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LAIRE/1318: Mißtöne zwischen Deutschland und Türkei - ein Drama, dem niemand beiwohnen muß (SB)


Regierungen Deutschlands und der Türkei im Grundsatz einig


Die gegenwärtigen Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei nutzen beiden Seiten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan und Minister versuchen, auf diese Weise Profil zu gewinnen und über wüste Beschimpfungen der deutschen Regierung und Vergleiche mit der Nazi-Diktatur davon abzulenken, daß sie selbst sich repressivster Mittel bedienen, um die Opposition im eigenen Land zum Schweigen zu bringen und bei der Volksabstimmung über die Verfassungsreform ein Ja zu erhalten. Kommt sie durch, hat Erdogan rechtlich das geschafft, was er jetzt schon praktiziert, und die Türkei vollends in eine Diktatur verwandelt.

In Deutschland wiederum werden als Folge der Verbalattacken aus dem Orient und der Verhaftung des deutsch-türkischen Journalisten Deniz Yücel, der für die Zeitung "Die Welt" arbeitet, selbst bei den moderateren Bürgerinnen und Bürgern Nationalgefühle angesprochen. Manchen treibt es Zornesröte ins Gesicht ob der Nazi-Vergleiche, der zum Ausdruck gebrachten Überheblichkeit und Verachtung der türkischen Regierung gegenüber der Bundesregierung. Plötzlich identifiziert sich auch jener Teil der Bevölkerung mit Deutschland, der das Geschehen bislang desinteressiert bis passiv verfolgt hat.

Da werden auf einmal bei vielen Stolz und Ehrgefühl angesprochen, Empfindungen, die an ganz anderer Stelle gebraucht werden. Beispielsweise für die Zustimmung zur Aufrüstung der Bundeswehr, einen möglichen Krieg gegen Rußland, die Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und Polizei im Innern im Kampf gegen mutmaßliche Feinde von außen, die Lagerhaltung von Flüchtlingen innerhalb Europas - Ungarn gibt hier den Vorreiter - und außerhalb seiner Grenzen, die angedachte Einrichtung einer Art von "Guantanamo-Gefängnissen" in Bayern, in denen sogenannte Gefährder unbegrenzt inhaftiert werden sollen, wie es in einem jüngeren Vorstoß heißt (der wieder zurückgenommen wurde, aber eben nur ein Stückchen ...). Wenn die Bevölkerung erst mehrheitlich Nationalstolz empfindet, ist die Bundeswehr in der Mitte der Gesellschaft angekommen und braucht sich künftig weniger Sorgen über Rekrutenmangel zu machen als heute. Dazu hätte dann auch die Türkei ihren Part gespielt.

Sich an der Diskussion über das Für und Wider einer Einreise Erdogans nach Deutschland zu beteiligen, hieße, das Spiel der Herrschenden mitzuspielen, ihrer Dramaturgie zu folgen und sich als Publikum zu wähnen, das glaubt, dem Treiben ungeschoren zuschauen zu können. Ob sich die Regierungen beschimpfen oder den anderen belehrend entgegentreten, beides erfüllt die Funktion einer Fassade, hinter der ganz andere "Geschäfte" einvernehmlich abgewickelt werden. So wird der Mehrheit der politischen Gefangenen in Deutschland, die nach Paragraph 129b StGB verfolgt werden, der Vorwurf gemacht, Mitglied der PKK zu sein oder die Arbeiterbewegung Kurdistans unterstützt zu haben. Die Türkei bezeichnet die PKK als Terroristen und greift sie wie auch allgemein die Kurden im eigenen Land aufs schärfste an. Da spielt Deutschland der Türkei in die Hände.

Ganze Städte, die mehrheitlich von Kurden bewohnt sind, wurden in Schutt und Asche gelegt. Dörfer werden tagelang von der Außenwelt abgeschnitten und deren Bewohner gefoltert und hingerichtet. Das findet nicht unter dem Radar der Weltöffentlichkeit statt, aber trotzdem finden die Schreie der Geschundenen kein Gehör. Jedenfalls bei niemandem, der den Repressionen Einhalt gebieten könnte.

Deutschland wiederum verlegt Kampfverbände der Bundeswehr bis unmittelbar an die russische Grenze, führt dort provokante Manöver durch und setzt sogar seine Luftwaffe ein, was sehr leicht einen Zwischenfall auf der nach oben offenen Eskalationsskala auslösen könnte. Als Mitglied der NATO wäre auch die Türkei bei einem Waffengang Deutschlands (oder Polens, einer der baltischen Republiken oder der USA, etc.) gegen Rußland über Artikel 5 des NATO-Pakts verpflichtet, einem "angegriffenen" Verbündeten beizustehen. Bis heute hat die Türkei Deutschland nicht zur Mäßigung aufgerufen oder entschiedenere Maßnahmen ergriffen, das nahezu Unvermeidliche aufzuhalten.

Hinter dem Krieg der Türkei nach innen wie auch Deutschlands Beteiligung an der Kriegsvorbereitung nach außen steht ein Interesse, das sich sowohl des Friedens wie auch des Kriegs bedient und auf den Erhalt und die Qualifizierung der vorherrschenden Ordnung zielt, in die sich ein jeder Mensch einzufügen hat. Der Krieg richtet sich nur vordergründig nach außen, seine eigentliche Funktion zielt nach innen, auf jene, die sich nur ducken können, wenn die Bomben fliegen, und denen dankbar sind, die das Spielfeld beherrschen und sie verschonen. Wer unterwirft sich nicht angesichts der düsteren Aussichten am Horizont "freiwillig" den vorherrschenden Produktionsbedingungen, trägt seine Arbeitskraft zu Markte und hofft auf ein einigermaßen erträgliches Leben?

Welche Gegenkräfte Menschen auf den Plan rufen, die zumindest den Anspruch erheben, etwas anderes zu wollen, und versuchen, das zu praktizieren, und die nun ihr Leben dafür einsetzen, erfahren Kurden, Araber, Turkmenen und andere Volksgruppen, die sich im vergangenen Jahr zur "autonomen Föderation Nordsyrien - Rojava" zusammengefunden und von der syrischen Zentralregierung Assads losgesagt haben. Die Kämpferinnen und Kämpfer jenes Zusammenschlusses, die YPJ und YPG, die von den USA und Rußland unterstützt, von der Türkei und Syrien jedoch bekämpft werden, müssen damit rechnen, von allen Seiten fallengelassen zu werden, sobald sie nicht mehr gebraucht werden, um den Islamischen Staat und andere dschihadistischen Gruppierungen zu bekämpfen. Daran wird sich zeigen, daß unterhalb der oberflächlichen Konfliktlinien um Territorien und Einflußgebiete andere Kämpfe ausgetragen werden.

Bei allen Mißstimmigkeiten, die zwischen Deutschland und der Türkei vordergründig aufgekommen sind, besteht in Fragen der Herrschaftssicherung, wie sie hier angedeutet werden, tiefe Einigkeit.

7. März 2017


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