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DILJA/1129: "Jugendgewalt" und "Rechtsextremismus" als Generalausrede (SB)


Kriminologen stellen "Rechtsextremismus" bei Jugendlichen fest und schlagen Alarm

Das politische Berlin reagiert mit Bestürzung und läutet die nächste Runde systemstabilisierender Desinformation ein


Kaum eine Woche nach der Katastrophe von Winnenden, bei der ein 17jähriger Jugendlicher in einem Amoklauf in seiner ehemaligen Schule insgesamt 15 Menschen und sich selbst erschossen hat, wurde in Berlin eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zum Thema "Rechtsextremismus bei Jugendlichen" vorgestellt. Der Direktor des Instituts, der bundesweit durch seine öffentlichen Stellungnahmen zu Kriminalitätsfragen bekannt gewordene Kriminologieprofessor Christian Pfeiffer, reiste eigens nach Berlin, um die Ergebnisse der Studie vorzustellen und ihr ein entsprechendes Gewicht in der medialen Welt zu verschaffen. Der als dramatisch bewertete Befund lautet, daß "Rechtsextremismus" unter Jugendlichen weit verbreitet sei, was auch den Innenausschuß des Deutschen Bundestages bereits "aufgeschreckt" haben soll.

Da sich der Innenausschuß allerdings erst in seiner nächsten Sitzung am 25. März mit dieser Studie befassen wird, steht zu vermuten, daß die am Dienstag erfolgte Präsentation dem Zweck diente, die bundesweite Aufregung um die "Bluttaten" von Winnenden in ein Fahrwasser zu kanalisieren, für das sattsam bekannte und bewährte Deutungs- und Erklärungsmuster längst bereitstehen. Tatsächlich ist die Frage, was einen Jugendlichen, dessen nächste Familienangehörige von ihm sagen, sie hätten ihn "ganz anders" erlebt und wären völlig überrascht worden, zu seiner Tat veranlaßt haben könnte, noch immer weitgehend unbeantwortet. Sie wirft ein Schlaglicht auf die Fassade gesellschaftlicher Normalität, Bürgerlichkeit und Wohlanständigkeit, deren Repräsentanten aus naheliegenden Gründen die Zusammenhänge zu ihren eigenen Lebenslügen und Beteiligungsstrategien am gesellschaftlichen Hauen und Stechen nicht begreifen wollen.

Das Böse zu postulieren, das in jedem "normal" erscheinenden Jugendlichen und letztlich in jedem Menschen schlummere und wie aus dem Nichts heraus auszubrechen drohe, hilft nur bedingt weiter, um die gesellschaftlichen Bruchlinien zu kitten, die deutlicher zu Tage treten, je häufiger sich scheinbar der jeweiligen Individualsphäre vermeintlich gestrauchelter und gescheiterter Menschen zurechenbare Gewalttaten und Tragödien ereignen. Amokläufe Jugendlicher, Familientragödien, bei denen ein Elternteil die ganze Familie und sich selbst auslöscht, Beziehungstaten, Selbsttötungen und und und - die Liste der in ihrem medialen Übertrag spektakulären persönlichen Katastrophen wird lang und immer länger und gibt ein bedrückendes Zeugnis ab über die mittelbar wie unmittelbar sehr wohl tödlichen Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland.

Der naheliegende Gedanke, daß in einer in ihren Grundfesten auf Raub basierenden Gesellschaft, deren Mitglieder von Kindesbeinen an für den Kampf ums Überleben zulasten der eigenen Art sozialisiert werden, solche Ergebnisse und vermeintlich unerklärlichen Phänomene gar nicht ausbleiben können, gefährdet die Einsicht in die vermeintliche Notwendigkeit und Alternativlosigkeit gesellschaftlicher Anpassung und Unterwerfung, weil er zu der Frage führen könnte, ob nicht gerade die Bereitschaft, die schulischen und sonstigen Anforderungen einer Leistungsgesellschaft, in der es dem "besser" geht, der "mehr" leistet und "wertvoller" ist, zu erfüllen, einer Schraubzwinge gleichkommt, aus der es im Zweifelsfalle kein Entkommen gibt.

Will man einer Studie glauben schenken, die am Institut Psychologie & Sicherheit der TU Darmstadt durchgeführt wurde, um aus Psychologen-Sicht und -Interesse die Frage zu untersuchen, ob jugendliche Amokläufer anhand bestimmter Risikomerkmale vorab identifiziert werden könnten, haben die meisten der sieben untersuchten Jugendlichen, die zwischen 1999 und 2006 in Deutschland Amok liefen, ihre Taten zuvor angekündigt und erklärt, Rache nehmen zu wollen. Bei allen seien der Tat schulische Konflikte sowie Kränkungen, soziale Brüche oder Verlusterfahrungen vorausgegangen, woraus sich die Vermutung ableiten ließe, daß sie zu den Verlierern gesellschaftlicher Ausleseprozesse gehörten, denen Millionen Menschen im schulischen und auch familiären Bereich schon im frühesten Alter unterworfen werden.

Der nach der Tragödie von Winnenden einmal mehr bemühte Versuch, "Gewalt"-Computerspiele in einen kausaldeterminierten Erklärungszusammenhang zu stellen und zu generalpräventiven Zwecken abermals deren Verbot zu diskutieren, zeugt einzig und allein von dem Bestreben, die Entwicklung beunruhigender Fragen und Infragestellungen gesellschaftlicher Normen, Vorstellungen und Erklärungsstereotypien abzuwenden. Zu einer Öffentlichkeitskampagne, die dem Zweck geschuldet ist zu verhindern, daß es im Zuge einer solchen Diskussion je "ans Eingemachte" gehen könnte, würde die Videospiel-Variante ebenso beitragen können wie das nun zeitnah aufgeworfene Problem des "Rechtsextremismus" unter Jugendlichen.

In der eingangs erwähnten Studie des Kriminologischen Foschungsinstituts Niedersachsen wurden 45.000 Jugendliche, die meisten von ihnen Hauptschüler, in 61 Landkreisen und kreisfreien Städten befragt. Schon diese Vorauswahl läßt argwöhnen, daß die beteiligten Wissenschaftler mit dieser Arbeit ihre eigenen Thesen bestätigt sehen wollten. Wenn jeder fünfte Junge und jedes zehnte Mädchen als "sehr ausländerfeindlich" eingestuft wird - 4,9 Prozent der 15jährigen Jungen sollen Mitglied einer rechtsextremen Gruppe oder Kameradschaft sein -, wird ein Bild befüttert, das zuvor schon bestanden hat und den Zweck erfüllen soll, die Bereitschaft Jugendlicher, sich zu Lasten von Menschen in einer schwächeren gesellschaftlichen Position - in diesem Fall "Ausländern" - Vorteile verschaffen zu wollen, auf deren angebliche Bildungsbenachteiligung zurückzuführen. Wenn überwiegend Hauptschüler befragt werden, läßt sich die Gegenprobe zu dieser These, nämlich wie weitverbreitet ausländerfeindliche Einstellungen unter Gleichaltrigen mit einem anderen schulischen und damit auch gesellschaftlichen Hintergrund sind, gar nicht durchführen.

Wenn die untersuchten Hauptschüler dem Negativbild, das im übrigen nur die bestehende gesellschaftliche Realität eines Oben und Unten reflektiert, zu erfüllen scheinen, sind weitere Untersuchungen und Fragestellungen aus kriminologischer Sicht wohl überflüssig, zumal das Lösungskonzept, eine bessere schulische Förderung für die als "ausländerfeindlich" ihrerseits stigmatisierten Jugendlichen zu fordern, als angeblich logische Schlußfolgerung damit parat liegt. Der Begriff "Rechtsextremismus" ist in diesem Zusammenhang überaus zweckmäßig, weil er die fundamentale Gewalttätigkeit gesellschaftlicher Verhältnisse, in der inzwischen bereits Millionen Menschen ihrer materiellen Grundversorgung auch dann nicht sicher sein können, wenn sie bereit sind, die einzige ihnen verfügbare Ware, nämlich sich selbst bzw. ihre "Arbeitskraft", zu veräußern. Die Marginalisierung, Ausgrenzung und Entrechtung von Menschen, an denen der gesellschaftlichen Verwertungsapparat kein Verwertungsinteresse mehr hat, hat einen Grad der Brutalisierung und Ausweglosigkeit erlangt, daß dessen Hüter, Betreiber und Nutznießer froh sein können, solange sich die Gemüter über "Jugendgewalt" und "Rechtsextremismus" erregen lassen.

20. März 2009