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DILJA/1328: Venezuela - Anmerkungen zum Tode des früheren Präsidenten Carlos Andrés Pérez (SB)


Caracazo - Zum Tode eines Sozialdemokraten, der im Februar 1989 auf die eigene Bevölkerung schießen ließ

Wenn Hugo Chávez als "Diktator" bezeichnet wird, was war dann Venezuelas Ex-Präsident Carlos Andrés Pérez (1974-1979 und 1989-1993)?


Am 25. Dezember 2010 starb in seinem Exil in Miami im Alter von 88 Jahren der frühere Präsident Venezuelas, Carlos Andrés Pérez (CAP), der das Land in zwei Amtszeiten, von 1974 bis 1979 sowie von 1989 bis 1993, regiert hatte. Wenn die einheimische Oligarchie, die extreme und zum Teil militarisierte Rechte den heutigen Amtsinhaber, Präsident Hugo Chávez, nicht nur zum Teufel wünscht, sondern vor keinen und - wie der fehlgeschlagene Umsturzversuch von 2002 beweist - auch vor gewaltsamen Mitteln nicht zurückschreckt, um der Erfüllung dieses Wunsches auf wenn auch undemokratischen Wegen zu seiner Realisierung zu verhelfen, sollte nicht außer acht gelassen werden, daß die jüngere Geschichte des Landes, die Entstehung und weitere Entwicklung der Bolivarischen Republik, nicht (allein) durch ein vermeintliches Phänomen namens "Chávez" zu erklären sind, sondern daß die tieferen Wurzeln des heutigen Venezuelas gerade auch in der Politik des Carlos Andrés Pérez zu verorten sind.

Vor über 20 Jahren, genauer gesamt am 27. Februar 1989, ereignete sich in der venezolanischen Hauptstadt Caracas, aber bald auch in anderen Großstädten des Landes, ein Volksaufstand, der von den Sicherheitskräften und dem Militär blutig niedergeschlagen und -geschossen wurde. Dieser Volksaufstand bzw. seine gewaltsame Bekämpfung ging unter dem Namen "Caracazo" in die Geschichte des südamerikanischen Landes ein. Mehr noch als mit dem Namen der Hauptstadt standen die Ereignisse vom Februar 1989 jedoch mit dem damaligen Präsidenten Carlos Andrés Pérez in einem unmittelbaren Zusammenhang. CAP, ein sozialdemokratischer Politiker, hatte seinerzeit gerade erst die Wahlen gewonnen und seine zweite Amtszeit angetreten, als er, unter Bruch seiner Wahlversprechen, dem Land eine Roßkur verordnete, indem er die Vorgaben und Forderungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) akzeptierte, der heute wie damals, dem immerselben neoliberalen Konzept folgend, der Regierung Venezuelas eine drastische Kürzung des Haushalts und damit der Sozialausgaben aufzuzwingen imstande war, weil die Freigabe der von dem hochverschuldeten Land so dringend benötigten Kredite von der Erfüllung dieser Bedingungen abhängig gemacht worden war.

Dieser Teil der Geschichte ist keine spezifisch venezolanische, entsprach und entspricht ein solches Vorgehen doch damals wie heute der Praxis der Institutionen des westlichen Kapitals, den sogenannten Bretton-Woods-Organisationen IWF und Weltbank, um die ihm genehme internationale Verwertungsordnung in allen Regionen der Welt durchzusetzen bzw. aufrechtzuerhalten. Venezuela-spezifisch gestaltete sich jedoch der weitere Verlauf der Ereignisse. Den unmittelbar durch die Ankündigung drastischer Fahrpreiserhöhungen sowie eine generelle Sparpolitik ausgelöste Volksaufstand konnte zwar gewaltsam niedergeschlagen werden, doch war das Land und vor allem seine Armutsbevölkerung danach nicht mehr dieselbe wie vorher. Der Historiker Michael Zeuske, Professor für Iberische und Lateinamerikanische Geschichte an der Universität zu Köln, beschrieb diesen Wandel in seinem 2008 erschienenen Buch "Von Bolívar zu Chávez - Die Geschichte Venezuelas" folgendermaßen [1]:

CAP schien wirklich verrückt. Neben früherer Repression und Raub - für die er in Venezuela bekannt war - griff er nun auch noch zu direkter und offener Repression mitten in der Hauptstadt. Er erklärte, dass es nicht um einen Protest gegen die Regierung, sondern um einen "Krieg der Armen gegen die Reichen" handle. Die konstitutionellen Garantien wurden suspendiert und erst einen Monat später wieder proklamiert. Polizisten weigerten sich zu schießen. Militär und Nationalgarde nicht. Generäle bekamen Anweisung, die Unruhen niederzuschießen. Der Verteidigungsminister erklärte mit Nachdruck, dass es keine Repressalien gegeben habe. Aber nach und nach erschienen Presseberichte, die das ganze Ausmaß von Gewalt, Mord und Zerstörung zeigten. An nur zwei Tagen kamen 3000 oder gar 4000 Menschen um. Nur zur Erinnerung: Mitte 1989 war auch die Zeit des "Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens" in Peking. CAP sprach am 17. März 1989 der Geheimpolizei (DISIP) die Glückwünsche zum 20. Jahrestag aus. Die meisten der Tausenden von Toten starben nicht in den eigentlichen Unruhen. Sie fielen danach den Soldaten während der "Säuberungsaktionen" zum Opfer und wurden in Massengräbern verscharrt. Es kam auch zur Verhaftung von etwa 4000 Menschen. Die Soldaten waren in die Barrios der Unterschichten geschickt worden, um diese "sozialen Säuberungen" durchzuführen. Nach dem Massaker von CAP II herrschte Friedhofsruhe im Lande. Offiziell anerkannt wurden 399 Tote, die von Medien und Gruppen, die die "öffentliche Meinung" prägten, stillschweigend als notwendiger Preis für die Erhaltung der sozialen Ordnung und den Eintritt in die schwierigen Zeiten der Globalisierung anerkannt und dargestellt wurden. Es kam zu einer blitzartigen Politisierung einer als völlig unpolitisch geltenden Bevölkerung.

Diese Politisierung, mag man sie nun für "blitzartig" halten oder nicht, ist der eigentliche Grund für die aus Sicht Außenstehender vielleicht auf die These eines kometenhaften Aufstiegs eines noch völlig unbekannten Offiziers der venezolanischen Armee, des damals 37jährigen Hugo Chávez, reduzierbaren historischen Entwicklung. Am Tag des Caracazo, als in den Armenvierteln der Hauptstadt die Hölle losbrach, Soldaten auf Menschen schossen, die die Geschäfte der Wohlhabenden zu plündern begonnen hatten, nachdem sich die Nachricht von gehorteten Lebensmitteln unter den Hungernden wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, hatte Chávez mit Windpocken das Bett gehütet.

Als er und mit ihm viele weitere kritische Offiziere und Soldaten am 4. Februar 1992 gegen Carlos Andrés Pérez einen Putschversuch wagten, erwarb sich der heutige Präsident unter der Armutsbevölkerung den Ruf des Rächers für die drei Jahre zuvor verübten Massaker. Der Umsturzversuch schlug fehl, seine Anführer, auch Chávez, wurden inhaftiert, und doch trug auch dieses Ereignis zu dessen späterem Wahlsieg bei, wurde er doch auf dieser Basis als glaubwürdige Alternative zu der im "einfachen Volk" als durch und durch korrupt bewerteten und verhaßten alteingesessenen Parteienlandschaft erkannt und deshalb 1998 gewählt. "Ich bin ein Soldat des Volkes", sollte Chávez als Präsident immer wieder erklären und damit nicht zuletzt auch deutlich machen, welch ein fundamental anderes Verständnis er von seinem Regierungsamt im Unterschied zu CAP und seinen anderen Amtsvorgängern hegt. Selbstverständlich gehen auch die historischen Darstellungen und Bewertungen über den 27. Februar 1989 - je nach politischem Standpunkt - nicht nur weit auseinander, sondern stehen einander unversöhnlich gegenüber. So erklärte Präsident Chávez anläßlich des 20. Jahrestages des Caracazo im Februar 2009 [2]:

Einige Historiker beschreiben den 27. Februar als einen Tag der Unruhen und Plünderungen. Nein! Es war der Tag, an dem die venezolanische Bevölkerung sich gegen den IWF und den Neoliberalismus erhoben hat.

Wenn heute in- wie ausländische Kritiker, um nicht zu sagen erklärte Gegner oder gar zu allem entschlossene Putschisten in ihrer Propagandaarbeit gegen den amtierenden Präsidenten ungeachtet seiner seit seinem ersten Wahlsieg immer wieder durch Wahlerfolge bestätigten demokratischen Legitimation mit dem Begriff "Diktator" schnell zu Hand sind, um ihn und das Projekt eines bolivarischen Sozialismus zu diskreditieren, müssen sie sich im Umkehrschluß fragen lassen, wie sie dann einen Präsidenten wie Carlos Andrés Pérez, der nicht nur das Militär gegen die eigene Bevölkerung einsetzte, sondern auch gleich die konstitutionellen Garantien außer Kraft setzte, bezeichnen wollen.

CAP war 1993 wegen Korruption seines Amtes enthoben worden. 1999, nach dem Amtsantritt des ihm verhaßten Widersachers Chávez, verließ er Venezuela, um sich in seiner politischen Wahlheimat, in Miami in den USA, niederzulassen. Dort blieb er bis zu seinem Tod für die venezolanische Justiz unerreichbar. Nachdem die Ermittlungsbehörden es jahrzehntelang versäumt und vermieden hatten, die Verbrechen des Caracazo zu verfolgen und gegen die sehr wohl bekannten Verantwortlichen Anklage zu erheben, hatte die venezolanische Staatsanwaltschaft im September 2009 offiziell die Auslieferung von Carlos Andrés Pérez aus den USA beantragt. Diesem Antrag kamen die zuständigen Behörden in Miami nicht nach. Gleichwohl wird Carlos Andrés Pérez auf Wunsch seiner Familie in seinem Heimatland beigesetzt werden. Präsident Chávez, nach Ansicht seiner erbitterten politischen Feinde ein "Diktator", hatte zu dieser Frage lediglich erklärt, daß jeder venezolanische Bürger das Recht habe, in Venezuela bestattet zu werden und deshalb der Rücküberführung des einstigen Präsidenten nicht das geringste Hindernis entgegenstehe.



Anmerkungen:

[1] Aus: "Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas", von Michael Zeuske, 1. Auflage 2008, Rotpunktverlag, Zürich, ISBN 978-3-85869-313-6, S. 440,
siehe dazu im Schattenblick in INFOPOOL -> BUCH -> SACHBUCH unter REZENSION/493:
Michael Zeuske - Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas (SB)

[2] 20 Jahre Caracazo. In Venezuela wird heute dem Volksaufstand vor 20 Jahren gedacht. Danach veränderten sich die politischen Verhältnisse. Von Malte Daniljuk, amerika21.de, 27.02.2009,
http://amerika21.de/nachrichten/inhalt/2009/feb/20Caracazo

31. Dezember 2010