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DILJA/1329: Jugendschutz oder politische Zensur? Umstrittenes Mediengesetz in Venezuela (SB)


Opposition wirft der Regierung Chávez Zensur des Internets vor

Umstrittenes Mediengesetz könnte per Volksabstimmung gekippt werden


Zum Ende der Legislaturperiode verabschiedete die venezolanische Nationalversammlung, bevor sich am 5. Januar das neu gewählte Parlament konstituieren wird, noch im Dezember eine Vielzahl von Gesetzen. Das umstrittenste unter ihnen ist die gesetzliche Ermächtigung für Präsident Hugo Chávez, nach Artikel 203 der Verfassung Venezuelas für einen bestimmten Zeitraum und zu einem bestimmten Zweck per Dekret zu regieren. Obwohl der Präsident in den zurückliegenden Jahren bereits dreimal (1999, 2000 und 2007) vom Parlament in die Lage versetzt wurde, zu bestimmten Zwecken am Parlament vorbei zu regieren, ohne daß Venezuela deshalb eine Diktatur geworden wäre, wird auch diesmals seitens der politischen Gegner gebetsmühlenartig der Diktatur-Vorwurf erhoben.

Nicht minder umstritten in In- und Ausland ist die ebenfalls am 16. Dezember in der Nationalversammlung beschlossene Reform des Telekommunikations- und Mediengesetzes, sehen die Chávez-Gegner doch darin den letzten Beweis für die von der Regierung damit angeblich geschaffene Zensur im Internet. Ungeachtet dieser Bedenken und Vorwürfe hatte eine etwa 90prozentige Mehrheit im "alten" Parlament der Reform des seit 2005 bestehenden "Gesetzes über soziale Verantwortung in Radio und Fernsehen" (Ley Resorte) zugestimmt. In Artikel 57 der venezolanischen Verfassung, der die auch in der Bundesrepublik Deutschland in durchaus vergleichbarer Form geschützte Meinungsfreiheit (Art. 5 Grundgesetz) regelt, heißt es [1]:

Jeder hat das Recht, seine Gedanken, seine Vorstellungen und Meinungen mündlich oder schriftlich oder in jeder anderen Ausdrucksform zu äußern und sich dabei jedweden Mediums zur Weitergabe und Verbreitung zu bedienen, ohne dass Zensur angewandt werden dürfte. Wer von diesem Recht Gebrauch macht, übernimmt die volle Verantwortung für alle Äußerungen. Anonymität ist nicht erlaubt; ebenso wenig Kriegspropaganda, diskriminierende Äußerungen sowie solche, die religiöse Intoleranz fördern.
(...)

In diesem Rahmen ermöglicht die seit dem 24. März 2000 geltende Verfassung Venezuelas gesetzliche Einschränkungen, über die sich im Einzelfall sicherlich streiten ließe. Mit dem neuen Gesetz sollen nun tatsächlich die Einschränkungen, die 2005 durch das "Gesetz über soziale Verantwortung in Radio und Fernsehen" geschaffen wurden, auf das Internet übertragbar gemacht werden. Von Regierungsseite wurde dieses Gesetzesvorhaben mit der Erklärung begründet und gegen den Zensurvorwurf zu verteidigen gesucht, daß eine Zensur nicht stattfände, daß man aber Kinder und Jugendliche vor Gewalttaten schützen und auch Straftaten im Internet juristisch verfolgen können müsse [2]. Die Regierung erklärte auch, daß sie damit Inhalte im Internet verhindern wolle, "die Unruhe unter den Bürgern stiften und die öffentliche Ordnung stören, die Autorität der Behörden untergraben, zu Mord und zur Missachtung von Gesetzen aufrufen" [3].

Manuel Villalba, Vorsitzender des parlamentarischen Medienausschusses, versuchte die Bedenken um eine durch die Mediengesetzreform möglicherweise eröffnete Zensur im Internet zu entkräften. "Niemand hat durch das neue Gesetz etwas zu befürchten" [3], versprach Villalba und erläuterte, daß mit der Medienreform die Bürger vor Pornographie und Pädophilie geschützt werden sollen. Außerdem solle es künftig nicht mehr möglich sein, in einem Internet-Blog straflos Mordaufrufe zu verbreiten. Die Pro- und Contra-Fraktionen stehen sich in Venezuela in dieser Frage ebenso unversöhnlich und diametral gegenüber wie in allen anderen. Carlos Correa von der Organisation "Espacio Público" (Öffentlicher Raum) bemängelte, daß die verabschiedete Gesetzesreform grundlegende Rechte zu verletzen drohe. Seiner Meinung nach sei diese Ausweitung der Einschränkungen aus dem Rundfunkrecht auf das Internet mit internationalen Standards nicht zu vereinen, eine umfassende Diskussion in der Öffentlichkeit sei geboten [3].

Die venezolanische Opposition hätte die gesetzliche Möglichkeit, eine solche Diskussion in Form einer Volksabstimmung herbeizuführen, da in Venezuela jedes Gesetz - übrigens auch das Dekret-Gesetz zur "Ermächtigung" des Präsidenten - durch ein direktes Votum der Bevölkerung gekippt werden kann und damit einer direkten demokratischen Kontrolle unterliegt. Wenn fünf Prozent der Wahlberechtigten eine solche Volksabstimmung beantragen, muß sie durchgeführt werden, und wenn dann - unter der Voraussetzung, daß mindestens 40 Prozent der Wahlberechtigten an der Volksabstimmung teilnehmen - die Hälfte der Wahlberechtigten gegen ein Gesetz stimmt, ist das betreffende Gesetz nicht mehr gültig. Der Diktaturvorwurf ist durch diese Option schon im Ansatz widerlegt, denn welch eine Diktatur böte der mit undemokratischen Mitteln regierten oder vielmehr beherrschten eigenen Bevölkerung schon solch eine Möglichkeit? Die Einwände und Zensur-Vorwürfe werden gegen das neue Mediengesetz jedoch erhoben, ohne daß diejenigen, die sie im Munde führen, die geringsten Bemühungen erkennen ließen, eine solche Volksabstimmung herbeizuführen.

Doch zurück zu den konkreten Vorwürfen und Vorbehalten, die zum Teil auch von internationalen Organisationen aufgegriffen werden. Reporter ohne Grenzen beispielsweise erklärte, daß die Presse- und Medienfreiheit in Venezuela mehr noch als bisher in Gefahr sei und daß die Verbote des Reformgesetzes so allgemein formuliert seien, daß "alles Mögliche hineininterpretiert werden könne" [3]. Ein triftiges Argument, denn wer könnte schon ausschließen, daß unter dem Vorwand, Kinder und Jugendliche schützen zu wollen, nicht doch eine politische Zensur vorgenommen werde? Präsident Chávez bemühte sich nicht minder, dem Zensurvorwurf und -verdacht entgegenzutreten, indem er erklärte, daß mit dieser Reform das Internet nicht zensiert werden solle, jedoch gegen Drogen und Drogenhandel, gegen Prostitution und Rassismus, so diese durch das Internet gefördert werden, vorgegangen werden solle, um das Volk zu schützen [4]. Nach Artikel 28 des Reformgesetzes soll jedoch neben dem Schutz der Kinder und Jugendlichen auch "das Schüren von Hass und Intoleranz aus religiösen, politischen, rassistischen, geschlechtsbedingten oder fremdenfeindlichen Gründen" verboten werden [4]. Und weiter: "Verboten werden soll überdies Kriegspropaganda, der Aufruf zur Störung der öffentlichen Ordnung oder die Missachtung der durch die Verfassung legitimierten Gewalten." [4]

Da in diesem Zusammenhang "internationale Standards" angesprochen wurden ungeachtet dessen, daß es dem eigentlichen Souverän, sprich dem Volk, in jedem demokratischen Staatswesen obliegt, die eigenen "Standards" zu entwickeln und verbindlich festzulegen, kann es an dieser Stelle nicht schaden, einen Blick in den gültigen "Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien" [5] zu werfen. Dort heißt es in

§ 1 Zweck des Staatsvertrages

Zweck des Staatsvertrages ist der einheitliche Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die deren Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefährden, sowie der Schutz vor solchen Angeboten in elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien, die die Menschenwürde oder sonstige durch das Strafgesetzbuch geschützte Rechtsgüter verletzen.

Gewiß läßt sich hierbei nicht ausschließen, daß der "einheitliche Schutz der Kinder und Jugendlichen" vor Angeboten, die ihre "Entwicklung oder Erziehung beeinträchtigen oder gefähren", bemüht wird, um gänzlich andere politische Zwecke auf diesem Wege durchzusetzen, ohne den Betroffenen oder Kritikern eine Handhabe zu bieten. Schließlich könne doch niemand gegen den Schutz der Kinder etwas einzuwenden haben... In demselben Gesetz werden Anwendungsbeispiele für "unzulässige Angebote" aufgelistet, die diese Befürchtungen nicht eben schmälern oder entkräften können. So heißt es in

§ 4 Unzulässige Angebote

(1) Unbeschadet strafrechtlicher Verantwortlichkeit sind Angebote unzulässig, wenn sie

1. Propagandamittel im Sinne des § 86 des Strafgesetzbuches darstellen, deren Inhalt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung oder den Gedanken der Völkerverständigung gerichtet ist, (...)

3. zum Hass gegen Teile der Bevölkerung oder gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihr Volkstum bestimmte Gruppe aufstacheln, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen sie auffordern oder die Menschenwürde anderer dadurch angreifen, dass Teile der Bevölkerung oder eine vorbezeichnete Gruppe beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden, (...)

5. grausame und sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen in einer Art schildern, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder die das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt; dies gilt auch bei virtuellen Darstellungen, (...)

7. den Krieg verherrlichen, (...)

10. pornografisch sind und Gewalttätigkeiten, den sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen oder sexuelle Handlungen von Menschen mit Tieren zum Gegenstand haben; dies gilt auch bei virtuellen Darstellungen,
(...)

An dieser Stelle sollte jedoch dringend klargestellt werden, daß die beiden soeben zitierten Gesetzesstellen nicht aus dem neuen Mediengesetz Venezuelas stammen, sondern aus dem bundesdeutschen Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in seiner gültigen Fassung vom 1. April 2003. Dieser Staatsvertrag mit Gesetzeskraft enthält auch die Möglichkeit, Verstöße als Ordnungswidrigkeit zu behandeln und mit einer Geldbuße von bis zu 500.000 Euro zu ahnen (§ 24 (3)). Wenn das Medienreformgesetz Venezuelas die Bolivarische Republik, wie die Regierungsgegner in In- und Ausland behaupten und glauben machen möchten, in eine Diktatur verwandelt - und sei es im Zusammenhang mit weiteren Gesetzen -, darf die Frage gestellt werden, wie es denn dann um die demokratische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland bestellt ist und ob die Berliner Republik nicht ebenso unter Diktaturverdacht zu stellen und die entsprechenden Regelwerke einer breiten öffentlichen Debatte zugeführt werden müßten.

Mögen die Verfassungs- und Gesetzestexte, wenn auch nur in bestimmten Grenzen, noch vergleichbar sein, die politischen und damit auch medienpolitischen Verhältnisse sind es ganz gewiß nicht. In Venezuela hat die oppositionelle Presse nachweislich den Putsch gegen den gewählten Präsidenten im April 2002 unterstützt und wurde deshalb nie belangt. Sie wurde nicht nur nicht zur Verantwortung gezogen, sondern konnte ihre auf eine Destabilisierung und damit den Sturz der Regierung abzielende Propagandaarbeit auch nach dem mißglückten Staatsstreich fortsetzen, und zwar immer unter dem Schutz der Meinungsfreiheit, da jede Maßnahme der Regierung oder auch der offiziellen Strafermittlungsbehörden sofort als Zensur und Behinderung der politischen Opposition angeprangert worden wäre.

Im eigenen Lager hat sich die Regierung Chávez mit dieser Haltung eher Kritik eingehandelt, weil viele Anhänger und Basis-Aktivisten nicht verstehen und akzeptieren können, warum gegnerische Medien, in denen sogar Mordaufrufe gegen den Präsidenten veröffentlicht werden, unbehelligt bleiben. Für bundesdeutsche Verhältnisse wäre so etwas schlicht unvorstellbar. Ein Mordaufruf, ganz gleich, gegen wen, würde hierzulande sofort schärfste strafrechtliche Sanktionen nach sich ziehen, und so ist in der Presse- und Mediengeschichte seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland auch kaum ein Fall bekannt, in dem etwas veröffentlicht worden wäre, was dem in Venezuela vor laufender Kamera geäußerten Mordaufruf gegen Präsident Chávez [6] auch nur annäherungsweise vergleichbar wäre.

Nicht einmal die Mescalero-Affäre, die im "deutschen Herbst" 1977 für helle Aufregung und einen bundesweiten Sturm der Entrüstung sorgte, böte genügend Stoff für einen solchen Vergleich. Bekanntlich hatte der Göttinger Allgemeine Studentenausschuß (AStA) am 25. April 1977 und damit wenige Wochen, nachdem das "Kommando Ulrike Meinhof - Rote Armee Fraktion" tödliche Schüsse auf den damaligen Generalbundesanwalt Siegfried Buback abgegeben hatte, einen anonym verfaßten Text eines "Mescalero" veröffentlicht, in dem der Verfasser seine "klammheimliche Freude" zum Ausdruck gebracht hatte. Einen Aufruf zum Mord erhielt der Mescalero-Text nicht; im Gegenteil wurde in ihm politisch begründeten "Hinrichtungen" eine klare Absage erteilt. Jahrzehnte später erklärte der Verfasser des damals anonym veröffentlichten Textes, ein ehemaliger Studentenaktivist, daß der Artikel "damals aus dem Zusammenhang gerissen, verdreht und verstümmelt worden" sei [7].

Kurzum: Mordaufrufe wie in Venezuela gegen den gewählten Präsidenten seitens einer oppositionellen Presse, die (bislang) unbehelligt blieb, hat es in der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben und wird es auch nicht geben, ohne daß die dafür Verantwortlichen sofort strafrechtlich verfolgt werden würden. Das venezolanische Mediengesetz als diktatorisch zu diffamieren, ohne die Hintergründe näher zu untersuchen und ohne die Frage zu stellen, warum die venezolanische Opposition denn nicht den Versuch unternimmt, das von ihr abgelehnte Gesetz durch eine Volksabstimmung zu kippen, zeugt von einer politischen Parteinahme für die Chávez-Gegner und nicht von der so gern in Anspruch genommenen Treue zur Demokratie.


Anmerkungen

[1] Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela vom 24. März 2000, 1. deutschsprachige Auflage 2005, Botschaft der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland, ISBN-3-910080-48-0

[2] Gesetzeswelle zum Jahresende. Parlament Venezuelas verabschiedet zahlreiche Gesetze. Möglichkeiten der Beteiligung von Bürgern werden ausgebaut. Von Jan Kühn, amerika21.de, 26.12.2010,
http://amerika21.de/nachrichten/2010/12/18668/gesetzeswelle-venezuela

[3] Venezuela: Umstrittene Mediengesetzreform soll Pornografie und Pädophilie eindämmen. Von Humberto Márquez, IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH, IPS-Tagesdienst vom 16. Dezember 2010

[4] Chavez will das Internet säubern. Kritiker nennen ein neues Gesetz Zensur, Chavez will Kinder und Jugendliche schützen. Von Florian Rötzer, telepolis, 20.12.2010

[5] Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (Jugendmedienschutz-Staatsvertrag - JMStV), 13. Jugendmedienschutz-Staatsvertrag vom 1. April 2003,
http://www.artikel5.de/gesetze/jmstv.html

[6] Ein neuer medialer Feldzug gegen Hugo Chávez. Von Helge Buttkereit, Hintergrund, 20.12.2010

[7] "Mescalero" entschuldigt sich bei Buback-Sohn. Verfasser gibt sich als Klaus Hülbrock zu erkennen: Ich war das schwarze Schaf. Junge Welt, 29.01.2001

3. Januar 2011