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LAIRE/1293: In Großbritannien explodiert die Nahrungsnot (SB)


Rasant wachsender Bedarf an Lebensmittelhilfe

Britische Regierung gibt Studie über Food Banks in Auftrag



In den führenden Wirtschaftsnationen der Welt wächst der Lebensmittelmangel. In Deutschland sind die Tafeln, die kostenlos oder gegen ein kleines Entgelt Lebensmittel verteilen, inzwischen zu einer festen Größe der Armutsverwaltung geworden. Mehr als eine Million Bürgerinnen und Bürger partizipieren daran. In den USA nehmen über 45 Millionen Einwohner am staatlichen Programm für Lebensmittelhilfe SNAP (Supplemental Nutrition Assistance Program) teil, und im Vereinigten Königreich (UK) explodiert geradezu die Zahl der Menschen, die auf Lebensmittelhilfe angewiesen sind.

Als sich der frühere britische Premierminister Tony Blair von der traditionell sozialdemokratischen Labour-Politik verabschiedet und mit "New Labour" eine Rundum-Erneuerung ausgerufen hatte, diente dieser Schachzug vor allem dazu, seinen Wählern das neoliberale Wirtschaftsmodell als etwas Neues und Großartiges zu verkaufen. Und er hatte recht - die Managergehälter stiegen großartig. Die Armut dagegen nahm nicht ab, sondern zu.

Nachdem als Konsequenz aus den Parlamentswahlen im Mai 2010 New Labour durch eine konservativ-liberale Regierungskoalition abgelöst wurde, konnte man schon ahnen, daß der neue Premierminister David Cameron (Conservatives) und sein Vize Nick Clegg (Liberal Democrats) das Ruder nicht herumreißen würden und die verheißene "Big Society" eher auf eine Drangsalierung der Marginalisierten denn auf eine Beseitigung der krassen sozialen Unterschiede in dieser "großen Gesellschaft" hinausliefe. Daß die Verarmung allerdings so gravierend anwachsen würde, wie aktuellen Meldungen aus dem Vereinigten Königreich zu entnehmen ist, hätten wohl selbst Pessimisten nicht vermutet.

Noch vor vier Jahren unterhielt die größte britische Wohlfahrtsorganisation, The Trussell Trust, landesweit lediglich 28 Food Banks. Das sind Ausgabestellen für Lebensmittelpakete. Inzwischen ist die Zahl auf 309 emporgeschnellt, und jede Woche kommen drei dieser Einrichtungen hinzu, wie der "Guardian" berichtete. [1]

Im Jahr 2008 hatte der Trust noch 26.000 Bedürftige mit Hilfspaketen versorgt, 2010 waren es über 60.000 und in den letzten zehn Monaten 245.000. Mit einem so gewaltigen Anstieg hatte die Hilfsorganisation nicht gerechnet, obgleich sie ja den Trend kannte. Im Oktober vergangenen Jahres gab sie als Schätzung für das laufende Jahr eine Zahl von 200.000 Bedürftigen ab. [2] Diese Zahlen veranschaulichen die gegenwärtige Tendenz deutlich. Die absolute Zahl der Bedürftigen liegt aber viel höher, da Hunderte von kirchlichen und privaten Vereinigungen ebenfalls Lebensmittelhilfe leisten.

Die Verarmung und Nahrungsnot in der siebtgrößten Wirtschaftsnation der Welt hat binnen kurzer Zeit so gravierende Ausmaße angenommen, daß die konservativ-liberale Regierungskoalition in Sorge gerät. Aber sie macht nicht etwa Abstriche von ihrer radikalen Austeritätspolitik, die unter anderem eine Sozialhilfereform vorsieht. Vielmehr hat sie das Ministerium für Umwelt, Lebensmittel und ländliche Angelegenheiten (Defra - Department for Environment, Food and Rural Affairs) beauftragt, eine Studie über Umfang und Effektivität der Lebensmittelnothilfe durchzuführen. Die Forscher sollen herausfinden, warum Menschen aus Risikogruppen ("at-risk individuals") zu Nutzern der Lebensmittelhilfe ("food aid users") werden, und inwiefern die Hilfe die Ursachen der Lebensmittelarmut ("food poverty") lindert. [1]

Mit anderen Worten, es wird weniger an eine Beseitigung des Mangels als an dessen besserer Verwaltung gedacht. Schließlich neigen Menschen, die nicht genügend zu essen haben, dazu, sich nicht mehr an Recht und Gesetz zu halten und den Nutzen der Gesellschaft in Zweifel zu ziehen. Das will die Regierung unbedingt vermeiden, könnten die Betroffenen doch sonst auf die aufrührerische Idee kommen, die gegebene Ordnung aus Obrigkeit und Untertanen grundsätzlich in Frage zu stellen. Plötzlich wäre der Inselstaat voller Robin Hoods und seiner unbeherrschbaren Mitstreiter. Ein Frevel, es nur zu denken, denn ohne Untertanen kein König und auch kein Sheriff, der das Königreich vor Umtrieben dieser Art zu schützen hat.

Daß das Volk blutet, tut nichts zur Sache, fördert dies doch zu einem gewissen Grad die Gottesfürchtigkeit und Obrigkeitshörigkeit. Es gilt, die Stellschrauben der Verelendungspolitik so zu justieren, daß sich die Spannung nicht allzu schnell aufbaut und unkontrolliert entlädt. Dies gelingt dadurch, daß die eine Hand den Armen einen Teil dessen als Almosen zurückgibt, was die andere Hand ihnen zuvor geraubt hat. Beispielsweise in Form von "Universal Credits". Der universelle Kredit, der in den nächsten Jahren flächendeckend in ganz UK eingeführt wird, soll viele staatliche Einzelzuwendungen und fiskalische Begünstigungen ersetzen. Das Geld für den angeblichen Kredit stammt natürlich aus den Steuereinnahmen.

Selbstverständlich preist die Regierung ihr Konzept als Errungenschaft und Straffung des Behördenapparats. Faktisch will sie damit jedoch in den nächsten Jahren 18 Milliarden brit. Pfund allein bei den Sozialprogrammen einsparen. Davon betroffen sind nicht nur die Untertanen ihrer Majestät, sondern auch die Kommunen, die durch von oben aufgedrückte Sozialprogramme zusätzlich belastet werden und gar nicht wissen, woher sie die Mittel dazu nehmen sollen.

Mittlerweile haben sich rund 70 britische Hilfsorganisationen zu einem Konsortium zusammengeschlossen, um die Lebensmittelarmut im Land zu überwachen. Womöglich werden sie eine formelle Untersuchung der Bedürftigkeit durch die Vereinten Nationen einfordern. Die Hilfsorganisationen befürchten, daß die für April 2013 angekündigten Wohlfahrtsreformen die bereits bestehende Not der Menschen noch vergrößern werden. Schon jetzt müssen sich viele Familien entscheiden, ob sie im Winter heizen oder sich etwas zu essen kaufen wollen. Der "Guardian" zitiert Jamie Burton, Vorsitzender der Wohlfahrtsorganisation Just Fair, mit den Worten: "Die rasche Verbreitung von Lebensmittelarmut in UK zeigt, daß wir in verzweifelten Zeiten leben. Kinder gehen hungrig zu Bett, und Familien sind mit dem Kummer und der Erniedrigung, auf Lebensmittelhilfspakete angewiesen zu sein, konfrontiert. Manche müssen dafür viele Meilen zurücklegen. Wir glauben, daß das falsch ist." [3]

13 Millionen Briten bzw. 20 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Londoner Riots im August 2011 wurden zwar nicht wegen hoher Lebensmittelpreise oder eines Mangels an Lebensmitteln ausgelöst wie noch 2007, 2008 in mehreren Dutzend ärmerer Länder, aber die Versorgung auch der bislang kaum von Nahrungsnot betroffenen Bevölkerung in den führenden Industrienationen ist nicht gesichert.

Im vergangenen Jahr hat der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, Olivier de Schutter, Kritik an Kanada geübt, wo sich jeden Monat 900.000 Bedürftige bei den Food Banks Lebensmittelpakete abholten. De Schutter warnte die europäischen Länder, daß Lebensmittelhilfe keine Dauereinrichtung werden dürfe. Am Montag, den 25. Februar 2013, reiste er nach London, um dort einen Vortrag über sich ausbreitende Nahrungsnot in entwickelten Ländern zu halten. Auch wenn der Besuch nicht offiziell war, paßte er zu der gegenwärtigen Entwicklung.

Haben die Bevölkerungen in UK, den USA, Kanada, Deutschland und anderen relativ wohlhabenden Ländern lange Zeit geglaubt, sie könnten dauerhaft von ihren Privilegien zehren, so dürfte sich allmählich folgende Erkenntnis breitmachen: Ihr Leben wird von den gleichen gesellschaftlichen Kräften bestimmt wie das Leben der Einwohner in den Armutsländern des Südens. Dort kostet der Hunger Jahr für Jahr bereits zig Millionen Menschen das Leben.


Fußnoten:

[1] http://www.guardian.co.uk/society/2013/feb/24/food-banks-increase-defra-inquiry

[2] http://www.bbc.co.uk/news/business-19953938

[3] http://www.guardian.co.uk/society/2013/feb/18/food-poverty-uk-human-rights-obligations

26. Februar 2013