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LAIRE/1281: Deutschland "vergreist" - alte Menschen werden zunehmend diffamiert (SB)


Berichterstattung über neue Studie der Bertelsmann Stiftung wirft ein Schlaglicht auf unsere altenfeindliche Gesellschaft


"Schleswig-Holstein vergreist", "Wo Deutschland vergreist", "Die Alterspyramide steht kopf", "Hessen sieht bald alt aus" ... so überschreiben Medien ihre Berichte über eine Studie der Bertelsmann Stiftung zum Bevölkerungstrend in Deutschland. Generell wird diese Entwicklung als Bedrohung wahrgenommen und entsprechend kommuniziert. Wenn Hessen bald alt aussieht [1], dann mag der Redakteur oder die Redakteurin dies für ein gelungenes Wortspiel halten, indes gibt es an der Verknüpfung alt = armselig (mit der Implikation "weniger lebenswert") keinen Zweifel.

Mit einer Alterspyramide, die kopf steht [2], kann natürlich etwas nicht stimmen, sollten doch Pyramiden auf einem breiten Fundament stehen. Die Überschrift impliziert somit unausgesprochen einen Mißstand, der behoben werden muß. Damit wird die zunächst harmlos wirkende Analogie "Pyramide" für eine bestimmte diagrammatische Darstellung der nach Altersgruppen und Geschlecht beschriebenen Bundesrepublik zu einer bewertenden Kategorie: Eine Alterspyramide ist normal, steht sie auf dem kopf, wäre sie nicht normal. Der Begriff "Vergreisung" [3 und 4] ist ebenfalls negativ konnotiert - das Greis-Werden greift um sich wie eine Epidemie.

Kann man der Bertelsmann Stiftung noch attestieren, daß sie auf ihrer Website [5] vorwiegend deskriptive Begriffe der Statistik verwendet, die zwar keinesfalls wertfrei sind, aber nicht offen diskriminierend, kommt spätestens mit der medialen Verarbeitung der Angaben eine abschätzige Bewertung der beschriebenen Entwicklung hinein. Daß die Deutschen immer älter und weniger werden, wird als Bedrohung angesehen.

So schreibt Spiegel online in seinem Beitrag zu diesem Thema einleitend: "Es ist eigentlich eine positive Entwicklung: Jeder zweite Mann wird in Deutschland mittlerweile mindestens 80 Jahre alt". Hier unterstreicht doch das Wörtchen "eigentlich", daß im weiteren Verlauf des Artikels das Gegenteil beschrieben wird. Noch krasser treibt es HR online mit der Aussage: "Kleiner Trost: Hessen vergreist mit einem vorhergesagten Anstieg von 56 Prozent der über 80-Jährigen etwas langsamer als Deutschland im Bundesdurchschnitt (59 Prozent)." Bemerkenswert: Daß die Deutschen immer älter werden ist demnach ein Trend, den zur Kenntnis zu nehmen des Trostes bedarf!

Wenn politische Entscheidungsträger einer Gesellschaft mit mehr als 80 Millionen Menschen einige Jahre vorausplanen, um von Bevölkerungsentwicklungen, wie sie hier beschrieben werden, nicht überrascht zu werden, greifen sie auf solche Statistiken zurück. In den letzten Jahren schleicht sich jedoch eine teils offene, teils diffuse, gegen die Alten gerichtete Stimmungsmache ein, die kaum einen Anlaß ungenutzt verstreichen läßt. In diesem Fall bedient man sich der Statistik. Daran wirkt auch die Politik kräftig mit. Die Renten wurden in manchen Jahren gar nicht erhöht, in anderen so gering, daß die Steigerung längst von der Inflation des laufenden Jahres aufgefressen wurde. Das Renteneintrittsalter soll angehoben werden, und wer früher aus dem Berufsleben ausscheidet, erleidet erhebliche finanzielle Minderungen seiner Bezüge.

In einer parallelen gesellschaftlichen Entwicklung, die von keinen anderen Interessen vorangetrieben wird, wird immer häufiger die Debatte um Sterbehilfe angestoßen und auf kleiner Flamme am Köcheln gehalten. Auch wenn es dagegen noch Widerstände gibt, hat sich über den Begriff und das Konzept der Sterbebegleitung ein Schleichweg eröffnet, bei dem durchaus eine "Hilfe beim Sterben" geleistet wird, indem nicht mehr alles getan wird, um ein Leben zu retten. Dabei wird unterstellt, daß es den betroffenen Menschen im Tod besser ergehen wird als im Leben, was jedoch niemand weiß. Es könnte auch der umgekehrte Fall eintreten, was bedeutete, daß die Betroffenen, hätten sie noch einmal die Wahl, sich für das Leben entschieden.

Die Entscheidung eines einzelnen, nicht mehr leben zu wollen, ist eine Sache. Eine andere ist die Institutionalisierung des Ablebens, vor allem, wenn ökonomische Interessen ins Spiel kommen. In Deutschland gibt es keine Sterbehilfe, aber es gibt (in diesem Jahr) 179 stationäre Hospize und 231 Palliativstationen sowie seit 2008 rund 1500 ambulante Einrichtungen, einschließlich der Dienste für Kinder. [6] Dort wird Sterbenden geholfen. Wobei? Bei dem Zweck, weswegen sie diese Einrichtungen aufsuchen. Die nicht zu leugnenden Eigenschaften von Hospizen wie beispielsweise die Vergabe von Schmerzmitteln oder die würdevolle Behandlung der Menschen (was auch immer in den Sterbehäusern unter Würde verstanden wird) erscheinen deshalb als vorteilhaft, weil den Betroffenen in anderen Einrichtungen nicht selten solche Selbstverständlichkeiten verwehrt werden.

Eine Entscheidung für den Tod haben die Betroffenen jedoch in den wenigsten Fällen aus freien Stücken getroffen. Von einem Leben in Lohnarbeit bis ins Mark gezeichnet - als Eigentum der Gesellschaft - sehnt der Sterbenskranke "freiwillig" sein Ableben herbei. Sein "Wunsch" wird ihm gewährt. Suizid ist zwar verboten, aber wenn Alte sterben wollen, wird dies institutionell "arrangiert". Da kneift die Gesellschaft ein Auge zu. Das ist doch auch leicht einzusehen, oder nicht? So ein alter Mensch, der völlig vergreist und dem Publikum jeden Trost raubt ...


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Fußnoten:

[1] "Bevölkerungsentwicklung - Hessen sieht bald alt aus", HR online, 26. Oktober 2011
http://www.hr-online.de/website/rubriken/nachrichten /indexhessen34938.jsp?rubrik=34954&key=standard_document_42979304

[2] "Demografie in Deutschland - Die Alterspyramide steht kopf", stern.de, 26. Oktober 2011
http://www.stern.de/politik/demografie-in-deutschland-die -alterspyramide-steht-kopf-1743740.html

[3] "Demografie-Studie - Wo Deutschland vergreist", Spiegel online, 26. Oktober 2011
http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,793979,00.html

[4] "STUDIE - Schleswig-Holstein vergreist", Welt online, 26. Oktober 2011
http://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/regioline_nt/hamburgschleswigholstein_nt/article13682222/Schleswig-Holstein-vergreist.html

[5] http://www.wegweiser-kommune.de/

[6] Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e.V., Zahlen aus dem Netz abgerufen am 26. Oktober 2011
http://www.dhpv.de/service_zahlen-fakten.html

26. Oktober 2011