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LAIRE/1244: Niebel will private Spenden als staatliche Entwicklungshilfe anrechnen (SB)


Deutschland verfehlt Entwicklungshilfeziel und will sich mit Buchungstricks aus der Affäre ziehen


Die Bundesregierung hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Eigentlich hat sie sich verpflichtet, bis 2015 0,7 Prozent des Bruttoinlandprodukts für Entwicklungshilfe aufzuwenden, und müßte in diesem Jahr bei 0,51 Prozent liegen. Tatsächlich liegt sie bei schätzungsweise 0,4 Prozent. Ein schweres Stück Arbeit, den Rest noch zu schaffen, meinte Bundeskanzlerin Angela Merkel diese Woche auf dem Millenniumsgipfel in New York, um anschließend rasch zu ihren Lieblingsthemen an jenem Tag überzugehen: Anmahnen von a) einem nichtständiger Sitz im UN-Sicherheitsrat für Deutschland in den nächsten zwei Jahren und b) einer besseren Regierungsführung der Empfängerländer von Entwicklungshilfe.

Erfolgsgebundene Entwicklungshilfe lautet das vermeintliche Zauberwort, mit dem die Regierung glasklare Interessenpolitik verfolgt. Sollten sich die armen Länder tatsächlich Deutschland als Vorbild nehmen, dann dürften sich deren Regierungen demnächst verstärkt durch ähnliche Buchungstricks hervortun, wie sie hierzulande kunstvoll angewendet werden. So ist Deutschland als Mitglied der Europäischen Union an der Zusage für Entwicklungshilfe in Höhe von einer Milliarde Euro beteiligt. Das Geld soll dem nicht in Anspruch genommenen Anteil am längst ausgewiesenen EU-Entwicklungshilfebudget entlehnt und darüber hinaus durch Schuldenerlaß ergänzt werden. Die Definition von "zusätzlicher" Entwicklungshilfe wird hier also ziemlich überdehnt verwendet. Schuldenerlaß wie Budgetauslastung bekommt die EU nicht nennenswert zu spüren - die Empfängerländer übrigens auch nicht. Bei 1,4 Milliarden Armen in der Welt, die dringend der Unterstützung bedürfen, bleibt für jeden weniger als ein Euro von dieser beim Millenniumsgipfel zugesagten EU-Hilfe.

Der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel (FDP), der in der Zeit vor seiner Amtsübernahme eine komplette Abschaffung des Entwicklungshilfeministerium vorgeschlagen hatte, zeigte in New York seine Qualitäten als Finanzfuchs und schlug vor, man könne steuerlich anerkannte private Spenden aus Deutschland auf staatliche Entwicklungshilfe anrechnen. [1] Ansonsten sei das 0,7-Prozent-Ziel kaum einzuhalten, wofür er die Finanz- und Wirtschaftskrise verantwortlich machte.

Doch genau umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat im Jahr 2009 zu einem Rückgang des BIP in Deutschland um 5,0 Prozent geführt. [2] Da sich der 0,7-Prozent-Anteil Entwicklungshilfe auf das BIP bezieht, könnte Deutschland seine Zusage im Falle eines unveränderten Entwicklungshilfebudgets theoretisch erreichen, wenn nur das BIP genügend abgesenkt würde. [3] So gesehen kam die Krise Niebels Ministerium gelegen, hatte es doch die Entwicklungshilfe im vergangenen Jahr - im Unterschied zu den meisten anderen Industriestaaten - verringert.

Mit dem 0,7-Prozent-Anteil soll ein gewisser Ausgleich zwischen OECD- und Entwicklungsländern geschaffen werden. Dieser Idee erteilt Niebel faktisch eine Absage, weil sich die Bundesregierung aus der Verantwortung stehlen würde, wenn sie per Buchungstrick ihren Entwicklungshilfeanteil erhöhte. An diesem Beispiel wird deutlich, daß Niebel Entwicklungshilfe nicht als das ansieht, was mit ihr normalerweise unterstellt werden müßte. Aber es deckt sich mit früheren Aussagen des liberalen Ministers und ehemaligen Kampffliegers der Bundeswehr, der eine bessere zivilmilitärische Zusammenarbeit propagiert. Die läuft faktisch auf eine Unterwerfung der Entwicklungshilfe unter das Militärische hinaus und bedeutet, daß sie geostrategischen Interessen dient. Damit soll nicht behauptet werden, daß es jemals anders war, doch seit Niebels Amtsantritt wird Entwicklungshilfe der Bundesrepublik Deutschland unverhohlener denn je als Vehikel ihrer hegemonialen Interessen eingesetzt. Der Millenniumsgipfel hat die ihm zugesprochenen Negativerwartungen auf ganzer Linie erfüllt.


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Anmerkungen:

[1] "Niebel Trickserei vorgeworfen", Frankfurter Rundschau, 21. September 2010
http://www.fr-online.de/politik/niebel-trickserei-vorgeworfen/-/1472596/4665220/-/index.html

[2] "Deutschland erlebte 2009 stärkste Rezession der Nachkriegszeit", destatis, Pressemitteilung Nr. 012, 13. Januar 2010
http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/2010/01/PD10__012__811,templateId=renderPrint.psml

[3] Bereits 1970 hatten die Vereinten Nationen gefordert, daß die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens bzw. Bruttosozialprodukts für öffentliche Entwicklungshilfe ausgeben.
Je nach Quelle wird heute der Prozentsatz auf das Bruttonationaleinkommen oder auf das Bruttoinlandprodukt bezogen. Beide Werte sind nicht identisch, aber sie ähneln sich.

22. September 2010