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DILJA/1315: Lehrstück Stuttgart 21 - Proteste durch Vermittlungsversprechen eingebunden (SB)


Ein (schlechter) Treppenwitz der Geschichte

Mit Heiner Geißler als Vermittler die Protestbewegung gegen "Stuttgart 21" spalten, einbinden und ihres Potentials berauben


Der sprichwörtliche gesunde Menschenverstand, unter Science-fiction-Fans alternativ auch "Logiksektor" genannt, muß in manchen Zusammenhängen vollständig ausgeschaltet, weggedrückt oder sonstwie außer Funktion gesetzt werden, weil andernfalls die mit bestimmten Manövern und Maßnahmen tatsächlich verfolgten Ziele und Absichten in schonungsloser Deutlichkeit auf dem Tisch lägen. Eine solche Situation betrifft derzeit den Konflikt um das umstrittene Milliardenbauprojekt in Stuttgart, an dem sich insbesondere nach dem äußerst brutalen Polizeieinsatz vom vergangenen Donnerstag eine Entwicklung Bahn gebrochen hat, die den politischen Frieden zwischen Regierenden und Regierten zu perforieren droht.

Mit anderen Worten: Es geht längst nicht mehr "nur" um Stuttgart 21, wie das unterirdische Bahnhofsprojekt im Herzen der Schwaben-Metropole genannt wird, sondern um die Frage, wie es um die demokratische Qualität in Baden-Württemberg, aber auch der Bundesrepublik Deutschland insgesamt bestellt sein mag, wenn an einem solchen Beispiel in kompromißloser Deutlichkeit sichtbar wird, wie wenig die Regierenden auf die Meinungen und Interessen der von ihnen Regierten tatsächlich geben. Das ist eine aus Sicht der herrschenden gesellschaftlichen Elite als potentiell gefährlich eingestufte Gemengelage, was aus den Äußerungen nicht weniger Politiker, aber auch aus den Worten des zum Vermittler bestellten CDU-Politikers Heiner Geißler, recht klar hervorgeht.

"Es gibt eine objektive Not in Stuttgart, es gibt eine hochangespannte Situation, die unbedingt entschärft und beruhigt werden muss" [1], so Geißler. Eine objektive Not? Wohl kaum. Was es gibt, ist ein Konflikt zwischen Bevölkerung und Regierung(en), zwischen Projektgegnern und -befürwortern, wobei zur Veranschaulichung und Klärung der Konfliktlage nicht unerwähnt bleiben darf, daß die Betreiber dieses Projekts alle Legitimations- und Durchsetzungsmittel auf ihrer Seite haben. Dies heißt mitnichten, daß das umstrittene Projekt tatsächlich in jeder Hinsicht juristisch legitimiert wäre, entzündet sich doch der Protest der Gegner unter anderem auch an dem Vorwurf, daß die Projektbetreiber bewußt falsche Informationen geliefert haben, um die Kosten niedrig zu halten und verkehrspolitische Bedenken zu zerstreuen.

Auf Regierungsseite sowohl in Stuttgart als auch in Berlin scheint die Einsicht vorzuherrschen, daß bei diesem Konflikt eine Situation entstanden ist, die unbedingt der politischen Vereinnahmung und Entschärfung bedarf, wobei über eine tatsächliche Beendigung des Bauprojekts selbstverständlich nicht verhandelt oder auch nur öffentlich diskutiert werden soll. Dies stellt so etwas wie die Quadratur des Kreises dar, weil nicht ein halber unterirdischer Bahnhof gebaut, halbe Bäume gefällt und weitere Halbheiten gemacht werden können. Mit der Bestellung Heiner Geißlers zu einem Vermittler in einem Konflikt, der auf einer solchen Entweder-Oder-Situation beruht, wurde ein Befriedungsmanöver eingeleitet, wobei sich die Seite der Projektbetreiber einen Vorschlag der Grünen, die offiziell zu den Gegnern gehören, zunutze machen konnte. Diese hatten durch ihren Fraktionsvorsitzenden im Landtag, Winfried Kretschmann, Geißler Anfang der Woche als Vermittler vorgeschlagen.

Ausgerechnet Geißler, könnte ungeachtet der Akzeptanz, die ihm von allen Konfliktparteien entgegengebracht zu werden scheint, eingewandt werden. Heiner Geißler hat sich einen Namen als erfolgreicher Vermittler in Arbeitskonflikten gemacht, die einen gänzlich anderen Hintergrund haben und in die Arbeitsgesetzgebung der Bundesrepublik fest eingebunden sind. Bei solchen Tarifkonflikten zwischen Unternehmen und Gewerkschaften kann um Annäherungswerte in Gestalt von Prozentpunkten in Verbindung mit weiteren Zusagen oder Zugeständnissen zwischen den Konfliktparteien gerungen werden. Es gibt bei ihnen in aller Regel keine Entweder-Oder-Situation wie bei einem Bauprojekt wie Stuttgart 21, das entweder gebaut oder eben, wie von einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung offensichtlich gewünscht, abgeblasen wird.

Wenn nun ein in Tarifverhandlungen erfolgreicher Vermittler wie Geißler in diesen alles andere als tariflich geregelten Konflikt implantiert wird, bedeutet dies nichts anderes, als daß er die repressiven Maßnahmen des Arbeitskonfliktrechts auf diese Situation zu übertragen sucht. Dies wurde bei seinen ersten Äußerungen noch vor Beginn etwaiger Vermittlungsgespräche bereits deutlich. Geißler kommt und stellt - als allererstes - Bedingungen. Er stellt die Bedingung, daß Gespräche nur zustandekommen können, wenn für ihr Zustandekommen von den jeweiligen Konfliktparteien keine Bedingungen gestellt werden. Damit stellt Geißler sich objektiv auf die Seite der Projektbetreiber, haben die Gegner doch deutlich gemacht, daß sie einen Baustopp als Voraussetzung für Gespräche fordern. Dies wäre ein zwingend logischer Schritt, hätte tatsächlich die Absicht bzw. Bereitschaft bestanden, ergebnisoffene Verhandlungen zwischen beiden Seiten zu ermöglichen bzw. zuzulassen. Ein solches Gesprächsangebot kann für die Kritiker nicht glaubwürdig sein, wenn schon vor ihrem Beginn mit der Umsetzung der angeblich zur Disposition gestellten Entscheidung Pro oder Contra Stuttgart 21 weitergemacht wird.

Als neutraler Vermittler hat Heiner Geißler sich somit schon selbst diskreditiert. Matthias von Herrmann, Sprecher der Initiative "Parkschützer", akzeptierte Geißler gleichwohl als guten Vermittler, beharrte jedoch auf einem Baustopp als Geprächsvoraussetzung. Gegenüber der Süddeutschen Zeitung behauptete Geißler unterdessen, daß es, solange verhandelt werde, eine "Friedenspflicht" [2] gäbe und daß "wie auch im Arbeitsrecht" jede Seite auf "Kampfmaßnahmen" verzichten müsse. Das ist nun ausgemachter Unsinn, denn nie und nimmer unterliegt ein solcher gesellschaftspolitischer Konflikt arbeitsrechtlichen Regelungen. Was Geißler damit bezweckt, liegt auf der Hand: Er will der Protestbewegung den Schwung nehmen, sie mit vagen Versprechungen auf Verhandlungen und Vermittlungen ködern und zum Stillhalten bringen in einer Zeit, in der, gemessen an Stuttgarter Verhältnissen, ein Höchstmaß an politischer Aktivität von den Projektgegnern bereits entfaltet worden ist, wurden doch nach dem brutalen Polizeieinsatz bereits mehrere, von zehntausenden Menschen besuchte Demonstrationen durchgeführt.

Die Projektgegner ihrerseits verfolgen keineswegs eine einheitliche und gemeinsame Position in dieser Frage, weshalb die Geißler'sche Spaltungs- und Vereinnahmungsstrategie schon Früchte trägt. Gandolf Stocker, einer der Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, signalisierte bereits, daß das Bündnis "Geißler ein Stück weit entgegen" gehe und auf die Forderung nach einem Baustopp als Gesprächsvoraussetzung verzichte. "Man kann mit uns auch über eine Friedenspflicht reden, wenn Herr Geißler seinen Auftrag ernst nimmt" [3], so Stocker, der zudem signalisierte, daß das von ihm repräsentierte Aktionsbündnis sogar einen "Schlichterspruch" Geißlers zu akzeptieren bereit sei, wenn dieser nur ernsthaft und unabhängig vermitteln würde. Diese Position wird nicht einmal von der SPD vollständig mitgetragen, die sich große Mühe gibt, in diesem nicht zuletzt wohl auch wahltaktisch begründeten Konflikt auf der Seite der Projektgegner ernstgenommen zu werden.

So begrüßte zwar auch der SPD-Landesvorsitzende Baden-Württembergs, Nils Schmid, die Nominierung Geißlers zum "Schlichter", beharrte jedoch darauf, daß letztlich die Bürger selbst über das Projekt entscheiden müßten. Die SPD stehe zwar, so Schmid, "in der Sache" weiter zu Stuttgart 21, halte es aber für erforderlich, daß es eine verbindliche Volksabstimmung zu dem Projekt gäbe und daß bis dahin ein Baustopp verfügt werde. Einer Oppositionspartei, die in den Startlöchern steht, um aus der rapide schwindenden Akzeptanz der CDU bei den in sechs Monaten bevorstehenden Landtagswahlen Kapital zu schlagen, steht eine solche Position natürlich ganz gut zu Gesicht. Die SPD kann gleichwohl nicht verhehlen, in welchem Ausmaß ihr vermeintliches Einlenken auf der Sorge um die Staatsräson beruht. So erklärte Schmid, daß kein Projekt es wert sei, "dass eine Gesellschaft ihren inneren Zusammenhalt verliert" [2].

Mit anderen Worten: Der Riß zwischen Regierten und Regierenden, der sich ausgehend vom Stuttgarter Bahnhof auszubreiten scheint, muß gekittet werden, bevor zur Tagesordnung übergegangen werden kann, was dann, wie von der SPD schon deutlich gemacht, natürlich heißt, daß "Stuttgart 21" wie geplant und beschlossen durchgeführt wird. Bei einer aktuellen Stunde im Bundestag zum gleichen Thema stellte sich auch heraus, daß die SPD teil- bzw. pseudokritische Positionen einnimmt. Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, erklärte bezeichnenderweise in Hinsicht auf den äußerst gewaltsamen Polizeieinsatz, "politisch sei es verheerend, wenn die Staatsmacht so gegen normale Bürger eingesetzt werde wie am Donnerstag" [4]. Wiefelspütz weiter: "Das ist politisch absolut unklug. Es zerstört den Frieden in der Gesellschaft. Es polarisiert, es spaltet." [4]

Keine Frage, die SPD würde dies klüger handhaben. Keinen Deut anders, aber klüger. Wobei diese Klugheit sich allein darauf bezieht, die auf Regierungsseite durchgezogene und an den Menschen vorbei getroffene Entscheidung nicht mit der Brechstange durchzusetzen, sondern mit subtileren Mitteln, mit den probaten Methoden der politischen Vereinnahmung, Diffamierung und Spaltung. Aus Sicht der Staatsräson wäre es insofern angebracht, käme es tatsächlich beim nächsten Urnengang zu einem Personal- bzw. Parteienwechsel. Aus Sicht derjenigen, die durch "Stuttgart 21" sozusagen politisch aufgewacht sind und sich weder abspeisen noch von ihrem Vorhaben, das Projekt besser gestern als morgen einzustampfen, nicht abbringen lassen wollen, wäre ein solcher Wechsel selbstverständlich irrelevant.


Anmerkungen

[1] Stuttgart 21. Ein bisschen Baustopp geht nicht, 7.10.2010
http://www.news.de/politik/855076415/ein-bisschen-baustopp-geht-nicht/1/

[2] Streit über "Stuttgart 21". Geißler fordert bedingungslose Gespräche, 7.10.2010,
http://www.tagesschau.de/inland/geisslerstuttgart100.html

[3] Stuttgart. S-21-Gegner wollen Geißler entgegen kommen, 7.10.2010,
http://www.swr.de/nachrichten/bw/-/id=1622/nid=1622/did=6988338/1139qyq/index.html

[4] Stuttgart 21. Vermittlung braucht Baustopp, Teresa Bücker, 6.10.2010,
http://www.spd.de/aktuelles/News/4336/20101006_volksabstimmung_s21.html

7. Oktober 2010