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STREITSCHRIFT/031: Dummschwätzer des Tages (Hans Fricke)


Dummschwätzer des Tages

Von Hans Fricke, 1. März 2010


Obwohl der einstige Berliner SPD-Finanzsenator und jetzige Bundesbänker Thilo Sarrazin ebenso wie der freidemokratische Schreihals und jetzige Vizekanzler Guido Westerwelle keine Gelegenheit versäumen, um Hartz-IV-Opfer zu demütigen und zu beleidigen, überraschen sie die Öffentlichkeit in untergeordneten Detailfragen mit Meinungsverschiedenheiten. Wie sueddeutsche.de am 1. März 2010 berichtete, hat Sarrazin die von Westerwelle ausgelöste Sozialstaatsdebatte zum Anlass genommen, um eine seiner berüchtigten, fast schon krankhaften Unverschämtheiten auszuscheiden. Auch wenn er die geltenden Sätze des Arbeitslosengeldes II als ausreichend verteidigt, kann er, der während seiner Berliner Zeit Hartz-IV-Opfern empfahl, sich doch einen dicken Pullover anzuziehen, um Heizkosten zu sparen, es sich als hochbezahltes Vorstandsmitglied der Bundesbank nicht verkneifen, ihnen zu kalten Duschen zu raten, die ohnehin viel gesünder seien: "Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben." Letztlich sei es keine Geldfrage, sondern eine Frage der Mentalität, des Wollens und der Einstellung. Trotz beider Bemühungen, als rücksichtslose Handlanger des Großkapitals, die Armen noch ärmer und die Reichen noch reicher zu machen, bezeichnete Sarrazin das von Westerwelle gezeichnete Bild vom römische Feldherrn Lukullus als "völlig misslungen"und stellte dem neuen deutschen Außenminister ein "intellektuelles Armutszeugnis" aus. Er rede von Lukullus, der sich mit einer Feder am Gaumen kitzeln ließ, um erbrechen und weiteressen zu können. Was, so fragt Sarrazin, habe das mit dem Frühstück eines Hartz-IV-Empfängers zu tun? Offensichtlich sind beide, was die von Westerwelle seit Wochen strapazierte "spätrömische Dekadenz" angeht, lediglich vom realen Leben weit entfernte akademische Dummschwätzer, die sich auf Kosten von Hartz-IV-Opfern zu profilieren versuchen.

Für umso wichtiger und aufschlussreicher sind deshalb die Bemühungen von Peter Ziegert, den gegenwärtigen Diskussionen über Dekadenz bei den Römern näher auf den Grund zu gehen. Dabei sei er, seiner Erklärung zufolge, auf erstaunliche Parallelen zur Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland gestoßen.Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stand das Hauptwerk von Prof. Dr. Gustav Ruhland (1860-1914) "System der politischen Ökonomie" (1903-1908), www.vergessene-buecher.de. Ihn hatte der damalige Reichskanzler Otto von Bismarck beauftragt zu untersuchen, warum die großen Reiche der Griechen, der Römer, Spanien, Portugal und andere untergegangen sind, und warum es immer wieder zur Spaltung der Gesellschaft in arm und reich kam?

Das aus Platzgründen sehr gedrängte Fazit seiner 1903 veröffentlichten Analyse der letzten 3 200 Jahre ergab folgendes:

Das Römische Reich wurde aufgebaut aus einem freien, selbständigen Mittelstand und einem unabhängigen Bauernstand. Es gab kaum soziale Unterschiede und alle hatten ihr Auskommen. Nach und nach bildete sich aber eine reiche Oberschicht aus zirka 2 000 Familien heraus, die selbst nicht mehr arbeiteten, über allen Reichtum Roms verfügten und deshalb in der Lage waren, andere für sich arbeiten zu lassen. Sie kauften sich Posten als Provinzverwalter und beuteten die Provinzen rücksichtslos aus. Die Folge waren wirtschaftlicher Niedergang der Provinzen und Anhäufung von Reichtum bei den Ausbeutern. Der selbständige Mittelstand und die Bauern wurden ihrer Produktionsmittel beraubt, proletarisierten und wanderten als Besitzlose in die Städte ab. Schuldner, die ihre Schulden nicht begleichen konnten, wurden enteignet und in die Sklavereri verkauft. Der wirtschaftliche Niedergang war nicht mehr aufzuhalten. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Felder wurden nicht mehr ausreichend bestellt, sodass die Lebensmittelpreise stiegen und es zu Hungersnöten kam. Die Schuldner wurden von den Gläubigern mit hohen Zinszahlungen belastet, in deren Folge die breite Masse der Bevölkerung verarmte, zu Schuldsklaven wurde, die sich ohne staatliche Unterstützung nicht mehr selbst ernähren konnte.

Schon an dieser Stelle drängen sich Vergleiche mit der heutigen Situation von Millionen Bundesbürgern auf. Diese Vergleiche werden aber noch augenscheinlicher, wenn man erfährt, dass in den Unternehmen der reichen Römer die Arbeit der freien Bürger durch Sklaven ersetzt wurde, ähnlich den heutigen so gut wie rechtlosen Leiharbeitern und den Menschen, die mit staatlicher Billigung gezwungen sind, für Hungerlöhne zu arbeiten. Zu Caesars Zeiten gab es in Rom zirka 320 000 staatliche Kostgänger, die in fataler Weise an heutige Hartz-IV-Opfer erinnern. Die Römer, die ohne eigenes Verschulden, sondern als Folge der damaligen Besitzverhältnisse und der Raffgier der Reichen (Müntefering gab diesen Leuten in der BRD den Namen "Heuschrecken") zu Almosenempfängern degradiert wurden, waren, wenn man so will, die Vorgänger der heutigen Bundesbürger in ähnlicher Lage. Der gesellschaftliche Niedergang äußerte sich besonders auch in Bestechlichkeit der Beamten und Richter (ob es vor 2 000 Jahren in der staatlichen Verwaltung Roms schon Tausende Lobbyisten, Parteispenden in Millionenhöhe und Politiker gab, die sich damit kaufen ließen, geht aus Prof. Ruhlands Untersuchungen nicht hervor), in Eheflucht, Kinderlosigkeit, Rückgang der Bevölkerung und anderen uns heute in der BRD Lebenden gut bekannten Entwicklungen.

In Rom wurden fast nur noch Luxusartikel hergestellt, alles andere musste importiert werden. Die Folge war eine negative Handelsbilanz, die bei einer Edelmetallwährung verheerende Auswirkungern auf die Wirtschaft des Staates hatte. Um diese schlimmen Zustände zu ändern, wurden unter Kaiser Caesar und später auch Augustus die Reichen enteignet. Ihr Vermögen wurde eingezogen und sie selbst teilweise umgebracht. Das konfiszierte Vermögen wurde dazu verwendet, einen neuen Mittelstand und Bauernstand aufzubauen und ihnen die geraubten Produktionsmittel zurückzugeben. Nach kurzer Zeit war die Anzahl der Menschen, die noch staatliche Stütze brauchten, auf 150 000 gesunken.

Getragen vom Mittelstand und der Bauernschaft erlebte Rom einen neuen wirtschaftlichen Aufschwung. Die Wirtschaft war bis auf einen kleinen Rest vorübergehend fast von brutalen Ausbeutungsverhältnissen befreit. Aus diesem Rest heraus kam es wiederum zu Verhältnissen, wie sie vordem waren, was letztendlich zum Zusammenbruch Roms führte.

Mit seinen Untersuchungen fand Prof. Ruhland heraus, dass beim Untergang von Völkern und Kulturen immer der gleiche Zerstörungsmechanismus wirkte. Die Ursache war stets in der Ökonomie zu suchen; eine fundamentale Erkenntnis, die auch der Lehre von Karl Marx und Friedrich Engels zugrunde liegt. Dabei spielten die Zinsen eine entscheidende Rolle. Immer gab es einen untrennbaren Zusammenhang von Zinsen - Vermögensaufbau und -konzentration - Verschuldung und Verarmung der breiten Masse - Zinssklaverei - Dekadenz - "Brot und Spiele" für die Armen und Ausgebeuteten - Müßiggang und Verschwendung bei den Reichen - Gesetze im Interesse dieser Reichen - sozialer Kahlschlag durch die Besitzenden und ihren Staat - soziale Unruhen - Zusammenbruch.

Peter Ziegert empfiehlt deshalb Guido Westerwelle, sich einmal aus einer solchen seriösen Sicht die Geschichte anzuschauen und daraus Schlussfolgerungen für Gegenwart und Zukunft zu ziehen, statt die Schuld für die Niedergangserscheinungen in der BRD bei den Opfern der neoliberalen Politik zu suchen und über einen von ihm aus durchsichtigen politischen Gründen konstruierten angeblichen Zusammenhang zwischen spätrömischer Dekadenz und heutigen Hartz-IV-Opfern zu schwadronieren. Eine Empfehlung, der man sich nur anschließen, und die man allen heute Regierenden und den hinter ihnen die Fäden ziehenden Unternehmerverbänden geben kann.


Hans Fricke ist Autor des im August 2008 im Berliner Verlag am Park erschienenen Buches "Politische Justiz, Sozialabbau, Sicherheitswahn und Krieg", 383 Seiten, Preis 19,90 Euro, ISBN 978-3-897-155-8.


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Quelle:
© 2010 Hans Fricke
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 3. März 2010