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DILJA/1272: Israels Position nach Feuerüberfall auf Gaza-Flottille ungebrochen aggressiv (SB)


Israels Regierung lenkt ungeachtet internationaler Proteste nicht ein

Feuerüberfall auf die Free-Gaza-Flottille zieht unkalkulierbare politische Konsequenzen nach sich


Zwei Tage nach dem äußerst brutalen und völkerrechtswidrigen Überfall der israelischen Marine auf einen Schiffskonvoi der "Free Gaza Bewegung", der vollkommen unbewaffnet und mit Hilfsgütern aller Art sowie rund 700 Unterstützern die gegen die palästinensische Bevölkerung des Gazastreifens verhängte Blockade durchbrechen wollte, ist die Frist verstrichen, die gutwilligste Zeitgenossen der israelischen Regierung einzuräumen gewillt gewesen sein könnten, auf daß diese sich bei allen Betroffenen, insbesondere den zum Teil schwerverletzten Aktivisten sowie den trauernden Angehörigen und Freunden der Todesopfer sowie der Öffentlichkeit in aller Form zu entschuldigen. Eine solche Entschuldigung hätte nichts von all dem, was in den frühen Morgenstunden des 31. Mai im östlichen Mittelmeer weit entfernt von israelischen Hoheitsgewässern geschah, ungeschehen machen und die Verantwortung der israelischen Regierung nicht im mindesten schmälern können.

Gleichwohl hätten solche, der Situation angemessenen Worte und Erklärungen womöglich die unbändige Wut und helle Empörung, die Israel mit seiner jüngsten Aggression auf sich gezogen hat und die keineswegs nur von der palästinensischen Bevölkerung sowie den Menschen in den arabischen Staaten geteilt wird, sondern auch - und zwar über die Kreise der betroffenen und an der humanitären Mission beteiligten Organisationen hinaus - die westlichen Staaten, aber auch die aller übrigen Kontinente erfaßt hat, besänftigen können. Die Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, der infolge der Ereignisse seinen für Dienstag geplanten Besuch im Weißen Haus absagte, hat es jedoch in den zurückliegenden Stunden und Tagen verabsäumt, in eigener Sache aktiv zu werden. Sie nahm davon Abstand, die von ihr beanspruchte Position - und sei es zum Schein bzw. in Hinsicht auf die westlichen Verbündeten, die angesichts dieses barbarischen Aktes vor nicht unerheblichen Glaubwürdigkeitsproblemen stehen - auch nur ein ganz klein wenig zurückzunehmen.

Stattdessen stampfte sie wie ein trotziges Kind mit dem Fuß auf und goß Öl in das offene Feuer, so als habe sie noch nicht genug angerichtet mit einer Militäroperation, in deren Folge mindestens zehn und möglicherweise sogar bis zu zwanzig Menschen den Tod fanden. So hatte der frühere israelische Ministerpräsident und jetzige Verteidigungsminister General a. D. Ehud Barak, unter dessen Oberbefehl der Angriff auf die Gaza-Flottille durchgeführt worden war, schon wenige Stunden nach dem tödlichen Geschehen erklärt, daß die Soldaten der israelischen Marine beim Entern der Schiffe auf Widerstand gestoßen und mit Messern und Eisenstangen angegriffen worden wären und erst daraufhin das Feuer eröffnet hätten. Inzwischen wurden genügend Augen- und Ohrenzeugenberichte veröffentlicht sowie Videoaufzeichnungen ins Netz gestellt, um diese Darstellung als bloße Schutzbehauptung erscheinen zu lassen.

Der israelische Industrie- und Handelsminister Benjamin Ben Elieser hat die Fernsehbilder, wohlbemerkt die Bilder, nicht etwa die auf ihnen festgehaltenen Ereignisse von der gewaltsamen Erstürmung der Hilfsschiffe, ebenfalls am Montag als "nicht schön" bezeichnet. Er behauptete, die Armee habe nicht die Absicht gehabt zu schießen und erklärte, es habe eine "enorme Provokation" gegeben. Darunter wollte Elieser verstanden wissen, daß die (die Schiffe überfallenden) Soldaten mit Äxten und Messern erwartet worden wären. Aus israelischer Sicht stellt jedoch in einem weitaus grundsätzlicheren Verständnis die gesamte Aktion, die gegenüber früheren, zu einem geringen Teil auch erfolgreichen Versuchen, die Blockade mit einzelnen Schiffen zu durchbrechen, mit einer kleinen Flottille von zuletzt sechs Schiffen durchgeführt worden war, eine einzige "Provokation" dar, weil sie die politische und mediale Tabuisierung der Gaza-Blockade wirkungsvoll zu durchbrechen imstande ist ganz unabhängig davon, ob es, wie von den Aktivisten beabsichtigt, den verbliebenen Schiffen noch gelingen wird, den Gazastreifen zu erreichen.

Die von anfangs rund 700 Aktivisten aus insgesamt 40 Nationen, unter ihnen zahlreiche Prominente und Parlamentsabgeordnete verschiedener Länder, in dem gemeinsamen Bestreben, die an den Palästinensern des Gazastreifens exekutierte Demütigungs- und Zersetzungsstrategie Israels zu durchkreuzen, durchgeführte Aktion hat durch deren gewaltsames und für bis zu 20 Menschen sogar tödliches Ende einen aus israelischer Sicht kontraproduktiven Verlauf genommen. Hätte die israelische Armee entgegen ihrer vorherigen Androhungen die kleine Flottille passieren lassen, hätte ihre Blockadepolitik zwar "Schaden" genommen durch die Ankunft dringend benötigter Hilfsgüter und vor allem auch der Baumaterialien, mit deren Hilfe der von Israel seit dem Gazakrieg von 2008/09 torpedierte Wiederaufbau hätte in Angriff genommen werden können. Israel hätte jedoch nicht am Pranger einer Weltöffentlichkeit gestanden, weil es einen zivilen Hilfskonvoi militärisch angegriffen und damit eine "rote Linie" überschritten hat, die es seinen westlichen Verbündeten nahezu unmöglich macht, in aller Offenheit Israel den Rücken zu stärken.

So erklärt sich das beredte Schweigen der Obama-Administration, die in anderen Konflikten schon bei nichtigsten Anlässen gern die Rolle des mit weltweitem Mandat versehenen Hüters der Menschenrechte einnimmt. Man versuche sich nur einmal die Reaktionen führender NATO-Staaten auszumalen, hätte sich, nur um ein Beispiel zu nennen, die bereits ins Fadenkreuz künftiger Weltordnungskriege gerückte Islamische Republik Iran einen solchen Seeüberfall auf unter westlichen Flaggen fahrende zivile Schiffe zuschulden kommen lassen und dann, wie Israels stellvertretender Außenminister Danny Ayalon, zur Diskreditierung der überfallenen, angegriffenen und entführten Passagiere Behauptungen aufgestellt, die dessen Erklärung, die Flotte sei "eine Armada aus Haß und Gewalt zur Unterstützung der Hamas", vergleichbar gewesen wären.

In einem solchen Fall hätten die westlichen Staaten sich wohl kaum darauf beschränkt, in allgemein gehaltenen Worten ihrer Bestürzung Ausdruck zu verleihen, ohne den Aggressor als Aggressor zu benennen und ihm Vorwürfe zu machen. Hätte Bundeskanzlerin Merkel in einem derartigen, völlig fiktiven Fall mit dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinejad telefoniert, um ihre tiefe Sorge zum Ausdruck zu bringen und darauf hinzuweisen, daß "wir alles unternehmen müssen, damit es in dieser schwierigen Situation keine Eskalation gibt"? [1] In Israel selbst wuchs unmittelbar nach dem blutigen Feuerüberfall die Sorge vor einem erneuten Aufflammen palästinensischen Widerstands. Israel müsse, so hieß es in der als liberal geltenden israelischen Tageszeitung Haaretz, "schnell daran arbeiten, eine dritte Intifada zu verhindern". Dr. Usama Antar, ein Politologe in Gaza-Stadt, hält es für ausgeschlossen, daß es im Gazastreifen ungeachtet der vorherrschenden Wut zu einer neuen Intifada kommen könnte. In einem Gespräch mit der jungen Welt erklärte er [2]:

Dieser Überfall des israelischen Militärs wird nicht in Vergessenheit geraten. Es sind dabei dieses Mal keine Palästinser ums Leben gekommen, sondern Ausländer - wer in aller Welt soll jetzt noch glauben, diese Kommandoaktion sei ein Akt der Selbstverteidigung Israels gewesen?

Und genau hierin liegt das Problem Israels und seiner engsten Verbündeten. Es ist schlechterdings nicht zu leugnen, daß der Überfall in internationalen Gewässern stattgefunden hat und daß Israel selbst beim besten Willen, zu seiner Rechtfertigung welchen Paragraphen auch immer hervorzuziehen, keinerlei Recht hatte, die Schiffe anzugreifen. So sprach denn auch der frühere Bundestagsabgeordnete der Linkspartei und Völkerrechtler Norman Paech, der selbst mit auf einem der Schiffe gewesen und inzwischen wieder wohlbehalten nach Deutschland zurückgekehrt ist, von einem "Kriegsverbrechen" Israels und nicht, wie von Israel behauptet, von einem "Akt der Selbstverteidigung".

Auf hoher See haben Schiffe aller Nationen, also auch israelische, bestenfalls, so ein begründeter Verdacht auf Piraterie vorliegt, das Recht, ein fremdes Schiff zu kontrollieren. Generell gilt die "Freiheit auf hoher See", und so steht außer Frage, daß die israelische Marine, indem sie sich Hoheitsrechte anmaßte, die ihr überhaupt nicht zustehen, ihrerseits einen gravierenden Akt der Piraterie begangen hat mit der Folge, daß die angegriffenen Menschen auf den Schiffen das Recht der Selbstverteidigung auf ihrer Seite hatten.

Die israelische Regierung hat im Grunde sogar zugegeben, daß sie mit dieser Operation ihre Palästinenserpolitik mit militärischen Mitteln fortgesetzt hat. Auf die Frage eines irischen Rundfunkjournalisten hatte der israelische Botschafter in Dublin, Dr. Zion Evrony, noch am Montagvormittag erklärt, daß die "Provokation" der Menschenrechtsflottille darin bestanden hätte, daß die Blockade des Gazastreifens zusammengebrochen wäre, wäre es der Freiheitsflotte und im Anschluß daran noch weiteren Schiffen gelungen, auf dem Seeweg das gesperrte Gebiet zu erreichen. Eine solche "Provokation" war und ist von den Aktivisten der Free-Gaza-Bewegung jedoch voll und ganz beabsichtigt. Nach diesem schweren Verbrechen Israels und der wachsweichen Haltung, die westliche Regierungen gegenüber Tel Aviv einnehmen, steht nun zu erwarten, daß sich mehr und mehr Menschen auch in den EU-Staaten sowie in den USA dieser Solidaritätsbewegung anschließen, weil deren Anliegen, wenn auch indirekt und von der israelischen Führung unbeabsichtigt, durch das kriegerische Vorgehen der israelischen Streitkräfte schlaglichtartig transparent und nachvollziehbar gemacht worden ist.

Anmerkungen

[1] Bestürzung über israelischen Marineeinsatz gegen Gaza-Hilfskonvoi, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, "REGIERUNGonline", 31.05.2010
http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2010/05/2010-05-31-marineeinsatz-gaza.html

[2] "Die Menschen in Gaza kochen vor Wut". Nach der Nachricht vom Überfall: Unruhen auf den Straßen, Großdemonstration, Staatstrauer. Ein Gespräch mit Usama Antar, junge Welt, 01.06.2010, S. 2

2. Juni 2010