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LAIRE/1329: Repression - eine alte Grausamkeit ... (SB)



Weltweit leben Hunderttausende indigener Kinder und Jugendliche in Internaten und sind dort vielfachen Repressionen ausgesetzt. Ihre eigene Kultur wird ihnen von den Mehrheitsgesellschaften systematisch ausgetrieben, berichtet die Internetseite Intercontinental Cry [1].

Weitgehend unbemerkt auch von den heimischen Medien wurde in Kanada am 30. September der "Orange Shirt Day" [2] begangen. An diesem Datum wird seit 2013 des weit verbreiteten sexuellen Mißbrauchs, der Tötung und auch massenhaften Selbsttötung indigener Kinder in kanadischen Internaten, den sogenannten Residential Schools, gedacht. Ins Leben gerufen wurde der Orange Shirt Day von der Stammesälteren Phyllis Jack Webstad vom indigenen Volk der Stswecem´c Xgat´tem.

Als sie ein Kind war und ins Internat der St. Joseph's Mission in William's Lake, kanadische Provinz British Columbia, kam, mußte sie sogleich ihr gelbes Lieblingshemd ausziehen, das sie von ihrer Familie geschenkt bekommen hatte und eine wichtige Erinnerung und Verbindung zu ihrer indigenen Herkunft darstellte. Das gelbe Shirt steht heute symbolisch für das Gedenken an die lange Zeit der Repression und das Bemühen, so etwas nie wieder geschehen zu lassen.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Kanada jene Internate für Stammeskinder eingerichtet. Diese sollten "zivilisiert" werden. Da die Kinder auch untereinander nur Englisch oder Französisch sprechen durften, und ganze Generationen so erzogen wurden, gingen binnen kurzer Zeit zahlreiche Sprachen verloren. Die Internate wurden außerhalb der Reservate eingerichtet und waren häufig nur schwer zu erreichen. Das hat die Trennung der Kinder von ihren Eltern gefördert. Bei der sogenannten Aufarbeitung der Geschichte der Residential Schools durch die Royal Commission on Aboriginal Peoples kam heraus, daß allein in der kanadischen Provinz Ontario mehr als zehntausend Kinder körperlicher Gewalt und zusätzlich häufig auch sexuellen Mißbrauchs ausgeliefert waren [3].

Indigene Internatskinder wurden auch im Namen der Medizin gefoltert, indem man Pharmaversuche an ihnen durchführte - selbstverständlich ohne Wissen der Eltern. Außerdem wurden gesunde Kinder gemeinsam mit an Tuberkulose erkrankten Kindern unterrichtet, so daß sich die Krankheit weiter ausgebreitet hat. Schätzungen zufolge sind in den Residential Schools 6.000 Kinder der First Nations, Inuit und Métis infolge von unbehandelten Krankheiten und Mißhandlungen ums Leben gekommen.

Die Organisation Survival International geht davon aus, daß sich die Geschichte der kanadischen Internate gegenwärtig in anderen Weltregionen wiederholt, weil Einstellung und Haltung gegenüber Indigenen die gleichen sind: Die Kinder werden aus den familiären Zusammenhängen herausgerissen und umerzogen, damit sie ihre Identität verlieren. Was sie an ihr Zuhause erinnert, wird systematisch ausgelöscht. Sei es, daß sie ihre Sprache nicht mehr sprechen dürfen, sei es, daß sie ihre Religion ablegen oder auch einen anderen Namen annehmen müssen.

Fast eine Million indigener Kinder in Asien, Afrika und Südamerika lebt in ähnlichen Verhältnissen, wie sie aus der Geschichte Kanadas bekanntgeworden sind, vermutet Survival International. Die Organisation hat geplant, eine größere Aufklärungskampagne zu diesem Thema zu initiieren.

Obwohl es starke Parallelen beim Mißbrauch von nicht-indigenen Kindern und Jugendlichen in Internaten zahlreicher anderer Länder gibt, wie nicht zuletzt die vielen hundert Mißbrauchsfälle in Deutschland zeigen - angefangen von den Regensburger Domspatzen über das katholische Internat Collegium Josephinum in Bad Münstereifel bis zu den Landesfürsorgeheimen in Schleswig-Holstein und der Odenwaldschule in Hessen - kommt bei den Berichten der Indigenen in Kanada, Malaysia, Indien, etc. eben jener Aspekt hinzu, daß nicht "nur" Einzelpersonen, sondern ganze Völker assimiliert wurden, was letztlich deren Auslöschung bedeutete. Die Folklorisierung der indigenen Kultur wäre hierzu nicht das Gegenmodell, sondern ihre Fortsetzung.

Der uralte Konflikt zwischen Menschen, die in Stammeskulturen leben, und jenen, die vergesellschaftet wurden und demgegenüber vereinzelt sind, ist bis heute nicht abgeschlossen. Davon wissen die Indigenen Nordamerikas ein Lied zu singen. Nach der Invasion durch die Europäer wurden sie über Jahrhunderte hinweg in großer Zahl getötet, vertrieben, versklavt, verstümmelt und in Reservate eingepfercht. Die wenigen ihnen nach harten Kämpfen zugestandenen Rechte wurden wieder gebrochen und werden es bis heute, wie 2016 der Weiterbau der Dakota-Access-Erdölpipeline unterhalb eines für das Standing-Rock-Reservat unverzichtbaren Trinkwasserreservoirs gegen die Proteste von über hundert indigenen Stämmen in den USA gezeigt hat.

In der neuen Identität werden die indigenen Kinder zu arbeitswilligen Produktivkräften geformt, die ihr Leben der Gesellschaft überantworten, indem sie fremdbestimmte Arbeiten verrichten oder auch später einmal als Arbeitslose lediglich ihr Arbeitskraftpotential bereithalten, bis es "höheren" Orts angefragt wird. Als nicht fremdbestimmt dagegen könnte man beispielsweise Tätigkeiten bezeichnen, die nicht entlohnt werden, sondern die unmittelbar für ihren Stamm nützlich sind. Dazu kann zum Beispiel das Anfertigen von Kleidungsstücken gehören. Fremdbestimmt wäre die Arbeit, wenn die Kinder an eine Nähmaschine gesetzt werden und den ganzen Tag lang Kleidungsstücke für den heimischen oder Weltmarkt nähen müssen.

Regelmäßig zögen Bergbaukonzerne und religiöse Organisationen im Hintergrund an den Fäden, schreiben Jo Woodman und Alicia Kroemer auf Intercontinental Cry. Ein riesiges Internat in Indien, das sich rühme, "Heimat" für 27.000 indigene Kinder zu sein, erkläre öffentlich, es sei das Ziel, "primitive" Stammeskinder von "Verbindlichkeiten in Vermögenswerte", von "Steuerverbrauchern in Steuerzahler" umzuwandeln. Zu den Partnerorganisationen des Internats gehörten auch Bergbaukonzerne, die versuchten, Zugriff auf jenes Land zu erlangen, das die Kinder ihre Heimat nennen. Die Eltern hätten das Internet als "Hühnerfarm" bezeichnet, in denen sich die Kinder wie "Gefangene" vorkommen. In jenem Bericht wird ein Experte zu Bildungsfragen der indischen Volksgruppe der Adivasi mit den Worten zitiert:

"Ihr ganzer Verstand wurde mittels einer Art von Bildung einer Gehirnwäsche unterzogen, die besagt: 'Bergbau ist gut', 'Konsumismus ist gut', 'Deine Kultur ist schlecht'. Stammesinternate sind Einrichtungen, die die Autobiographie jedes Kindes löschen, um sie durch das zu ersetzen, was zum 'Mainstream' paßt. Ist das kein Verbrechen im Namen der Schulbildung?"

Ergänzend zu dem von Jo Woodman und Alicia Kroemer verfaßten Bericht auf Intercontinental Cry wäre deshalb zu fragen, ob nicht konsequenterweise auch Alphabetisierungskampagnen, für die sich Nichtregierungsorganisationen oftmals aussprechen, zu den Repressionsmaßnahmen gegen indigene Gemeinschaften gezählt werden müßten, da Menschen nur deshalb lesen und schreiben müssen, um sich in die übergreifende Gesellschaft zu integrieren. Bildung gewährt gesellschaftliche Teilhabe, heißt es - aber was ist, wenn Menschen nicht an der ihrem Lebenzusammenhang des Stammes übergeordneten Gesellschaft teilhaben wollen?

Umgekehrt brauchen jene wenigen unkontaktierten Völker, denen beispielsweise in Brasilien formalrechtlich Schutzstatus eingeräumt wird, zeit ihres Lebens weder zu lesen noch zu schreiben. Erst nachdem sie von Bergbaukonzernen, Holzfällern oder anderen Räubern aus ihrem angestammten Lebensraum vertrieben wurden und nun am Rande oder innerhalb von bestehenden Siedlungen leben, wäre für sie die Fähigkeit, lesen und schreiben zu können, von Vorteil. Vorher nicht.

Unter den gegebenen Bedingungen Indigenen Bildung zu verwehren, wie es teilweise in Kanada noch immer der Fall ist, setzt die Geschichte der Repression fort. Das hinter diesen Taten stehende sozialdarwinistische Denken, das im 19. Jahrhundert vorherrschende Ideologie war, ist bis heute nicht überwunden. Daran ändert auch nichts, daß sich hochrangige Vertreter von Kirche und Staat für den "kulturellen Genozid" entschuldigt haben. So lebt heute fast die Hälfte der indigenen Kinder in armen Verhältnissen. Wer in einer indigenen Familie zur Welt kommt, hat ein durchschnittlich sieben Jahre kürzeres Leben als der Durchschnittskanadier.


Fußnoten:

[1] https://intercontinentalcry.org/there-are-hundreds-of-thousands-of-indigenous-children-in-residential-schools-around-the-world-today/

[2] http://www.orangeshirtday.org/

[3] http://data2.archives.ca/e/e448/e011188230-01.pdf

1. Oktober 2018


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