Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1276: Quo vadis, Israel? NATO-Staat Türkei geht nicht zur Tagesordnung über (SB)


Wird das israelische Militär wie angedroht auch das nächste Hilfsschiff der Free-Gaza-Bewegung gewaltsam stoppen?

Innerhalb der NATO zieht allein die Türkei ernsthafte Konsequenzen


Als Kevin Ovenden, der seit dem Überfall der israelischen Marine auf die kleine Flottille der "Free Gaza Bewegung", die am frühen Morgen des 31. Mai im östlichen Mittelmeer gewaltsam an der Weiterfahrt zum Gazastreifen gehindert wurde, als vermißt gegolten hatte, nach seiner Freilassung sowie dem Flug an Bord einer türkischen Maschine in Istanbul das Wort an die dort versammelten Anhänger und Unterstützer richtete, machte der Leiter der britischen Hilfsflottille "Viva Palestina" aus seinem Zorn auf die israelische Regierung keinen Hehl. Am frühen Morgen des 3. Juni hielt er in Istanbul eine Ansprache, in der er die Forderung aufstellte, daß das Massaker auf der Mavi Marmara einen Wendepunkt darstellen müsse. Den mörderischen Überfall der israelischen Streitkräfte auf Passagiere aus 32 Ländern bezeichnete er in Anspielung auf den Antiapartheidskampf Südafrikas als das "Sharpeville und das Soweto der Palästina-Solidaritätsbewegung".

In der Türkei fallen solche Stellungnahmen auf einen fruchtbaren Boden nicht nur in Hinsicht auf die hiesigen Unterstützer der "Free Gaza"-Bewegung, die den weitaus größten Anteil an den insgesamt fast 700 Menschen hatten, die durch ihre persönliche Anwesenheit den Versuch, die seit drei langen Jahren bestehende Blockade des Gazastreifens durch einen zivilen Konvoi mit Hilfsgütern zu durchbrechen, zu einem Erfolg verhelfen wollten. Die türkische Regierung hat sich, wie den Schilderungen und Stellungnahmen zahlreicher Aktivisten, die von den israelischen Streitkräften nach dem äußert gewaltsam durchgeführten Überfall, bei dem mindestens neun Menschen getötet wurden, entführt und erst nach internationalen Protesten wieder freigelassen wurden, zu entnehmen ist, in einer für sie überraschenden Weise solidarisch gezeigt.

Dementsprechend heftig fielen auch die Proteste und Erklärungen der türkischen Regierung um Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan aus. Nach Angaben des Leiters der türkischen Gaza-Hilfsorganisation, Bülent Yildirim [1], wurden die israelischen Soldaten, nachdem sie die Hilfsschiffe geentert hatte, keineswegs, wie von Israel behauptet, von diesen angegriffen. Einigen Passagieren wäre es zwar gelungen, so Yildirim, den Soldaten Schußwaffen zu entreißen, doch nur, um die Waffen umgehend über Bord zu werfen und nicht, um auf die Soldaten zu schießen. Noch immer werden Menschen vermißt, erklärte der türkische Aktivist desweiteren und fügte hinzu, daß seines Wissens nach einige Tote über Bord geworfen worden seien. Die israelischen Behörden weigern sich noch immer, die Zahl der getöteten Menschen bekannt zu geben. Neun Opfer, acht von ihnen waren Türken, wurden inzwischen in die Türkei überführt.

Der türkische Ministerpräsident Erdogan stellte unterdessen klar, daß seine Regierung diesen Vorfall nicht auf sich beruhen lassen wird. Damit zeichnet sich bereits ab, daß Ankara innerhalb der NATO eine rühmliche Ausnahme darstellt, da sich die Protesterklärungen der übrigen Mitgliedsländer gegenüber den türkischen Stellungnahmen verhalten ausnehmen. Erdogan will gegen die Verantwortlichen des Überfalls Strafanzeige stellen - nichts dergleichen wurde von anderen Regierungsverantwortlichen innerhalb der NATO bislang verlautbart. Desweiteren begrüßte der türkische Regierungschef ausdrücklich, daß das durch die Gaza-Blockade ausgelöste Leid der Palästinenser infolge der Ereignisse international auf die Agenda gesetzt wurde. In Israel wurde der deutliche Unterschied zwischen den türkischen Reaktionen und denen der übrigen westlichen Verbündeten bereits zur Kenntnis genommen und durch direkte Anschuldigungen, die kaum noch als diplomatische Seitenhiebe klassifiziert werden können, beantwortet.

Der im Westen wohlgelittene israelische Außenminister Avigdor Lieberman erklärte, daß Israel sich nichts vorzuwerfen habe und daß für die deutliche Verschlechterung der türkisch-israelischen Beziehungen allein Ankara verantwortlich sei. "Der Auslöser der Veränderungen in den israelisch-türkischen Beziehungen sind allein interne Wandlungen innerhalb der türkischen Gesellschaft" [1], so Lieberman, der seinen Verbalattacken eine indirekte Kriegsdrohung anfügte, indem er die aktuelle Situation mit der islamischen Revolution im ehemaligen Persien von 1979 verglich, aus der die jetzige, alsbald zum Intimfeind Israels erklärte Islamische Republik Iran hervorging.

Seinerzeit waren die diplomatischen Beziehungen zum jungen Iran von Israel abgebrochen worden, die Kriegsdrohungen gegen Teheran sind heute quasi mit Händen zu greifen. Die Botschaft an die Türkei, bei der laut Lieberman "die ganze Schuld vom Anfang bis zum Ende" liege, ist kaum mißzudeuten. Käme es tatsächlich zu einer militärischen Aggression Israels gegen die Türkei, würde für die NATO der Bündnis- und Verteidigungsfall eintreten, was deren Verantwortichen, da sie ihr Mitglied Türkei gegen einen Angreifer schützen müßten, ganz gewiß nicht recht sein kann.

[1] Gaza-Hilfsflottille. Israel will eigene Untersuchungskommission, Zeit Online (AFP, dpa, Reuters), 3. Juni 2010,
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-06/gaza-schiff-untersuchung

4. Juni 2010