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LAIRE/1283: Bahnprojekt Stuttgart 21 - Zerstörung und Neuaufbau wird als "Fortschritt" verkauft (SB)


Grundkurs Demokratie, Teil 1: Wie Minderheiten mundtot gemacht werden

Volksabstimmung zu Stuttgart 21 war von Anfang an eine Farce


Die Volksabstimmung am Sonntag um die Beteiligung des Lands Baden-Württemberg am umstrittenen Bahnprojekt "Stuttgart 21" (S21) hat ein klares Ergebnis gebracht. Eine deutliche Mehrheit sprach sich für Beibehaltung der bestehenden Verträge und damit für die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs und dessen Umbau von einem Kopf- zu einem Durchgangsbahnhof aus. Die Gegner des milliardenschweren Projekts vermochten nicht das Quorum von einem Drittel der Wahlberechtigten zu mobilisieren und landeten bei der Abstimmung bei 41,2 Prozent, die Befürworter hingegen bei 58,8 Prozent. Nun muß der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann eine Politik vertreten, die ihm eigenem Bekunden zufolge nicht schmeckt. Auch der grüne Verkehrsminister Winfried Hermann, der von seiner Rücktrittsankündigung, sollte S21 gebaut werden, eiligst zurückgetreten ist, muß nun das propagieren, was er zuvor abgelehnt hat.

Blickt man zurück in die Geschichte der mit rund 30 Jahren relativ jungen Partei, so entsteht der Eindruck, daß bei den Grünen derartige Verbiegungen vormaliger Werte Tradition haben. Vor nicht mal einem Jahrzehnt war es der grüne Bundesumweltminister Jürgen Trittin, der eine Akw-Bestandsgarantie unterzeichnete und sie als "Atomausstieg" verkaufte. Wenige Jahre zuvor gab die verteidigungspolitische Sprecherin der Grünen Angelika Beer mit einer Träne des Bedauerns im Augenwinkel deutschen Tornados das "Go!" zum vermeintlich unabwendbaren Luftangriff auf Belgrad. Unter grüner Regierungsbeteiligung wurde das Hartz-IV-Verarmungsregime etabliert, der Spitzensteuersatz gesenkt und den Finanzspekulanten Tür und Tor geöffnet. Letztere Punkte übrigens ohne jede Träne. Auf dem Bundesparteitag der Grünen am vergangenen Wochenende in Kiel wurde beschlossen, den Spitzensteuersatz wieder anzuheben.

Wenn also grüne Parteimitglieder in der Vergangenheit zu solchen Verrenkungen fähig waren - einstige Kampfgenossen der auch aus der Friedensbewegung und K-Gruppen hervorgegangenen Grünen sprechen von Verrat -, dürften die beiden grünen Spitzenpolitiker in Stuttgart das hinbekommen mit der Tieferlegung des Bahnhofs - und natürlich der ihrer Partei. Wer so scharf darauf aus ist, mitregieren zu dürfen, wird den Widerspruch seines Standpunkts wegrationalisieren und behaupten, immerhin sei es besser, wenn wir Grüne in der Regierung sitzen als auf den Oppositionsbänken, weil wir dadurch mehr Einfluß auf das Stuttgarter Bauvorhaben nehmen können.

Einmal angenommen, die Verhältnisse in der Bundesrepublik schnürten sich zu, und es würde die Forderung erhoben, die Todesstrafe wieder einzuführen - so wie aktuell bei unserem Nachbarn Polen eine Diskussion darüber angefacht wurde. Weiterhin angenommen, es käme irgendwann zu einer Mehrheit im Volk - würden sich dann die Grünen vehement dagegen wehren, daß in Deutschland wieder Menschen nach Recht und Gesetz umgebracht werden? Oder würden sie die Entscheidung mittragen und ihren Einfluß beispielsweise dahingehend geltend machen, daß die Delinquenten an biologisch abbaubaren Seilen aufgeknüpft, mit bleifreier Munition erschossen oder mit naturnahen Giften totgespritzt werden?

Mit diesem absichtlich sehr drastischen Bild soll verdeutlicht werden, daß, wer gegen S21 ist, nicht plötzlich dafür sein und das Projekt mittragen kann, ohne sich den Ruf einzuhandeln, es sei ein Opportunist und niemals ein entschiedener S21-Gegner gewesen. Da die Montagsdemonstrationen weitergeführt werden sollen und Stimmen aus Kreisen der S21-Gegner zu vernehmen sind, die sagen, daß der Widerstand nicht aufhören wird, dürfte es demnächst dazu kommen, daß eine grüne Landesregierung ein Projekt, das sie ablehnt, mit Polizeigewalt gegen diejenigen durchsetzen müßte, die es ebenfalls ablehnen.

Es ist noch gar nicht ausgemacht, daß die Stimmen gegen S21 verstummen, auch wenn der Volksentscheid eben diese Funktion besaß. Rund 2,1 Mio. Wahlberechtigte waren für die fortgesetzte Beteiligung des Landes an S21, etwa 1,5 Mio. dagegen. Auch die Unterlegenen sind nicht wenige. Und sie haben sich dem Fortschritt nicht verweigert, wie häufig kolportiert, sondern waren sogar zu Kompromissen bereit, indem sie ausgearbeitete Alternativkonzepte vorlegten, bei denen der Kopfbahnhof modernisiert, die Taktrate der Zugverbindungen sinnfällig verbessert und weitere verkehrstechnische Maßnahmen verwirklicht worden wären.

Der Widerstand gegen S21 wird schon deshalb nicht enden, weil Teile der Bewegung einen umfassenderen politischen Ansatz verfolgen. Es geht ihnen nicht allein um eine Kritik an der Verschwendung von Steuergeldern oder an der Generierung einer urbanen Zone mit frischen Anlagemöglichkeiten fürs Investitionskapital - was durchaus ehrenwerte Gründe des Protestes sind -, sondern sie stellen ein politisches System in Frage, in dem eine relativ kostengünstige, sozial- und klimafreundliche Dienstleistung wie der Schienenverkehr privatisiert und permanent verteuert wird. Das S21-Projekt droht auf eine Vernachlässigung des Nah- zu Gunsten des profitträchtigeren Fernverkehrs hinauszulaufen.

Daß für gesellschaftskritische Positionen gegenwärtig keine Mehrheiten in Deutschland zu mobilisieren sind, ist hinlänglich bekannt. Wir haben es bei der Volksabstimmung mit gelebter Demokratie zu tun, also mit der Herrschaft des Volkes über diejenigen, die nicht dazugehören. Die Beherrschten sind immer die gleichen. Ihre Stimmen werden durch Beteiligung an der Herrschaft gekauft, im Rahmen demokratischer Abstimmungsverfahren unterdrückt oder von vornherein mundtot gemacht. Die Volksabstimmung war jedenfalls von vornherein eine Farce, denn sie wurde zu einem Zeitpunkt durchgeführt, als schon Verträge abgeschlossen, Bäume gefällt, Gebäude eingerissen, kurzum: Tatsachen geschaffen worden waren. Hätten die Karten von Anfang an offen auf dem Tisch gelegen und wäre eine Debatte darüber geführt worden, hätte das Ergebnis anders ausgesehen.

Die Befürworter des S21-Projekts reklamieren für sich, fortschrittlich zu sein; auch in den Medien werden die Gegner als Fortschrittsverweigerer oder gar -feinde bezeichnet - eine zynische Umkehrung der Verhältnisse. Schon an dieser Stelle muß dem Anspruch auf Definitionshoheit der etablierten Kreise entgegengetreten werden. Etwas zu zerstören, um es anschließend neu aufzubauen, entspringt einem Fortschrittsdenken und einer technologischen Entwicklung, die maßgeblich zu Erderwärmung und Klimawandel geführt haben. Auch wenn der riesige technologische Aufwand der Bahnhofstieferlegung und neuen Streckenführung mit zahlreichen Tunneln als etwas anderes verkauft wird: Etwas Bestehendes nicht abzureißen und mit möglichst geringem Aufwand zu verbessern sollte in einer Zeit weltumspannender Versorgungskrisen als eigentlicher Fortschritt angesehen werden.

28. November 2011