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DILJA/1226: Wut und Verzweiflung unter türkischen Kurden - Öcalans Leben in Gefahr (SB)


Versprochene Hafterleichterung für Öcalan ein Täuschungsmänover

Der türkische Staat antwortet mit Gewalt auf kurdische Initiativen für eine politische Lösung des Konflikts


Seit fast elf Jahren befindet sich Abdullah Öcalan, Vorsitzender der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, auf der im Marmara-Meer gelegenen Gefängnisinsel Imrali in Einzelhaft. Anläßlich des 25. Jahrestages des von seiner Partei geführten, am 15. August 1984 in der kurdischen Kleinstadt Eruh erstmals verkündeten und seit langem eingestellten Guerillakampfes gegen den türkischen Staat legte Öcalan aus der Haft einen Plan zur politischen Lösung des Konfliktes vor, eine "Roadmap", wie er es nannte. Zu deren Inhalt hatte der inhaftierte PKK-Vorsitzende Ende August gegenüber seinen Anwälten erklärt, sie enthalte den Standpunkt, daß die kurdische Nation den türkischen Staat nicht in Frage stellen, aber innerhalb seiner Grenzen eigene kurdischsprachige Bildungseinrichtungen wie auch eigene Verteidigungskräfte unterhalten können sollte.

Zu einem vorsichtigen Optimismus schien nicht wegen dieser politischen Initiative Öcalans, sondern mehr noch wegen ähnlich lautender Bekundungen des amtierenden türkischen Ministerpräsidenten, Recep Tayyip Erdogan, von der konservativ-islamischen AKP-Regierung, allemal Anlaß zu bestehen, hatte dieser doch im August erstmals vorgeschlagen, zwangstürkisierte Orte wieder mit ihren kurdischen Namen zu benennen. Dieser Vorschlag des Regierungschefs war Bestandteil einer "kurdischen Inititiave" der AKP-Regierung, deren weitere Einzelheiten jedoch lange Zeit geheimgehalten wurden. Im August verlautbarte ein Regierungssprecher lediglich, die Lösungsinitiative, die in Zusammenarbeit mit dem türkischen Geheimdienst ausgearbeitet worden sein soll, baue auf "Liebe, Frieden und Brüderlichkeit".

Inzwischen hat sich der Verdacht, daß hier der kurdischen Bevölkerung lediglich Hoffnungen gemacht werden sollten, um umso rigoroser gegen ihren politisch aktiven Teil vorzugehen, nahezu zur Gewißheit erhärtet. So erwies sich die wohl nicht zuletzt wegen vielfältiger Proteste aus dem europäischen Ausland gegen die Isolationshaft Öcalans durchgeführte vermeintliche Hafterleichterung für den PKK-Vorsitzenden - am 17. November sollen fünf weitere Gefangene, die wegen Mitgliedschaft in der PKK verurteilt worden waren, in einen Zellenneubau auf der Gefängnisinsel Imrali verlegt worden sein - als perfides Täuschungsmanöver. Tatsächlich hat sich die Haftsituation Öcalans massiv verschlechtert. Er befindet sich in einer neuen, nur sechs Quadratmeter großen Gefängniszelle des für seine Isolationsfolter berüchtigten F-Typs und leidet nach Angaben seiner Anwälte unter Erstickungskrämpfen.

Die auf kurdischer Seite zuvor gehegten Hoffnungen, mit der türkischen Regierung in politische Verhandlungen treten zu können, haben sich jedoch nicht nur deshalb zerschlagen. Der Umgang der Regierung mit der einzigen im türkischen Parlament vertretenen kurdischen Partei, der "Partei für eine Demokratische Gesellschaft" (DTP), weist einen ähnlich krassen Widerspruch zwischen Anschein und Wirklichkeit auf. Nachdem die DTP bei den Kommunalwahlen im März dieses Jahres große Erfolge erzielt hatte, hatte Staatspräsident Abdullah Gül mit einem unausgesprochenen ehernen Gesetz der Türkei gebrochen. Entgegen der seit der Gründung der Türkischen Republik dem Land verordneten Sprachregelung, derzufolge es keine Kurden und deshalb auch keine kurdische Frage gäbe, weshalb Regierung und Militär stets nur von einem "terroristischen" Problem gesprochen hatten, hatte Gül erstmals die zu lösende kurdische Frage thematisiert.

Die Zugeständnisse, die die Regierung im Zuge ihrer großspurig angekündigten Lösungsinitiative der kurdischen Seite anzubieten hatte, entpuppten sich als so geringfügig und marginal, daß von einer echten Kooperationsbereitschaft nicht die Rede sein kann. Am 10. November stellte der türkische Innenminister Besir Atalay das lang gehütete Geheimnis, was denn nun der Regierungsplan enthalte, dem Parlament und somit auch der Öffentlichkeit vor. Die Anerkennung der kurdischen Sprache in der Verfassung wird den Kurden weiterhin verwehrt; ebensowenig sind Regierung und Militär bereit, deren Forderung nach kurdischsprachigem Unterricht zu akzeptieren. Nicht einmal die drei Buchstaben X, Q und W, die in der kurdischen, aber nicht in der türkischen Sprache vorkommen und die deshalb verboten sind, werden zugelassen, weshalb kurdischen Kindern nach wie vor keine Namen mit diesen Buchstaben gegeben werden können.

Die DTP ihrerseits steht vor dem Verbot. Die Generalstaatsanwaltschaft hatte bereits vor zwei Jahren ein Verbotsverfahren gegen die Kurdenpartei angestrengt mit der Begründung, sie würde mit ihrer Forderung nach mehr Rechten für die Kurden gegen die in der Verfassung verankerte "unteilbare Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk" verstoßen und würde Weisungen der PKK befolgen. Seit dem gestrigen Dienstag beraten die Richter des Obersten Gerichts über diesen Verbotsantrag. Würde diesem, wie angesichts der gesamten Entwicklung der letzten Monate zu befürchten steht, stattgegeben werden, würde das Rad der Geschichte noch weiter als ohnehin schon zurückgedreht und eine politische Lösung des Kurdenproblems einmal mehr vereitelt werden. Dabei hatte es noch im August ganz so ausgesehen, als hätte es tatsächlich zu politischen Verhandlungen kommen können, hatte doch Innenminister Besir Atalay erstmals die Zentrale der DTP in Ankara besucht und dort mit deren Vorsitzenden Ahmet Türk gesprochen.

Nach diesem Treffen hatte Atalay erklärt, es gelte nun, ein "Projekt der Brüderlichkeit und des Friedens voranzubringen". Dessenungeachtet sah sich die DTP, die, wie ihr Vorsitzender Türk bestätigte, für eine neue Türkei, in der Türken und Kurden friedlich zusammenleben können, eintrete, weiterhin dem Verbotsverfahren ausgesetzt, das nun vor dem Obersten Gericht gegen sie verhandelt wird. Am 15. August 2009 gedachten 25.000 Menschen auf einem von der DTP organisierten Kulturfestival der 25 Jahre zuvor gegründeten PKK-Guerilla. Die Demonstranten wie auch die anwesenden DTP-Mitglieder forderten eine friedliche Lösung des Konflikts, und zwar, wie der DTP-Abgeordnete Osman Özcelik erklärte, unter Einbeziehung Öcalans.

Ende August hielt die Regierung Erdogan ihr Versprechen, ein demokratisches Reformpaket zur Lösung der Kurdenfrage auf den Weg bringen zu wollen, zwar noch immer aufrecht, doch gleichzeitig intensivierte das türkische Militär seine Operationen in den Kurdengebieten. Mit Kampfhubschraubern und unter Einsatz paramilitärischer "Dorfschützer" ging das Militär in großangelegten Manövern gegen die in diesen Gebieten verbliebenen kurdischen Kämpfer der PKK vor. In der kurdischen Region Dersim (seitens der türkischen Regierung Tunceli genannt) wurde Ende August ein bereits im Frühjahr verhängter Ausnahmezustand bis Ende November verlängert. Die Bevölkerung Dersims steht unter starkem wirtschaftlichen Druck, da die Bauern und Hirten ihre Tiere aufgrund des Ausnahmezustands nicht auf die Weiden der umliegenden Gebiete bringen und sich teures Tierfutter nicht leisten können.

Am 1. September, dem Weltfriedenstag, demonstrierten abermals mehrere hunderttausend Menschen in Diyarbakir, aber auch in anderen kurdischen Städten sowie der Hauptstadt Istanbul, für eine politische Lösung. Wenige Tage später kam es in den kurdischen Provinzen im Nordosten zu Gefechten, in deren Verlauf zehn türkische Soldaten getötet worden sein sollen. Aus dem Hauptquartier der kurdischen Volksverteidigungskräfte wurde dazu verlautbart, daß es sich bei den Gefechten um Selbstverteidigungsmaßnahmen gehandelt habe und daß die Guerilla seit April die Waffen ruhen lasse, um eine politische Lösung zu ermöglichen.

Aus Sicht der Türkei stellt sich die Situation gänzlich anders dar, wobei unklar ist, in welchem Verhältnis die regierende AKP und ihr Ministerpräsident Erdogan gegenüber dem Militär bzw. der äußersten Rechten in dieser Frage steht. Erdogans Minimalzugeständnisse wie die Rückbenennung zwangstürkisierter Ortschaften stießen bereits auf massivsten Widerstand der türkisch-nationalistischen Rechten, die dem Ministerpräsidenten deshalb vorwarf, das Land "spalten" zu wollen. Da die Türkei nach wie vor als eine Militärdiktatur im Wartestand anzusehen ist, da daß Militär im Hintergrund wie eine graue Eminenz über jede Regierung wacht und dieser ihren politischen Spielraum zugesteht, muß angenommen werden, daß die tatsächlichen Möglichkeiten Erdogans und der AKP, mit der bisherigen Linie in der Kurdenpolitik zu brechen und eine Verhandlungslösung herbeizuführen, bei Null liegen.

Anfang November zog der PKK-Führer Murat Karayilan gegenüber der französischen Nachrichtenagentur AFP folgende Schlußfolgerung: "Die AKP hatte niemals die Absicht, die Kurdenproblematik zu lösen. Sie spielt Theater." Karayilan zufolge wären eine sofortige Beendigung der militärischen Maßnahmen in den Kurdengebieten sowie die Aufnahme eines Dialogs zwischen Regierung und kurdischen Repräsentanten die Vorbedingungen für einen Frieden. Unzufriedenheit, Enttäuschung, Verzweiflung und Wut haben unter der kurdischen Bevölkerung unterdessen zu massiven Protesten geführt, die vom Militär mit abermals verstärkter Gewaltanwendung beantwortet wurden. Jugendliche Kurden lieferten sich militante Auseinandersetzungen mit der Polizei, angeheizt durch den Tod des am 6. Dezember in Diyarbakir erschossenen 23jährigen Studenten Aydin Erdem.

Einen von der DTP organisierten und von Bürgermeistern sowie Abgeordneten der Kurdenpartei angeführten Demonstrationszug, auf dem gegen die Kurdenpolitik der Regierung sowie die Isolationshaft gegen Öcalan protestiert worden war, hatte die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern zu stoppen gesucht, wogegen sich viele Demonstranten mit Steinen und Molotow-Cocktails zur Wehr gesetzt haben sollen. Für den Tod Erdems, der ums Leben kam, als die Polizei das Feuer auf die Demonstranten eröffnete, forderten bei der anschließenden Trauerfeier Tausende Rache. Noch am selben Tag wurden über 250 kurdische Demonstranten festgenommen und Hunderte verletzt. Schon zuvor waren während der an Intensität zunehmenden Auseinandersetzungen, die einem allgemeinen kurdischen Aufstand nahekommen, schon sehr viele Kurden, unter ihnen auch etliche DTP-Mitglieder, verhaftet worden.

Eine politische Lösung des Konflikts ist nicht in weite Ferne gerückt, sondern in weite Ferne gerückt worden. Dieser Unterschied ist keineswegs semantischer Natur, sondern soll zum Ausdruck bringen, daß der auf kurdischer Seite sehr wohl vorhandenen und fraglos feststellbaren Verhandlungsbereitschaft ungeachtet der Versprechungen der AKP-Regierung kein gleichwertiges Pendant auf seiten des türkischen Staates gegenübersteht. Das Leben Öcalans scheint in akuter Gefahr, die einzige pro-kurdische Partei steht vor ihrem Verbot - und dies zu einem Zeitpunkt, an dem die kurdische Seite einmal mehr glaubwürdige Schritte unternommen hat, um unter vollständiger Akzeptanz des türkischen Staates den jahrzehntealten Konflikt beizulegen, so nur ihre durchaus moderaten Forderungen nach kultureller Anerkennung erfüllt werden würden.

9. Dezember 2009