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DILJA/1278: Die jüngsten Verbrechen Israels aus lateinamerikanischer Sicht (SB)


Nicaragua bricht diplomatische Beziehungen zu Israel ab

Vorwürfe eines Überlebenden des israelischen Überfalls auf die Free-Gaza-Flottille an die europäischen Staaten und Medien


Von einem Zerwürfnis zwischen den westlichen Staaten und Israel kann ungeachtet der ohnehin verhalten ausgefallenen Protesterklärungen zu dem Überfall der israelischen Marine auf den zivilen Hilfskonvoi "Free Gaza" am 31. Mai nicht die Rede sein. In anderen Regionen der Welt sieht dies deutlich anders aus. In Lateinamerika etwa wird das israelische Vorgehen von den dortigen Staats- und Regierungschefs nahezu einhellig verurteilt. Die Regierung Nicaraguas hatte umgehend ihre diplomatischen Beziehungen zu Tel Aviv abgebrochen, was Präsident Daniel Ortega am 2. Juni mit den Worten erläuterte, daß sich diese Maßnahme gegen "die Regierung Israels, nicht gegen das israelische Volk, das unseren Respekt verdient und dessen Mehrheit, davon bin ich überzeugt, Frieden und eine Lösung dieses historischen Problems will" [1], richtet. Letzteres darf und muß bezweifelt werden, will man jüngsten Meinungsumfragen Glauben schenken, die eine ebenso hohe Zustimmung der israelischen Bevölkerung zu dem jüngsten Vorfall ergeben haben sollen wie schon zum international nicht minder scharf kritisierten Gazakrieg 2008/2009.

Nicaragua hat seine Entscheidung nicht von den Ergebnissen etwaiger Untersuchungskommissionen abhängig gemacht, über deren Einsetzung und Zusammensetzung bis heute gestritten wird, wobei deutlich zu Tage tritt, daß Israel als der potentiell Angeklagte mit im Boot sitzen, ihm also aller Voraussicht nach gestatten wird, quasi in eigener Sache eine Untersuchung zu leiten oder mitzugestalten, die angesichts dieser Umstände nicht, wie vom Weltsicherheitsrat gefordert, unabhängig und transparent sein kann. Der nicaraguanische Präsident vertrat demgegenüber sogar die Auffassung, daß es überflüssig sei, das Massaker untersuchen zu wollen oder gar eine Wahrkeitskommission einzusetzen. Der Angriff der israelischen Marine in internationalen Gewässern auf eine kleine Flottille ziviler Schiffe stellt für Nicaragua einen klaren Bruch internationalen Rechts dar.

Mit dieser Auffassung scheint das mittelamerikanische Land, legt man die veröffentlichten Stellungnahmen und Kommentare der von westlichen Agenturen und Medien dominierten sogenannten internationalen Presse zugrunde, relativ allein dazustehen. Doch dieser Eindruck täuscht, da namentlich in Lateinamerika die meisten Staaten die Auffassung Nicaraguas teilen. So können beispielsweise Venezuela und Bolivien ihre diplomatischen Beziehungen zu Israel nicht abbrechen, weil sie dies schon Anfang 2009 getan haben aus Protest gegen die Völkerrechtsverstöße der israelischen Armee im Gazakrieg, über die der Goldstone-Bericht der Vereinten Nationen später dezidiert Aufschluß gab.

Die Union der Südamerikanischen Staaten (Unasur) hat den jüngsten israelischen Überfall auf die Hilfsflotte ebenso umgehend wie unmißverständlich verurteilt. Die Regierung Paraguays hat zudem in einem eigenen Kommuniqué den israelischen Angriff abgelehnt und ihre Entrüstung zum Ausdruck gebracht. Der venezolanische Staatspräsident Hugo Chávez hat schon in einer ersten Twitter-Meldung von einem "brutalen Massaker Israels" gesprochen und die Frage nach der Rolle der Vereinten Nationen und des Internationalen Gerichtshofs aufgeworfen. Die nichtständigen Mitglieder des Weltsicherheitsrates Uganda, Brasilien und Mexiko haben nicht nur den jüngsten Überfall verurteilt, sondern sich der weltweit vielfach erhobenen Forderung nach einer Aufhebung der Gaza-Blockade durch Israel angeschlossen. Dies hatte auch die kubanische Regierung schon in einer am 1. Juni veröffentlichten Erklärung getan, in er es hieß [2]:

Das Außenministerium verurteilt energisch diesen hinterhältigen und verbrecherischen Angriff der Regierung Israels und ruft die internationale Gemeinschaft und die friedliebenden Völker auf, von den israelischen Behörden die sofortige Aufhebung der gegen das palästinensische Volk im Gazastreifen gerichteten illegalen, schonungslosen und völkermörderischen Blockade zu verlangen.

Unterdessen hat ein Überlebender des israelischen Angriffs vom 31. Mai, der Spanier David Segarra, Vorwürfe auch gegen die europäischen Regierungen und westlichen Medien erhoben. Segarra gehörte nach Angaben von "Reporter ohne Grenzen" zu den rund 60 Journalisten, die die Gaza-Flottille direkt begleitet haben und über die Geschehnisse aus erster Hand berichten wollten. Der Mitarbeiter des lateinamerikanischen Fernsehsenders Telesur mußte mehrere Tage in israelischem Gewahrsam verbringen. "Reporter ohne Grenzen" hatte in einer am 2. Juni veröffentlichten Presseerklärung seine sowie die Freilassung weiterer 15, der Organisation namentlich bekannter Journalisten gefordert, die länger als die meisten der entführten Passagiere festgehalten wurden.

Nach seiner Freilassung kritisierte Segarra auf einer Pressekonferenz das Verhalten der spanischen Regierung, die das Schicksal ihrer Bürger - zwei weitere Spanier, Manuel Tapial und Laura Arau, hätten sich an Bord eines der Schiffe befunden - vernachlässigt hätte, um ihre Beziehungen zur israelischen Regierung nicht zu gefährden. Der Telesur-Mitarbeiter sparte nicht an Kritik an der gesamten Europäischen Union, die er der "Feigheit" [3] bezichtigte. Seiner Meinung nach habe sie sich "lächerlich" gemacht mit ihrer nachgiebigen Haltung gegenüber der israelischen Regierung, die deutlich zu kritisieren sie im Unterschied zu den lateinamerikanischen Staaten vermied. In Hinsicht auf die westlichen Medien, die es unterlassen hätten, über die tatsächliche Situation zu informieren, machte der spanische Journalist seinen Standpunkt deutlich, daß diese es zugelassen hätten, sich vollständig der Kontrolle wirtschaftlicher Gewalt zu überantworten.

Unterdessen hat der venezolanische Präsident Chávez in seiner wöchentlichen Kolumne die Doppelmoral der USA kritisiert und seiner Forderung nach einer Bestrafung der israelischen Verantwortlichen Nachdruck verliehen. Bei dieser Gelegenheit stellte er die Frage, wie es eigentlich angehen könne, daß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zwar den Angriff auf die Freiheitsflotte verurteile, nicht jedoch den Angreifer? Seine Vermutung, daß einmal mehr der lange Arm des US-Imperiums für eine schnelle Rechtfertigung Israels gesorgt habe, dürfte seitens der amerikanischen Regierung, der Chávez vorhielt, die Straffreiheit der israelischen Regierung zu garantieren, schwerlich zu widerlegen sein. Die "Feigheit", die David Segarra bei den Regierungen der EU-Staaten ausgemacht hat, dürfte in einem engen Zusammenhang zu dieser Interessenachse liegen und weniger mit einem moralisch verwerflichen Fehlverhalten als mit den geostrategischen Interessen der EU zu begründen sein.

Die gezielte und wohlproportionierte "Kritik", die seitens der Europäer nun geäußert wird, steht somit von der ersten Silbe an in dem Ruch, aus dem extremen Ansehensverlust, den Israel und im zweiten Schritt auch die USA angesichts der jüngsten Ereignisse und der weltweiten Verurteilung dieses militärischen Angriffs auf unbewaffnete Zivilisten zu kompensieren haben, politisches Kapital schlagen zu wollen. Das "alte Europa" möchte, so hat‹s den Anschein, als der bessere Weltenherrscher wahrgenommen werden, und da machen die politischen Strategen keineswegs vor der medialen Instrumentalisierung der Gaza-Aktivisten halt, die am 31. Mai von israelischen Soldaten erschossen wurden und um derentwillen es den europäischen Regierungsverantwortlichen bezeichnerweise nicht in den Sinn gekommen wäre, eine offizielle Trauerfeier zu veranstalten oder ihnen zu Ehren eine EU-weite Gedenkminute zu initiieren.

Anmerkungen

[1] Ortega verurteilt Israels Massaker, junge Welt 04.06.2010, S. 1

[2] Die Welt schreit auf. Nach dem Überfall der israelischen Marine auf Friedensflotte für den Gazastreifen: Regierungen und Bürger protestieren, von André Scheer, Christian Bunke und Knut Mellenthin, junge Welt, 02.06.2010, S. 3

[3] Segarra llama "cobarde" a Europa por su falta de firmeza al condenar ataque israelí, Telesur, 5.6.2010,
http://www.telesurtv.net/noticias/afondo/nota.php?ckl=73125&cc=224

[4] Chávez pide medidas serias para castigar al Gobierno de Israel, Telesur, 7.6.2010,
http://www.telesurtv.net/noticias/secciones/nota/73141-NN/chavez-pide-medidas-serias-para-castigar-al-gobierno-de-israel/

8. Juni 2010