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DILJA/1224: Venezuela - Die Versorgung mit Lebensmitteln 1989 und 2009 (SB)


1989 - 2009: Neoliberalismus versus bolivarianischer Sozialismus

Hunger, Hungeraufstände und der Kampf um Nahrungsmittelsouveränität


Am 28. Februar 1989 wurde in Venezuela der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt, um, wie der drei Wochen zuvor ins Amt gekommene sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez die Entscheidung seiner Regierung, im ganzen Land den Ausnahmezustand zu verhängen, begründete, den Rechtsstaat aufrechtzuerhalten. Anlaß für die Aufhebung der Demokratie, durch die sich die Regierung Pérez die Möglichkeit verschaffte, die im Land ausgebrochenen Hunger- und Armutsaufstände durch die Nationalgarde und das Militär niederknüppeln und zusammenschießen zu lassen, waren die Auswirkungen einer von ihr selbst kurz zuvor dem Land verordneten neoliberalen Wirtschaftspolitik. Entgegen seines Wahlversprechens, niemals vor dem Internationalen Währungsfond (IWF) und seinen Forderungen nach Strukturanpassungsprogrammen, wie die Maßnahmen zum Sozialabbau genannt wurden und werden, in die Knie zu gehen, hatte Pérez genau dies getan.

Mit verheerenden Folgen. Die harten Bedingungen des IWF hatten ohnehin zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um fast 9 Prozent, einer Inflationsrate von 81 Prozent, einer offiziellen Arbeitslosigkeit von 10 Prozent und sinkenden Einkommen geführt. Anfang 1989 verschärfte sich die Krise. Venezuela geriet in Zahlungsschwierigkeiten, was es dem IWF ermöglichte, dem Land weitere Daumenschrauben anzulegen. Die Folge waren massive Preissteigerungen, die am 26. Februar zu einem landesweiten Aufstand, ausgehend von Caracas, aber auch anderen Städten, führten, nachdem durch das von Präsident Pérez verkündete neoliberale Reformpaket auch noch die staatlich subventionierten Transportpreise von einem Tag auf den nächsten verdoppelt worden waren. Die Verzweiflung der notleidenden Menschen brach sich spontan Bahn, ohne daß politische Organisationen zu einer Erhebung wider die Regierungspolitik aufgerufen hätten.

Aus den Armenvierteln strömten hungernde Menschen in die besseren Stadtteile und drangen in Einkaufsmeilen und Supermärkte der Wohlhabenden ein, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Der Staat reagierte auf die Unruhen mit militärischer Gewalt. Nach offiziellen Angaben wurden dabei 232 Menschen getötet. Die tatsächliche Zahl der Ermordeten, Verschwundenen und Gefolterten dürfte weitaus höher liegen. Michael Zeuske, Professor für iberische und lateinamerikanische Geschichte an der Universität Köln, geht in seinem 2008 im Rotpunktverlag erschienenen Buch "Von Bolivár zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas" von drei- oder sogar viertausend Menschen aus, die innerhalb von zwei Tagen getötet worden waren und führte aus, daß die meisten der Toten nicht der Bekämpfung der eigentlichen Unruhen, sondern anschließenden "Säuberungaktionen" des Militärs in den Armenvierteln zum Opfer gefallen waren.

In die jüngere Geschichte Venezuelas sollte diese in ihren Extremen beispiellose Repression als das Caracazo-Massaker eingehen. Polizisten weigerten sich, auf ihre Landsleute zu schießen. Die Generäle erhielten den Befehl, die Proteste der eigenen Bevölkerung militärisch zu brechen, und so geschah es. Die herrschende Elite Venezuelas, aber auch führende westliche Staaten nahmen die Toten achselzuckend hin. Augenscheinlich konnte sich Präsident Pérez der stillschweigenden Unterstützung der sogenannten internationalen Gemeinschaft sicher sein. Die neoliberale Politik konnte noch weitere zehn Jahre, bis zur ersten Amtszeit des jetzigen Präsidenten Hugo Chávez, mit durchaus wechselnden Besetzungen in den politischen Ämtern fortgesetzt werden.

Wie der Präsident des Nationalen Instituts für Statistik (INE), Elías Eljuri, am 19. Oktober dieses Jahres mitteilte, hatte die Armut in Venezuela vor dem Amtsantritt von Hugo Chávez teilweise bei 70 Prozent gelegen. Nach zehn Jahren, in denen die neue Regierung mit dem neoliberalen Diktat gebrochen und stattdessen eine bolivarianische Revolution begonnen hatte mit dem Ziel, in dem südamerikanischen Land einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu verwirklichen, betrug die Armut 2009 noch 26,4 Prozent, während die Zahl der statistisch als extrem arm eingestuften Menschen auf sieben Prozent zurückgegangen ist. Wenngleich die Probleme Armut und Lebensmittelversorgung noch nicht vollständig gelöst werden konnten, sind die Erfolge der Regierung Chávez doch so fundamental und unbezweifelbar, daß auch ihre Gegner schwerlich umhinkommen, die entgegen des allgemeinen Entwicklungstrends in Venezuela bereits in erheblichem Ausmaß vollzogene Reduzierung der Armut sowie die gesellschaftliche Beteiligung zuvor ausgegrenzter Bevölkerungsteile anzuerkennen.

Wiewohl in Venezuela längst nicht mehr gehungert werden muß, kommt es zu gelegentlichen Versorgungsengpässen bei bestimmten Produkten. Dies hängt damit zusammen, daß die Regierung einen "sanften" Weg zum Sozialismus eingeschlagen und dem vom neoliberalen Diktat wirtschaftlich zerrütteten Land keineswegs eine Radikalkur verordnet hat. Unternehmen, auch ausländische, können weiterproduzieren, und zwar durchaus gewinn- und profitorientiert, jedoch nicht schrankenlos, sondern im Rahmen der angestrebten Grundversorgung der Bevölkerung mit allem Lebensnotwendigen zu auch für arme Menschen erschwinglichen Preisen. Dies mag banal klingen gemessen an dem Wertekonsens, der in der westlichen Welt zu Zwecken der sozialen Befriedung und Abwehr sozialistischer Bestrebungen in diesen Fragen schon vor langer Zeit geschlossen wurde, jedoch nie seine Virtualität verloren hat.

In Venezuela hingegen, und dies könnte für jeden Menschen von Interesse sein, der in den allem Anschein nach noch weitaus reicheren Industriestaaten Europas und Nordamerikas unter Armuts- und Mangelverwaltung gestellt sein Leben fristen muß, ist die Bevölkerung geradezu dazu aufgerufen, die Ankündigungen der Regierung wörtlich zu nehmen und einer konkreten Überprüfung zu unterziehen sowie auf Mißstände aufmerksam zu machen und die in der neuen Verfassung festgeschriebenen Rechte einzufordern. Erstaunlicherweise - oder auch nicht - kommen regierungskritische Proteste jedoch von den "oberen Zehntausend" und nicht von jenen, deren finanzielle und sonstige Lebenssituation vielleicht noch immer als eher kärglich bezeichnet werden könnte. Der Widerstand im eigenen Land ist in den Reihen der politisch weitgehend entmachteten Oligarchie und ihrer Anhängerschaft zu verorten, wozu Maßnahmen bestimmter Unternehmen zu rechnen sind, die darauf abzielen, durch absichtlich herbeigeführte oder begünstigte Versorgungsengpässe die Regierung Chávez zu destabilisieren.

Anfang des Jahres, zu Beginn der "dritten Phase der Bolivarischen Revolution", wurde die Ernährungssouveränität, worunter die zunehmende Reduzierung teurer Lebensmittelimporte durch eine verstärkte Nahrungsproduktion zu verstehen ist, zur zentralen staatlichen Aufgabe erklärt. Um die Agrarwirtschaft anzukurbeln, werden und wurden mehr und mehr brachliegende Ländereien den Großgrundbesitzern entzogen und Kleinbauern zur Verfügung gestellt. In der Landfrage entpuppt sich das Bestreben, für die gesamte Bevölkerung Venezuelas eine vollkommen ausreichende Ernährung sicherzustellen, alsbald als ein Kampf zwischen arm und reich. Nach Angaben des venezolanischen Landwirtschaftsministeriums konnte in den zurückliegenden zehn Jahren der Chávez-Regierung allein durch eine Umverteilungspolitik eine Ertragssteigerung von 50 Prozent erzielt werden.

Im Rahmen der derzeitigen "nationalen Strategie zur Nahrungssicherheit", durch die insbesondere die Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Milch und Fleisch erhöht werden soll, soll brachliegendes Land reaktiviert werden. Auf der Grundlage des im Jahre 2001 verabschiedeten "Ley de Tierras y Desarrollo Agrario" (Gesetz für landwirtschaftliche Entwicklung) sollen, wie Landwirtschaftsminister Elías Jaua vor kurzem bekanntgab, fast 20.000 Hektar, die vom Agrarinstitut INTI bereits besetzt wurden, an Kleinbauern vergeben werden. Dies rührt massiv an den Besitzinteressen der Großgrundbesitzer, so auch des ehemaligen Präsidenten des Unternehmerverbandes Fedecamaras, José Manuel González, der die Maßnahmen des Agrarinstituts als illegale Enteignungen sowie einen "Angriff auf die Versorgungssouveränität Venezuelas" bezeichnete.

Damit stellt Gonzáles, der sich sogar dahin verstieg, gegenüber der Presse kaum verhohlen einen Militärputsch zu fordern, indem er erklärte, die Armee solle sich, anstatt sich an dem Vorgehen zu beteiligen, darum "kümmern", die Tatsachen auf den Kopf. Von Enteignungen kann, wie Landwirtschaftsminister Jaua klarstellte, ohnehin nicht die Rede sein, sondern von einer Rückgewinnung von nationalem Land, das Privatleute besetzt hätten, ohne es landwirtschaftlich zu nutzen. Für genau diese Fälle sieht das "Gesetz für landwirtschaftliche Entwicklung die nun vollzogenen Maßnahmen vor. Viele der vermeintlichen Besitzer konnten keine reguläre Besitzurkunde vorweisen. Betroffen von den Landumverteilungen ist unter anderem auch Manuel Rosales, der bei den Präsidentschaftswahlen von 2006 gegen Chávez kandidiert und verloren hatte und sich im peruanischen Exil aufhält, weil er sich einem gegen ihn anhängigen Korruptionsverfahren entzogen hat. Rosales verliert eine 300 Hektar große Länderei, die fortan von einhundert Kleinbauern, die hierzu Kredite vom staatlichen Agrarentwicklungsfonds erhalten, bewirtschaftet werden wird.

Schon im Oktober 2008 hatte die Welternährungsorganisation (FAO) die venezolanische Regierung für ihre Erfolge in der Agrarpolitik gelobt. Ende 2008 hatte Landwirtschaftsminister Jaua in einem Rückblick über die Ergebnisse des seit 2003 bestehenden Gesetzes für landwirtschaftliche Entwicklung bekannt gegeben, daß in den sieben Jahren erst 30 Prozent der insgesamt sieben Millionen ungenutzten und in Großgrundbesitz befindlichen Hektar Land zurückgewonnen werden konnten. Allein 2008 waren über eintausend solcher Grundstücke mit einer Fläche von ingesamt etwa 2,13 Millionen Hektar umverteilt worden. Im krassen Widerspruch zu dem von der oppositionellen Oligarchie und der ihr zugeneigten Presse immer wieder kolportierten Vorwurf, die Enteignungen würden die Nahrungssouveränität Venezuelas beeinträchtigen, konnten durch diese und weitere Maßnahmen, wie die Errichtung neuer Produktionsanlagen sowie den Aufkauf bestehender Betriebe, 2008 sogar Rekordzahlen bei Milch, Mais und Reis erzielt werden.

In laufenden Jahr wurden die Bemühungen und politischen Auseinandersetzungen um die Landfrage noch intensiviert, wobei schwer zu entscheiden ist, welchen Stellenwert dabei die Inangriffnahme der realen Probleme einnimmt in Abgrenzung zu den politischen Konflikten, die um ihrer Lösungsversuche willen seitens der Regierung mit den Latifundistas und ihren Interessenvertretern geführt werden müssen. Im Jahre 2003 hatte die Regierung, um der seinerzeit in Venezuela galoppierenden und mit 31 Prozent höchsten Inflationsrate Lateinamerikas zu begegnen, Preisobergrenzen für Lebensmittel eingeführt, was zur Folge hatte, daß etliche Agrarunternehmen, um diese Begrenzungen zu umgehen, ihre Produkte exportieren.

Im März diesen Jahres hatte Präsident Chávez die vorübergehende Besetzung aller reisproduzierenden Betriebe durch die Nationalgarde angeordnet, um sicherzustellen, daß die maximale Reismenge produziert werde und auf den Markt komme. Sein Vorwurf an die Unternehmen, denen die dauerhafte Enteignung durch den Staat drohte, sollten sie ihre Politik nicht ändern, lautete, daß sie aus Profitgründen die Produktion absichtlich gedrosselt hätten. In anderen Bereichen der Agrarwirtschaft ist es zu solchen Verstaatlichungen längst gekommen. Im Sommer waren die Produktionsanlagen des marktführenden Kaffeeherstellers "Café Madrid" besetzt worden. Er wird künftig in Mehrheitsbesitz des Staates geführt werden, während zwei andere Kaffeehersteller, aber auch Zuckerproduzenten, komplett verstaatlicht wurden. Überprüfungen hätten ergeben, so war aus dem venezolanischen Handelsministerium zu vernehmen, daß die Vorwürfe, denen zufolge die betroffenen Unternehmen Waren gehortet bzw. nach Kolumbien geschmuggelt hätten, um die Preisregulation zu umgehen, zutreffend gewesen waren.

Doch nicht nur im Agrarbereich, sondern auch in anderen Wirtschaftzweigen - allen voran Energieversorgung und Ölförderung, aber auch Telekommunikation, Zement- und Stahlherstellung - sind durch den venezolanischen Staat entweder Mehrheitsanteile aufgekauft oder Komplettverstaatlichungen durchgeführt worden. Das ausgegebene Ziel, die Versorgung der Bevölkerung vollständig durch landeseigene Produktionen sicherzustellen, konnte im Agrarbereich allerdings noch nicht erreicht werden, auch wenn in Hinsicht auf Grundnahrungsmittel wie Milch, Mais, Reis und Teigwaren eine gute Versorgungslage besteht. Durch die bereits eingeleiteten oder geplanten Verstaatlichungen sollen nun Engpässe bei Kaffee und Zucker behoben werden.

Wie groß die allgemeine Mangelversorgung, um nicht zu sagen der Hunger in der Ära vor Chávez gewesen sein muß, läßt sich daraus ableiten, daß in den Jahren von 2004 bis 2006 die Nachfrage nach Lebensmitteln schneller gestiegen ist als deren Produktion. Dies lag auf der Nachfrage-Seite an den Erfolgen der Armutsbekämpfung, hatten sich doch in dieser Zeit die Einkommen der Armen inflationsbereinigt mehr als verdoppelt. Davon suchten die Unternehmen noch zu profitieren, indem sie die stark angestiegenen Löhne durch zum Teil extreme Preissteigerungen abzuschöpfen suchten, was aufgrund der Preisobergrenzen im Lebensmittelbereich auf die davon nicht betroffenen Produkte zutraf, deren Preise nach Angaben des Meinungsforschungsinstituts Datanálisis seit 2004 um 355 Prozent angestiegen sind.

Die von den Gegnern der neuen Landwirtschaftspolitik Venezuelas gern aufgestellte Behauptung, Kleinbauern, Kooperativen und der Staat wären als anteilige Produzenten nicht in der Lage, die Gesamtproduktion zu erhöhen, kann spätestens seit den Ende 2008 veröffentlichten Angaben des Landwirtschaftsministeriums als widerlegt gelten. Die Gegner der Regierung Chávez wird dies nicht davon abhalten können, ihre politische Zersetzungsarbeit fortzusetzen. Die Fakten allerdings sprechen eine so eindeutige Sprache, daß die nicht durch gesonderte Eigentumsrechte privilegierte Bevölkerung sehr genau weiß, was sie von der Bolivarischen Revolution und was von den neoliberalen Konzepten ihrer Gegner sowie der Vorgängerregierungen zu halten hat, werden doch Hunger, Hungeraufstände und deren Niederschlagung wie beim Caracazo-Massaker von 1989 nicht vergessen werden (können).

4. Dezember 2009