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LAIRE/1256: Deutschland im Real-Test-Ausnahmezustand (SB)


Feindbild Islam - Behörden schüren Ängste

Mutmaßliche Bombe entpuppte sich als Real-Test-Attrappe mit dem Aufkleber "Test"


Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich derzeit in einer Realtest-Alarmstimmung. So wäre ein Flug von Windhuk nach München beinahe test-gesprengt worden, wenn der üblicherweise von Geheimdiensten verwendete Real-Test-Koffer nicht rechtzeitig entdeckt worden wäre. Wurde er aber, und so ist noch mal alles gutgegangen. Große realtestmäßige Erleichterung. Übrigens befand sich an dem Koffer ein Aufkleber mit dem Wort "Test" ...

Deswegen die helle Aufregung? Und wieso erklärt Bundesinnenminister Thomas de Maizière, daß zu keinem Zeitpunkt Gefahr für die Passagiere bestanden habe? Hätte denn Gefahr von einem Real-Test-Koffer ausgehen können?

Am Mittwoch, einen Tag zuvor, hatte er der Bevölkerung mitgeteilt, daß Deutschland voraussichtlich Ende November von islamistischen Terroristen angegriffen wird, und erklärt: "Es gibt Grund zur Sorge, aber keinen Grund zur Hysterie." Da fragt man sich, was denn ein Grund zur Hysterie sein könnte? Gibt es irgendeine Situation, in dem Sorge als Reaktion auf eine Bedrohung nicht mehr genügt, und Hysterie angesagt ist? Sicherlich nicht. Deshalb schleicht sich schon das Gefühl heran, daß hier gezielt Ängste geschürt und durch die Absage an Hysterie eben selbige herbeigeredet wird oder gar herbeigeredet werden soll.

Dieser Eindruck wird durch den hemmungslosen Denunziationsappell des Berliner SPD-Innensenators Erhart Körting bestätigt, der in der RBB-"Abendschau" sagte: "Wenn wir in der Nachbarschaft irgendetwas wahrnehmen, dass da plötzlich drei etwas seltsam aussehende Menschen eingezogen sind, die sich nie blicken lassen oder ähnlich, und die nur Arabisch oder eine Fremdsprache sprechen, die wir nicht verstehen, dann sollte man, glaube ich, schon mal gucken, dass man die Behörden unterrichtet , was da los ist." (zitiert nach ftd.de, 19.11.2010)

Körting hat seine Aussage später in der "Berliner Morgenpost" ein wenig relativiert, aber die Relativierung ihrerseits wieder relativiert: Seine Aussage sei "möglicherweise unglücklich" machte er einen vermeintlichen Rückzieher. Wollte man den Appell des Senators in ein plakatives Bild fassen, so zeigte dieses wahrscheinlich drei finster dreinblickende, eindeutig als Muselmanen identifizierbare Gestalten, die eng beisammen stehen, miteinander tuscheln und kehlige Laute ausstoßen, während eine blonde Mutter, die mit angsterfülltem Blick, einen Kinderwagen vor sich herschiebend, an den dreien vorübergeht.

Wir werden uns wohl daran gewöhnen, schreibt die "Bild" (19.11.2010) und meint damit nicht etwa reale Anschläge, sondern behördliche Alarm-Meldungen. An diesen beteiligte sich auch der Präsident des Bundespolizeipräsidiums, Matthias Seeger (55), in einem Interview mit BILD.de (19.11.2010). Auf einige der Fragen ging er gar nicht direkt ein, sondern schürte statt dessen Ängste. So wurde er gefragt, "wie groß die Anschlags-Gefahr in Deutschland wirklich" sei. Darauf erwiderte er, "die Terror-Gefahr" sei "ernster als je zuvor". Wohlgemerkt, er wurde nach keiner "Terror"-Gefahr gefragt, sondern sehr viel nüchterner nach einer Anschlags-Gefahr. Außerdem beantwortet es nicht die Frage, wenn er sagt, daß die Gefahr "ernster" als je zuvor sei. Eine zweite Frage, "ist das alles nicht nur Panikmache?", beantwortete er ebenfalls ausweichend: "Panik und Hysterie sind nicht angebracht." Die Frage zielte hingegen auf Panik, die gemacht wird, und nicht, ob sie angebracht ist.

Die deutsche Polizei stehe in den nächsten Wochen "vor der größten Herausforderung in der Nachkriegsgeschichte", schraubte Rainer Wendt, Chef der Deutschen Polizeigewerkschaft, die Erwartungen, daß irgend etwas Böses passieren könnte, hoch. Wohingegen Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU ) mit seinem Fünf-Punkte-Plan zur Terrorbekämpfung die Richtung vorgab, gegen welche marginalisierte Gruppe sich die Angstmache richten sollte. Er forderte unter anderem stärkere Polizeikontrollen in muslimisch geprägten Wohnquartieren und Beschränkungen der Kommunikation (Handy, Internet) für Personen, die sich keinerlei Vergehens schuldig gemacht haben und als "islamistische Gefährder" stigmatisiert werden.

Nun könnte man die Reaktion der Behörden als übertrieben abtun. Dabei mißachtete man jedoch aufs sträflichste die Wirkung und Intention der gegenwärtigen Vorgänge. Passend zur Herbstkonferenz der Innenminister von Bund und Ländern, auf der neue Gesetzesverschärfungen besprochen werden, ist es den Sicherheitsbehörden gelungen, auf breiter Front Ängste zu schüren. Wer einigermaßen über die Tagespolitik informiert ist, wird heute keinen Weihnachtsmarkt mehr besuchen, ohne daran erinnert zu werden, daß "islamistische Terroristen" einen Anschlag verüben könnten. Furcht greift um sich. Am Freitag entdeckten Passagiere im ICE von Kiel nach Basel einen verdächtigen Gegenstand, woraufhin der Zug auf dem Düsseldorfer Hauptbahnhof evakuiert und die Gleise abgesperrt wurden. Die Polizei gab schließlich Entwarnung.

Hatte die Bundesregierung bislang erwogen, im Verlauf der nächsten vier Jahre 1000 Stellen bei der Bundespolizei zu streichen, kündigte FDP-Haushalts- und Innenexperte Florian Toncar in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" an, daß im Jahr 2011 unterm Strich 600 zusätzliche Stellen beim Zoll, dem Bundeskriminalamt, vor allem aber bei der Bundespolizei geschaffen werden sollen.

FDP-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger hatte sich bislang gegen die von vielen Innenministern gewünschte Vorratsdatenspeicherung ausgesprochen. Möglicherweise gibt sie Schritt für Schritt nach. Jedenfalls lehnt sie lediglich eine "pauschale" Vorratsdatenspeicherung ab und teilte laut der "Süddeutschen Zeitung" mit, daß ihr Ministerium eine "anlassbezogene Nutzung von Verbindungsdaten'' mit vorübergehender Verkehrsdatensicherung vorbereite.

Deutschland im Real-Test-Ausnahmezustand. Da fallen die letzten Hemmungen der Feindbildproduktion. Sarrazins Saat ist längst aufgegangen, einschließlich seiner sozialrassistischen Erblehrethesen, zu denen er heute noch steht, auch wenn ein besonders kritisierter Teil aus der vierzehnten Auflage seines Buchs "Deutschland schafft sich ab" gestrichen wurde. Was immer mit "Deutschland" gemeint sein soll, es wandelt sich dieser Tage in einem Ausmaß, wie es die Anschläge am 11. September 2001 nicht bewirkt hatten. Deutschland wird abgeschafft, aber auf andere Weise, als von dem Autor behauptet.

19. November 2010