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DILJA/1372: Westsahara - die letzte Kolonie Afrikas kämpft noch immer um ihre Freiheit (SB)


Befreiungsbewegung der Sahrauis beschließt Intensivierung der Intifada


Die "Demokratische Arabische Republik Sahara" (DARS), in kolonial angehauchter Sprache besser als Westsahara bekannt, wurde am 27. Februar 1976 von der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario ausgerufen. Die DARS ist ein Staat, der im Zugriff auf die Zukunft proklamiert wurde auf der Basis des nur zu begründeten Interesses des sahrauischen Volkes, das ihm wie jedem anderen Volk auch zustehende, international anerkannte und völkerrechtlich verbindliche Selbstbestimmungsrecht in Anspruch zu nehmen. Allein, es fehlt noch immer, also seit 35 Jahren, so die vorherige Zeit unter spanischer Kolonialherrschaft nicht mitgerechnet wird, an der Realisierung und damit der Beendigung eines Kolonialzustands, der im übrigen Afrika zumindest formell als längst beendet angesehen wird. Die Demokratische Arabische Republik Sahara erstreckt sich lediglich über ein Drittel ihres Territoriums sowie über vier Flüchtlingslager in der Nähe des algerischen Tindouf, die nach Städten im marokkanisch besetzten Teil des Landes benannt wurden: Al-Aaiún, Smara, Ausert und Al-Dakhla.

All dies ist sattsam bekannt und wäre der Erwähnung kaum wert, würde es nicht eine stillschweigende Kooperation mit der marokkanischen Besatzungsmacht geben, die extrem effizient zu Werke geht. Offiziell hat kein Staat der Welt die von Marokko auf die besetzten Gebiete erhobenen Ansprüche anerkannt, doch ebensowenig hat bislang irgendein Staat oder irgendeine internationale Institution der Demokratischen Arabischen Republik Sahara zur Realisierung ihrer legitimen Anliegen verholfen. Dies stellt eine de-facto-Anerkennung der Westsahara als der letzten Kolonie Afrikas dar, die de jure nicht erfolgen kann und nicht erfolgen wird. Aus Sicht der Vereinten Nationen ist die Westsahara ein "nicht-selbständig regiertes Gebiet", dessen Dekolonialisierung bevorstehe. Dieses "Bevorstehen" hat sich jedoch in der langen, langen Zeit, die seit dem 1991 zwischen Marokko und der Frente Polisario unter Vermittlung der Vereinten Nationen vereinbarten Waffenstillstand inzwischen vergangen ist, als eine Inanspruchnahme des Prinzips Hoffnung erwiesen, was nichts anderes bedeutet, als daß die sahrauische Bevölkerung auf einen Tag X vertröstet wird, der immer und immer wieder in eine ungewisse Zukunft verschoben wird und von dort aus seine Befriedungswirkung auf die Sahrauis entfalten soll.

Einen maßgeblichen Anteil an dieser Befriedung übernahmen die Vereinten Nationen selbst, die, da sie die Frente Polisario als legitime Vertreterin der Westsahara anerkannten und ihr einen Beobachterstatus bei der UNO zuerkannten, ohnehin zum größten Hoffnungsträger avanciert waren. Das 1976 vereinbarte Waffenstillstandsabkommen beinhaltete die Einrichtung einer sowohl von der marokkanischen Besatzungsmacht als auch der Polisario akzeptierten UN-Mission für ein Referendum in der Westsahara (Minurso), für die in der UN-Sicherheitsratsresolution 690 im April 1991 die Voraussetzungen geschaffen worden waren. Vereinbart wurde eine "Übergangszeit", in der Minurso den Waffenstillstand überwachen und die Vorbereitungen für die Durchführung des Referendums unterstützen sollte. All dies ist inzwischen bereits Geschichte, allerdings eine Geschichte, die wie ein Stachel in der Seele der Sahrauis sitzt. Wohlwollend gerechnet hätten unter einer solchen Übergangszeit mehrere Jahre verstanden werden können; nach dreieinhalb Jahrzehnten jedoch ist jede Glaubwürdigkeit verspielt.

Dies betrifft nicht nur die Besatzungsmacht Marokko, die sich schlicht weigert, die Durchführung eines solchen Referendums in Angriff zu nehmen, mit dem die sahrauische Bevölkerung darüber bestimmt, ob sie weiter zu Marokko gehören oder in einem eigenständigen Staat leben will, sondern die sogenannte internationale Gemeinschaft, die Vereinten Nationen, aber auch die Europäische Union sowie die USA. Letztere sind die stillen Kolonialherrn hinter der Kolonialmacht in einem kolonialen Verhältnis, dessen Existenz weitestgehend verschwiegen und ignoriert wird. Nachdem die Frente Polisario in Ermangelung tatkräftiger Unterstützung aus dem Ausland den Befreiungskampf gegen die marokkanische Besatzungsmacht aufgenommen hatte, war es ihr zunächst gelungen, den Exodus eines großen Teils des eigenen Volkes ins algerische Exil zu organisieren, um dann, Meter für Meter, das besetzt gehaltene Gebiet mit militärischen Mitteln zurückzuerobern. Zu Beginn der 1980er Jahre war die Frente so stark geworden, daß die marokkanischen Besatzer mehr und mehr in die Defensive gedrängt werden konnten.

In dieser für Marokko prekären Situation offenbarte sich die tatsächliche Qualität der völkerrechtlichen Anerkennung der Polisario, denn zwei Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, Frankreich und die USA, ließen Marokko umfangreiche militärische Hilfe zukommen. Um ein weiteres Vorrücken der Befreiungsfront zu verhindern, wurde mit Hilfe der westlichen Staaten ein 2.400 Kilometer langer Wall errichtet, der bis heute als Demarkationslinie zwischen dem einen, von der Frente kontrollierten Drittel und den zwei Dritteln, von den Marokkanern als "unsere südlichen Provinzen" besetzt gehaltenen Gebiete der Westsahara, zur Aufrechterhaltung dieses Kolonialverhältnisses wesentlich beiträgt. Spätestens an dieser Stelle hat sich die westliche Staatenelite als waffenspendender Unterstützer Marokkos erwiesen, die darüber hinaus jederzeit in der Lage ist, eine Marokko verurteilende Resolution des Weltsicherheitsrates im Ansatz zu verhindern.

Wenn heute zur Sprache gebracht wird, daß die USA wie auch EU-Staaten ein wirtschaftliches Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo haben, so ist dies natürlich einerseits richtig und andererseits zur Analyse der Lage unzureichend. So haben die USA und Frankreich mit Marokko bereits Verträge über die Untersuchung und Nutzung der in dem besetzten Gebiet vermuteten Ölvorkommen geschlossen. Die Streitereien zwischen der EU und Marokko über die Ausbeutung der Fischfanggebiete in der Westsahara erleben gerade einen neuen Höhepunkt. Ein weiterer Fixpunkt, an dem sich die Linien externer Begehrlichkeiten kreuzen, ist das Projekt Desertec, an dem auch deutsche Firmen beteiligt und damit auch Interessen Deutschlands berührt sind und bei dem es um die Errichtung von Solaranlagen geht, deren "alternative" Energie dann vornehmlich nach Europa exportiert werden soll. Es versteht sich nahezu von selbst, daß Marokko zwei dieser Anlagen in der Westsahara errichten will, selbstverständlich ohne die aus seiner Sicht inexistente Demokratische Arabische Republik Sahara zu fragen oder an den erhofften Gewinnen zu beteiligen.

Strenggenommen befindet sich die Westsahara in einem doppelt kolonialen Verhältnis, da die Besatzungsmacht Marokko ihrerseits in einem Status postkolonialer Unterwerfung steht. Selbstverständlich ist das Königreich formal unabhängig, doch unterhält es so enge politische und wirtschaftliche Beziehungen zur früheren Kolonialmacht Frankreich, daß die bei der Ressourcenausbeute in der Westsahara ergaunerten Gewinne unmittelbar nach Rabat und mittelbar nach Paris fließen. Dies ist beileibe kein Einzelfall oder ein bedauernswertes Kuriosum, sondern ein Beispiel, das geeignet ist, die tatsächliche Qualität der sogenannten Dekolonialisierung Afrikas bloßzustellen. Als im Herbst vergangenen Jahres in Brüssel die Verhandlungen zwischen der EU und Marokko über die Fortsetzung eines Fischereiabkommens stattfanden, das in offener Verletzung geltender völkerrechtlicher Bestimmungen die gemeinsame Ausbeute der Fischfanggebiete der Westsahara organisierte, intensivierten die Sahrauis ihre zivilen Proteste durch in der Wüste errichtete "Lager der Würde", die mit brutalster Gewalt wenig später von der Besatzungsmacht niedergemacht wurden.

Welch ein Narr, der hier den Zusammenhang nicht sehen wollte, lag doch auf der Hand, daß die marokkanisch-europäische Achse ein Aufmerken der Weltöffentlichkeit, die ihr flüchtiges Interesse der verzweifelten Lage der Sahrauis womöglich hätte zuwenden können, unter allen Umständen verhindern wollte. Dieselbe Taubheit gegenüber den Greueltaten des marokkanischen Militärs sowie den katastrophalen Lebensumständen der sahrauischen Bevölkerung ist immer wieder anzutreffen, so im August dieses Jahres, als Mohammed Abdelaziz, der unlängst wiedergewählte Präsident der Demokratischen Arabischen Republik Sahara und Generalsekretär der Frente Polisario, UN-Generalsekretär Ban Ki Moon angesichts eines von Marokko um Bojador, der drittgrößten Stadt in den besetzten Gebieten, errichteten Belagerungsrings dringend um Hilfe bat angesichts der gefährlichen Lage der wehrlosen Bevölkerung. Kurz zuvor war die so-und-so-vielte Runde informeller Gespräche zwischen Marokko und der Polisario in New York wie immer ergebnislos zu Ende gegangen, und so warnte Mohammed Lamine Bouhali, der sahrauische Verteidigungsminister, vor einem Scheitern der Verhandlungen und deutete an, daß die Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes, um die Unabhängigkeit des Landes zu erreichen, für die Befreiungsbewegung "immer eine Option" [1] sei.

Für die Polisario ist die Durchführung des 1991 beschlossenen Referendums unverzichtbar, alles andere käme einer Preisgabe ihres Selbstbestimmungsrechts gleich. Marokko bzw. die hinter Marokko stehenden oder zumindest dort zu vermutenden westlichen Staaten sind jedoch nicht bereit, eine echte Unabhängigkeit der Westsahara oder, wie es heißen müßte, der Demokratischen Arabischen Republik Sahara zu gewähren. An diesem im Grunde simplen Aufeinanderprallen gegensätzlicher und unvereinbarer Interessen hat sich seit Jahrzehnten nichts geändert. Es wäre jedoch verfehlt, den Befreiungskampf der Sahrauis als gänzlich isoliert darzustellen. An Solidarität hat es der Frente Polisario, einem Gründungsmitglied der Afrikanischen Union, seit der Stunde Null ihres Bestehens nicht gemangelt - es ist die Solidarität aus den übrigen, formal dekolonialisierten Kontinenten, neben Afrika auch aus Ländern Lateinamerikas sowie des Nahen Ostens.

Nicht von ungefähr macht das Wort "Intifada" auch im Zusammenhang mit der Westsahara die Runde, nicht von ungefähr proklamieren sahrauische AktivistInnen den "Arabischen Frühling" auch für sich und stellen ihren Kampf in eine Reihe mit den Volksaufständen der Region, wenngleich diese sich gegen einheimische Despoten und nicht eine fremde Militärmacht richten. Die Europäische Union hat in dieser schwelenden und möglicherweise auch ihre Eigen- bzw. Hegemonialinteressen tangierenden Situation instinktsicher begriffen, daß es ihr sehr nützlich werden könnte, sich als Fürsprecher der so lange auch von ihr ignorierten Interessen des sahrauischen Volkes zu gerieren. Am 14. Dezember 2011 fällt das EU-Parlament in Straßburg mit 326 zu 296 Stimmen den Beschluß, das Fischereiabkommen mit Marokko nicht zu verlängern, weil es, wie es ausdrücklich hieß, die Interessen der sahrauischen Bevölkerung nicht berücksichtige. Ein wenn auch später Sinneswandel, eine Umkehr zum Guten?

Ein Narr, wer hier nicht die Handschrift des gewieften Strategen zu erkennen bereit ist, der die wütenden Reaktionen aus Marokko mit Genuß an sich abperlen läßt, helfen sie ihm doch, sich gegenüber der sahrauischen Bevölkerung als Hoffnungsträger aufzubauen. Wie der Zufall es nun einmal so wollte, war die für Rabat so überraschende und inakzeptable Entscheidung der EU-Parlamentarier, das für beide Seiten so nützliche Fischereiabkommen zu beenden, einen Tag vor der Eröffnung des 13. Kongresses der Polisario in Tifariti gefällt worden. Claudia Haydt, Vorstandsmitglied der Europäischen Linken und in der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen, hat als einzige deutsche Politikerin an diesem Kongreß teilgenommen und ihre Eindrücke gegenüber der jungen Welt folgendermaßen geschildert [2]:

Seitdem ich vor gut einer Woche in der Westsahara ankam, haben die jungen Leute dort über nichts anderes geredet als über einen Krieg gegen Marokko. Die stellen gar nicht mehr die Frage, ob sie zu den Waffen greifen, sondern nur noch, wie sie es am besten machen. Nach 20 Jahren Waffenstillstand, in denen sich diplomatisch nichts verändert hat, haben sie buchstäblich die Schnauze voll. Aber glücklicherweise wurde dann doch nicht beschlossen, Krieg zu führen, sondern die zivilen Aufstände in der von Marokko besetzten Westsahara zu intensivieren.

Haydt würdigte die Entscheidung des Europäischen Parlaments, "pünktlich zu Beginn des Kongresses" das Fischereiabkommen mit Marokko aufzukündigen, als ein "klares Zeichen, daß der Ausverkauf des Reichtums der Sahrauis durch Marokko nicht ungestört weitergehen kann". Dies seien "neue Töne aus Europa" und vielleicht "ein gutes Vorzeichen für die nächste UN-Verhandlungsrunde Anfang nächsten Jahres" [2]. Wenn ihre Einschätzung den Verlauf des Kongresses auch nur annäherungsweise widerspiegelt, könnte dies bei aller zu Gebote stehenden Vorsicht als ein Hinweis darauf gewertet werden, daß es der Europäischen Union in der hier angedeuteten Weise tatsächlich gelungen ist, zur Befriedung dieses so lange schon andauernden Konflikts durch das Prinzip Hoffnung beigetragen zu haben.

Da im entgegengesetzten Fall, wäre auf dem Polisario-Kongreß statt der Intensivierung der zivilen Proteste die Wiederaufnahme militärischer Kampfhandlungen beschlossen worden, die westlichen Staaten die Besatzungsmacht Marokko abermals militärisch unterstützen würden, bliebe als Fazit eigentlich nur zu ziehen, daß die sahrauische Befreiungsbewegung so lange auf scheinbar verlorenem Posten um seine Freiheit kämpft, wie die Beteiligungsinteressen all der Staaten, die in diesen Konflikt auf mehr oder minder stille Weise involviert sind, nicht durch eigene Protestbewegungen offengelegt und aufgekündigt werden.


Anmerkungen

[1] UNO soll handeln. Westsahara: Marokkanisches Militär riegelt Bojador ab. Gespräche zwischen Rabat und Polisario ohne Fortschritte. Von Santiago Baez, junge Welt, 03.08.2011, S. 7

[2] "Die jungen Leute reden nur über Krieg gegen Marokko". Polisario-Kongreß in der Westsahara: Internationale Beteiligung, aber die Jugend ist verzweifelt. Interview mit Claudia Haydt. Von Peter Wolter, junge Welt, 24.12.2011, S. 8


29. Dezember 2011