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DILJA/1197: Friedensversprechen unter Feuer - trügerische Hoffnungen für türkische Kurden (SB)


Die türkische Regierung spricht von "Lösung des Kurdenkonflikts" und setzt militärische Angriffe in den Kurdengebieten fort

"Roadmap" des inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan unter Verschluß


Am 27. Juli 2009 wurden zwei Kurden mit türkischer Staatsangehörigkeit in der im Osten der Türkei im Grenzgebiet zum Irak gelegenen kurdischen Provinz Sirnak beerdigt. Necman Ölmez und Ferhat Edis waren nahe der irakischen Grenze ermordet aufgefunden worden, ihre Leichname wiesen Schußwunden und Folterspuren durch Steinschläge auf. Die beiden 35jährigen waren Mitglieder der "Partei für eine Demokratische Gesellschaft" (DTP), der einzigen im türkischen Parlament vertretenenen kurdischen Partei, der überdies die Illegalisierung droht wegen eines anhängigen Verfahrens, das mit ihrem Verbot enden könnte. Die türkische Justiz sieht in der DTP den "verlängerten Arm" der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), dessen Vorsitzender Abdullah Öcalan seit bereits zehn Jahren als einziger Gefangener auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftiert ist.

Die Morde an den beiden DTP-Mitgliedern in Sirnak lassen befürchten, daß es Kräfte im türkischen Repressionsapparat und/oder der ihm angeschlossenenen Kreise sogenannter Dorfschützer oder Todesschwadrone gibt, die noch immer das Kurdenproblem auf ihre Weise "lösen" wollen. Wie Dorfbewohner einem Bericht der jungen Welt [1] zufolge der DTP berichtet haben, hätten Unbekannte den Wagen der beiden Getöteten, die später in der Nähe ihrer Autos an einem Flußabhang gefunden wurden, außerhalb der Kleinstadt Beytussebap gestoppt. Da sich in der Nähe der Fundstelle sowohl ein Militärstützpunkt als auch ein Dorfschützer-Camp befindet, hält Aydn Budak, DTP-Bürgermeister in der nahegelegenen Großstadt Cizre, Milizionäre unter dem Kommando der Militärpolizei für die Täter. Ahmet Türk, Vorsitzender der DTP, machte ebenfalls illegale Strukturen innerhalb des türkischen Staates für die Morde verantwortlich.

Angesichts dieses Vorfalls auf eine militärische Offensive der türkischen Regierung zu schließen, scheint unangebracht zu sein, zumal nur wenige Tage später, am 29. Juli 2009, der türkische Innenminister Besir Atalay vor Journalisten in Ankara ein "Maßnahmenpaket zur Lösung des Kurdenkonflikts" ankündigte. Um welche Maßnahmen es sich nach Ansicht der als gemäßigt islamisch-konservativ geltenden AKP-Regierung von Ministerpräsident Recep Erdogan dabei handeln sollte, verriet Atalay allerdings nicht; er sprach lediglich davon, daß "kurz-, mittel- und langfristige Schritte in Arbeit" seien. In den darauffolgenden Wochen signalisierte Ankara gegenüber den Kurden durchaus eine gewisse Dialog- und Kompromißbereitschaft. So sprach Staatspräsident Abdullah Gül von einer "historischen Gelegenheit zum Frieden", während Ministerpräsident Erdogan bereits erste Schritte unternahm, um den rund zwölf Millionen in der Türkei lebenden Kurden, die etwa ein Sechstel der Gesamtbevölkerung ausmachen, entgegenzukommen. Angeblich arbeiten das Innenministerium, aber auch Militär und Geheimdienst an einer Initiative zur Versöhnung; im Parlament rief Erdogan, an die rechte Opposition gerichtet, zur Zusammenarbeit an einem "Projekt für die nationale Einheit" auf.

Ein eigener kurdischsprachiger Fernsehsender wurde bereits in Betrieb genommen, was allerdings zugleich bedeutet, daß alle übrigen kurdischsprachigen Medien nach wie vor verboten sind. An ein Tauwetter in den Beziehungen zwischen der kurdischen Bevölkerung und dem türkischen Staat mag so recht noch niemand glauben, auch wenn die Saat der Hoffnung bereits aufgegangen zu sein scheint, als am 13. August Innenminister Atalay in Ankara erstmals die Zentrale der DTP besuchte und dort mit dem DTP-Vorsitzendem Ahmet Türk sprach. Türk hat am eigenen Leibe erfahren, was Kurdenverfolgung durch den türkischen Staat bedeutet. Vor dem Militärputsch von 1980 und zu Beginn der 1990er Jahre war er Parlamentsabgeordneter. Wegen seiner politischen Überzeugungen saß er lange Jahre in Haft, zuletzt war er im Jahre 2007 zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil er den PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan "Herrn Öcalan" genannt hatte.

Innenminister Atalay sprach nach dem Gespräch mit Türk von dem gemeinsamen Ziel, ein "Projekt der Brüderlichkeit und des Friedens" voranzubringen. Der Vorsitzende der DTP, die einen türkischen Staat anstrebt, in dem Türken und Kurden friedlich und gleichberechtigt miteinander leben können, äußerte sich weitaus verhaltener: "Wir sind voller Hoffnung, aber wir wollen nicht enttäuscht werden." Am 14. August legte die kurdische Partei konkrete Vorschläge zur politischen Lösung des Konflikts vor. Wie der Fraktionsvizevorsitzende der DTP im türkischen Parlament, Selahattin Demirtas, ausführte, fordere seine Partei die Abschaffung bestehender Einschränkungen für den öffentlichen Gebrauch der kurdischen Sprache. Wie begründet das Mißtrauen der kurdischen Politiker gegenüber den wohlfeilen Worten türkischer Regierungsmitglieder ist, ließ sich unterdessen an dem Vorgehen der Behörden gegenüber dem auf Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Öcalan ablesen.

Dieser hatte angesichts des 25. Jahrestages des am 15. August 1984 von der PKK begonnenen bewaffneten Kampfes eine eigene Friedens- bzw. Vermittlungsinitiative angekündigt. In einer von ihm auf Imrali verfaßten "Roadmap", die am 15. August der Öffentlichkeit hätte vorgestellt werden sollen, wollte der ursprünglich zum Tode, dann jedoch zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilte Öcalan seine Vorschläge zu einer politischen Beilegung des Konflikts vorlegen. Mit fadenscheinigsten Begründungen suchten die türkischen Behörden dies jedoch zu verhindern; somit konnten die Einzelheiten des 160 Seiten umfassenden Öcalan-Papiers noch immer nicht veröffentlicht werden. So untersagte die Militärpolizei bei strahlendem Sonnenschein am 12. August den Anwälten Öcalans die Überfahrt zur Gefängnisinsel mit der Begründung, es herrschten "widrige Wetterbedingungen". Die Regierungsinitiative, die nach Angaben eines Regierungssprechers auf "Liebe, Frieden und Brüderlichkeit" aufbaue, schließt den PKK-Vorsitzenden und dessen "Roadmap" zum Frieden offensichtlich nicht ein.

Die Veröffentlichung des Öcalan-Plans wurde und wird weiter hinausgezögert. Ein Schiff, das die Anwälte des PKK-Vorsitzenden am 19. August nach Imrali übersetzen sollte, mußte angeblich wegen eines "technischen Defekts" umkehren. Zur selben Zeit setzte das türkische Militär seine in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Angriffe gegen kurdische Gebiete fort. In den kurdischen Provinzen Hakkari und Sirnak wurden, wie die junge Welt berichtete [2], tagelange großangelegte Militäroperationen gegen PKK-Kämpfer durchgeführt, bei denen nicht nur Bodentruppen, sondern auch paramilitärische "Dorfschützer" und Kampfhubschrauber beteiligt waren; sogar im Nordirak gelegene Ziele sollen von Berggipfeln aus beschossen worden sein. Demnach wurde allen Friedensbekundungen zum Trotz die seit Jahren und Jahrzehnten andauernde Kriegführung gegen die kurdische Unabhängigkeits- bzw. Autonomiebewegung keineswegs eingestellt, sondern eher noch intensiviert.

Auch die in Aussicht gestellte Aufhebung oder doch zumindest Milderung des Verbots des öffentlichen Gebrauchs der kurdischen Sprache ist mit großer Vorsicht zu bewerten. So wurde die linke prokurdische Tageszeitung Günluk unter der Pauschalbezichtigung, für die PKK Propaganda zu betreiben, mit einem einmonatigen Erscheinungsverbot belegt, was Chefredakteurin Filiz Koçali als staatliche Zensur kritisierte: "Wir können nicht von einer demokratischen Öffnung reden, wenn wir das kurdische Volk nicht sprechen lassen." [2] Wie inzwischen bekannt wurde, hat Öcalan seine Ausführungen zu seiner "Roadmap" bereits am 20. August der Gefängnisverwaltung mit der Bitte übergeben, sie an die Regierung in Ankara weiterzuleiten. Wie der PKK-Vorsitzende gegenüber seinen Anwälten ausführte, beziehen sich seine (noch immer unveröffentlichten) Notizen inhaltlich darauf, daß die "kurdische Nation" den türkischen Staat nicht in Frage stellen, aber innerhalb dessen eigene kurdische Bildungseinrichtungen und eigene "Verteidigungskräfte" unterhalten sollte.

Einer solchen Forderung würde die DTP sicherlich zustimmen, nicht jedoch die Regierung in Ankara und schon gar nicht die äußerste Rechte sowie das insgeheim regierende Militär, das sich durch die vorsichtigen Schritte der AKP-Regierung ohnehin herausgefordert fühlen dürfte. So gab der Generalstab, der in einer echten Demokratie keinerlei politische Entscheidungs- und Mitwirkungsbefugnisse haben dürfte, sondern einzig und allein die Anordnungen einer demokratisch legitimierten Zivilregierung zu erfüllen hätte, unlängst drei rote Linien bekannt, die seiner Meinung nach nicht überschritten werden dürften: Ein Staat - eine Regierung - eine Sprache. Somit ist absehbar, daß von einer politischen Annäherung oder gar Lösung des Konflikts nicht die Rede sein kann, solange das Militär über einen maßgeblichen Einfluß auf Staat und Gesellschaft verfügt. Die Forderung der kurdischen Autonomiebewegung nach einem auf eine neue Verfassung, die das gleichberechtigte Miteinander von Türken und Kurden garantiert, gestützten türkischen Staat bleibt solange unerfüllbar, wie die Türkei mit dem stillen Einverständnis ihrer westlichen Partner eine heimliche Militärdemokratur unterhält.

Anmerkungen

[1] Suche nach den "Todesbrunnen". Gespenster der Vergangenheit: Wieder Morde unbekannter Täter an kurdischen Linken in der Osttürkei, von Nick Brauns, junge Welt, 28.07.2009, S. 6

[2] Konterguerilla im Einsatz. Krieg in den kurdischen Landesteilen geht trotz Reformversprechen weiter, von Nick Brauns, junge Welt, 27.08.2009, S. 7

1. September 2009