahl die Forderungen nach einer Öffnung der Partei zur Linken immer lauter. Beflügelt durch den Vorstoß von Noch-Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD), bis 2013 ein Linksbündnis im Bund anzustreben, sehnen viele Genossen in Landtagsfraktion und Kreisverbänden eine Neuauflage von Rot-Rot im Land förmlich herbei. "Wir haben gute Erfahrungen mit Rot-Rot-Grün auf Kreisebene gemacht", sagte der Ludwigsluster Landrat Rolf Christiansen, der auch dem SPD-Landesvorstand angehört. Der stellvertretende Vorsitzende des Kreisverbandes Nordwest-Mecklenburg, Stephan Baethke, äußerte sich ähnlich. Es sei ein Kardinalfehler gewesen, sich auf Bundesebene gegen Rot-Rot-Grün zu positionieren. "Die Mitglieder wollen den Schulterschluss mit den Linken", erklärte Baethke, der sich Berlins Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) als neuen Parteichef wünscht.

Das Spitzenpersonal der Landes-SPD blieb dagegen von der Basis-Debatte unberührt und kehrte nach dem Debakel der Bundestagswahl zum Tagesgeschäft zurück. Nur Verkehrsminister Volker Schlotmann hatte das miese Abschneiden seiner Partei offenbar stark zugesetzt. Schlotmann war lange Jahre SPD-Fraktionschef im Schweriner Landtag, auch unter Rot-Rot.. "Ich habe kein Problem mit einer rot-roten Regierung auf Bundes- und Landesebene", sagte er.

Karl Marx meinte seinerzeit, bei bürgerlichen Parlamentariern sei die Frage, ob ihre Talent- oder ihre Gewissenlosigkeit größer sei, mit der sie die Interessen ihrer Wähler zertreten. An dieser Normalkonstellation hat sich nichts geändert. Der Grad an Verkommenheit mag schwanken, allerdings: Je schärfer die Negativauslese desto größer die Arroganz, mit der Krieg und Armutsgesetze durchgepeitscht werden. Die Umstände bringen lediglich bei der SPD an den Tag, was parteiübergreifend beim Führungspersonal Norm ist.

Es bleibt zu hoffen, dass in Auswertung des Wahldesasters die SPD-Führungen in Berlin, Erfurt und anderswo. über die Worte von Marx gründlich nachdenken und daraus Schlussfolgerungen für ihre praktische Politik ziehen. Sie sind es den Menschen in unserem Land schuldig - in den kommenden Jahren mehr denn je.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-89793-155-8


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Quelle:
© 2009 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors
    


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Oktober 2009