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DILJA/1303: "Indigene Fragen" zur Diskreditierung Venezuelas instrumentalisiert (SB)


Die Ethno-Karte sticht nicht

Anschuldigungen gegen Linksregierungen in Lateinamerika wegen der Lage der indigenen Völker offenbaren die Absichten ihrer Urheber


Den auf den 9. August terminierten "Internationalen Tag der Indigenen Völker" nahmen Navi Pillay, die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, und Bartolomé Clavero, Vizepräsident des Ständigen Forums der Vereinten Nationen für indigene Fragen, zum Anlaß, um mit Blick auf die angeblich unzureichend umgesetzten Rechte der indigenen Völker in den lateinamerikanischen Staaten die Frage aufzuwerfen, ob sich der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" nach rechts bewege [1]. Bekanntlich wird unter diesem Begriff die aus Sicht der führenden westlichen Staaten, allen voran den USA, aber auch den tonangebenden EU-Staaten, unerwünschte, um nicht zu sagen inakzeptable Linksentwicklung Lateinamerikas verstanden, die in Venezuela unter Präsident Hugo Chávez, in Bolivien unter Evo Morales und in Ecuador unter Rafael Correa ihre engagiertesten Träger und Vorkämpfer gefunden hat.

Über selbstverständlich auch kritische Fragen zum "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", seinen theoretischen Hintergrund und mehr noch den Stand seiner praktischen Umsetzungen in den genannten Ländern wie auch den übrigen Mitgliedern der "Bolivarischen Allianz für die Völker Unseres Amerikas" (ALBA), einem zu dem Zweck, die politische und wirtschaftliche Hegemonie des Westens zu brechen, gegründeten Staatenbündnis, ließe sich eine Menge gerade auch zur Situation der indigenen Völker sagen. Die UN-Hochkommissarin Pillay konstatierte am 9. August zunächst, daß es bei der Verwirklichung der Rechte der indigenen Völker Fortschritte gegeben habe und daß dies ein Grund zur Freude sei. Gleichwohl gemahnte sie, sich mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden zu geben und erklärte, daß die "fortgesetzten Verletzungen der Rechte indigener Völker in allen Teilen der Welt unsere größte Aufmerksamkeit und Handlungsbereitschaft" [1] verdienten.

Pillay wie auch Clavero stellten jedoch einen "deutlichen Rückschritt hinsichtlich der Respektierung indigener Rechte in verschiedenen Ländern Lateinamerikas" fest. Der Vizepräsident des UN-Forums für indigene Fragen behauptete desweiteren, daß sich im vergangenen Jahr "die Situation verschlechtert [habe], sogar in den Staaten, in denen es wichtige konstitutionelle Anerkennungen gegeben hat" [1]. Konkret benannte Clavero Peru, Argentinien, Brasilien, Chile und Ecuador als die Staaten Lateinamerikas, deren politische Führungen sich von der Zielvorgabe einer wirtschaftlichen Entwicklung "um jeden Preis" dazu hätten verleiten lassen, dem Druck ausländischer Konzerne zulasten der Interessen der indigenen Völker nachzugeben. Nun handelt es sich bei den genannten Staaten keineswegs um die Länder, die die Linksentwicklung des Kontinents am entschiedensten vorantreiben; gleichwohl wurden am "Internationalen Tag der Indigenen Völker" speziell gegen die als "fortschrittlich" geltenden Regierungen Lateinamerikas schwere Vorwürfe erhoben.

So erklärte der Soziologe Immanuel Wallerstein, daß sich die von linken Parteien regierten Staaten von den USA distanziert und Lateinamerika zu einer geopolitischen Autonomie verholfen hätten, wobei es ihre größte politische Errungenschaft gewesen sei, die indigenen Bewegungen in ihren Reihen aufzunehmen und deren Autonomierechte anzuerkennen [1]. Aus der Zielvorgabe der Links- oder Mitte-Linksregierungen an einer ökonomischen Entwicklung, so behauptete Wallerstein, habe sich ein Interessenkonflikt mit den indigenen Völkern in Brasilien, Venezuela, Ecuador und sogar Bolivien entwickelt. Der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta griff bei dieser Gelegenheit den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts", zu dem sich die Präsidenten Chávez, Morales und Correa bekannt hätten, direkt an und behauptete, daß die Genannten zwar vorgäben, in besagter Richtung zu marschieren, tatsächlich jedoch eine Politik des "Neo-Extraktionismus" verfestigten [1]. Deshalb habe der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" fundamentale Elemente verloren, der Klassenkampf sei zu einer rhetorischen Übung verkommen, so Acosta.

Da Venezuela zu den Staaten gehört, die am Internationalen Tag der Indigenen in die Kritik gebracht wurden wegen der mangelnden Umsetzung der den indigenen Völkern gewährten Rechte, erscheint es angemessen, diesen Vorwürfen nachzugehen. Unstrittig ist, daß die venezolanische Verfassung vom 24. März 2000 den indigenen Völkern des Landes umfassende Rechte garantiert. So heißt es beispielsweise in Artikel 119, dem ersten Artikel in dem den "Rechten der indigenen Völker" gewidmeten Kapitel VIII [2]:

Der Staat anerkennt die Existenz von indigenen Völkern und Gemeinschaften, ihre gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Organisationsformen, ihre Kulturen, Sitten und Gebräuche, ihre Sprachen und Religionen sowie ihren Lebensraum und die originären Rechte auf diejenigen Gebiete, die sie in angestammter Weise und traditionsgemäß bewohnen und die für sie notwendig dazu sind, um ihre Lebensform zu entwickeln und zu bewahren. Es obliegt der Nationalen Exekutive des Landes, unter Beteiligung der indigenen Völker das Recht auf kollektives Eigentum an ihren Ländereien zu fassen und zu schützen. Diese sind, im Einklang mit dieser Verfassung und dem Gesetz, unveräußerlich, unersetzbar, unpfändbar und nicht übertragbar.

Selbstverständlich muß ein solcher Verfassungstext an der Realität, sprich der Umsetzung der in ihm gewährten Rechte, gemessen werden, wobei keineswegs auszuschließen ist, daß es Konflikte und Interessengegensätze zwischen indigenen Völkern und der Zentralregierung gibt. Daraus jedoch abzuleiten, daß die Idee des "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" durch die genannten Linksregierungen bereits korrumpiert sei, weil diese die Rechte der Indigenen - im Bilde gesprochen - mit Füßen träten, wirft dann doch die Frage nach den Absichten derjenigen auf, die diese Anschuldigungen und Behauptungen erheben. Medienberichten zufolge [3] hat die venezolanische Nationalgarde im Juli 357 illegal von Golfschürfern im südlichen Yacapana-Nationalpark errichtete Camps geräumt, um im Grenzgebiet zu Brasilien, Kolumbien und Guayana im Zuge einer bereits Anfang 2009 angelaufenen Operation mit dem Namen "Plan Caura" die Interessen der rund 32.000 im Amazonas-Gebiet lebenden Yanomami zu schützen. Dies könnte als Umsetzung der Verfassungsrechte der Indigenen Venezuelas bewertet werden, untersagt doch die Verfassung ausdrücklich die Ausbeutung der Ressourcen in den Territorien indigener Völker.

So groß die Konflikte um die ihnen gewährten Rechte zwischen Caracas und den indigenen Völkern Venezuelas auch sein mögen, steht doch außer Frage, daß sie nicht in ihrer Existenz bedroht sind. Daß dies keineswegs selbstverständlich ist - und zwar im unmittelbaren Wortverständnis -, beweist der jüngste Bericht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR). Demnach sind mindestens 34 indigene Völker in Kolumbien, einem der Nachbarländer Venezuelas, aufgrund der anhaltenden Gewalt in ihrer Existenz bedroht. Morde, Todesschwadrone, Zwangsrekrutierungen jugendlicher Indigener sind demnach in Kolumbien ebenso an der Tagesordnung wie die umfangreichen Vertreibungen, die bereits zu einem 15prozentigen Anteil der Indigenen an den vier Millionen Binnenflüchtlingen des Landes geführt haben. Im UNHCR-Bericht wird dazu vermerkt: "Trotz neuer Bemühungen des kolumbianischen Staates ... bleibt das Risiko des physischen oder kulturellen Verschwindens bestehen, in einigen Fällen ist es sogar gestiegen." [4]

Die Zahl der Morde an kolumbianischen Indigenen soll dem UNHCR-Bericht zufolge von 2008 auf 2009 um 63 Prozent gestiegen sein. Die Nichtregierungsorganisation Survival wies unter Bezugnahme auf den Bericht des Flüchtlingshilfswerkes darauf hin, daß die Indigenen Völker Kolumbiens von der "Auslöschung" bedroht sind und daß diese Bedrohung keineswegs abgenommen habe. Stephen Corry, Direktor von survival, widersprach der vielfach kolportierten Auffassung, es habe nennenswerte Verbesserungen dieser katastrophalen Menschenrechtslage gegeben. Er erklärte [4]:

Kolumbiens ehemaliger Präsident Uribe erhebt Anspruch auf eine erfolgreiche Bekämpfung der Gewalt. Dieser Bericht hat jedoch erneut die katastrophale Bilanz des Landes bei Menschenrechtsverletzungen gegen seine indigene Bevölkerung belegt. Die neue Regierung von Juan Manuel Santos muss nun ein für alle mal handeln.

Doch nicht nur der neue Präsident Kolumbiens "muß handeln", will er nicht schon kurz nach seinem Amtsantritt Gefahr laufen, als Wolf im Schafspelz enttarnt zu werden. Die internationalen Kritiker der Menschenrechtslage indigener Völker vornehmlich in den als links geltenden Staaten Lateinamerikas sind aufgerufen, angesichts der eklatanten Lage der Indigenen Kolumbiens in Erscheinung zu treten. So lange sie davon Abstand nehmen, laufen auch sie Gefahr, als Protagonisten westlicher Hegemonialansprüche identifiziert zu werden, die ethnisch definierbare Konflikte zum Anlaß nehmen, den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" zu diskreditieren.

Anmerkungen

[1] Bewegt sich der "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" nach rechts? La Paz, 18. August 2010, bolpress; auf deutsch in: Poonal Nr. 911, Deutsche Ausgabe des wöchentlichen Pressedienstes lateinamerikanischer Agenturen vom 30. August bis 5. September 2010

[2] Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela vom 24. März 2000, herausgegeben vom Netzwerk Venezuela und der Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland

[3] Venezuelas Nationalgarde gegen Goldschürfer. Regierung schützt Yanomami-Volksgruppe gegen illegalen Tagebau. Präsenz in südlichen Grenzregionen langfristig angelegt, von Jan Ullrich, amerika21.de, 7.7.2010

[4] Indigene Völker vor der Auslöschung. UNHCR: Bedrohung unter der Regierung Uribe weiter gestiegen, von Survival, amerika21.de, 7.9.2010

8. September 2010