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DILJA/1385: Ein Votum für das Leben - Kurdische Aktivisten und Gefangene beenden Hungerstreik (SB)


Aktivisten in Straßburg sowie Inhaftierte in der Türkei beenden ihren Hungerstreik



Seit dem 1. März 2012 befanden sich 15 kurdische Aktivisten und Exilpolitiker in der St.-Maurice-Kirche im französischen Strasbourg in einem unbefristeten Hungerstreik, um auf die Situation des in der Türkei seit Sommer vergangenem Jahres in völliger Isolation gefangenen Vorsitzenden der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, aufmerksam zu machen und um an die europäischen Institutionen, insbesondere an den Europarat und dessen Antifolterkomitee (CPT), zu appellieren, in diesem eklatanten Fall nicht länger zu schweigen. Mit diesem Protest- und Solidaritätshungerstreik griffen die Aktivisten einen Hungerstreik auf, der bereits Mitte Februar von rund 400 kurdischen Gefangenenen weitgehend unbemerkt und unbeachtet von den internationalen und europäischen Medien begonnen worden war, um auf die katastrophale Situation der politischen Gefangenen im NATO- und angehenden EU-Staat Türkei aufmerksam zu machen.

Dem Gefangenenhungerstreik in den türkischen Gefängnissen sollen sich zwischenzeitlich bis zu eintausend Häftlinge angeschlossen haben, was ein Licht auf das extreme Ausmaß der politischen Repression in diesem Land wirft, handelt es sich doch bei ihnen bestenfalls um ein Zehntel der auf rund 9.000 (!) geschätzten Gefangenen, die keineswegs aus bewaffnet kämpfenden Organisationen stammen oder auch nur der Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe bezichtigt werden, sondern "zivile" Gefangene sind, die einzig und allein deshalb, weil sie sich mit legalen Mitteln für die Sache des kurdischen Volkes einsetzen, kriminalisiert worden sind. Unter den Inhaftierten befinden sich sogar Bürgermeister und gewählte Parlamentsabgeordnetete, was im europäischen Ausland ebensowenig wie die immens hohe Zahl der Inhaftierten zu Protesten oder auch nur Nachfragen an die türkische Regierung geführt hat.

Dieser Hintergrund einer länderübergreifenden Ignoranz gegenüber einem politischen Konflikt, dessen Lösung durch das Vorgehen der türkischen Regierung mehr und mehr torpediert wird, ist unverzichtbar, um nachzuvollziehen, warum so viele Menschen zu dem Mittel Hungerstreik gegriffen und diesen über einen so langen Zeitraum durchgeführt haben, daß sie in einen lebensbedrohlichen Zustand geraten sind. Als mehrere von ihnen vor über einer Woche in ein Krankenhaus eingeliefert werden mußten, wo sie allerdings jegliche Behandlung verweigerten, erklärte der Europarat lediglich seine "Besorgnis" über ihre Gesundheitslage. Am gestrigen Sonntag, dem 22. April, erklärten die 15 Straßburger Aktivisten auf einer gemeinsamen Pressekonferenz ihre Aktion für beendet und führten zur Begründung an, daß durch diesen Hungerstreik die Mauer des Schweigens habe durchbrochen werden können. Immerhin hatten zuvor der Generalsekretär des Europarats, der Europaparlamentspräsident sowie der EU-Erweiterungskommissar an die Aktivisten appelliert, ihren Hungerstreik zu beenden.

Gleichermaßen hatte sich die Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) gegenüber den Straßburger Hungerstreikenden geäußert. Nahezu zeitgleich haben auch die PKK- und PAJK-Gefangenen in der Türkei ihren Hungerstreik beendet, nachdem das Exekutivkomitee der KCK an sie appelliert hatte, in Hinsicht auf den Grundsatz des PKK-Vorsitzenden Öcalan, auch im Widerstand es möglichst nicht zu Todesopfern kommen zu lassen, den Hungerstreik noch einmal neu zu bewerten. Die Situation der Hungerstreikenden dürfte nach über zweimonatiger Dauer so weit zugespitzt gewesen sein, daß mit Todesfällen gerechnet werden mußte. Die Erfolge, die mit den beiden Hungerstreikaktionen in Straßburg wie auch in den türkischen Gefängnissen erzielt werden konnten, mögen nicht unbedingt substanziell und eher perspektivischer Natur sein und haben doch die europäischen Institutionen dazu veranlaßt, wenn auch nach wie vor äußerst verhalten, sich zu ihm zu äußern, wodurch die vorherige Haltung einer völligen Ignorierung durchbrochen werden konnte.

Bezeichnend ist aber auch, daß das Votum Öcalans, so wie ihn die kurdische Befreiungsbewegung zu kennen glaubt, nämlich die Überzeugung, bei aller Entschiedenheit, wenn es "hart auf hart" kommt, dem Leben den Vorzug zu geben, hunderte Häftlinge dazu bewogen hat, die Aktion zu beenden, bevor sie zu einem für so viele unumkehrbaren Ende geführt hat. Für die europäische Öffentlichkeit wie auch die Institutionen, die sich den Schutz der Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hat, müßte dies ein Grund mehr sein, den Konflikt zwischen den Kurden und der türkischen Regierung nicht länger aus Kumpanei mit Ankara zu ignorieren, sondern den eigenen Ansprüchen, eine Schutzmacht demokratischer Anliegen zu sein, in glaubwürdiger Weise zu entsprechen - was nicht möglich ist, wenn ein Volk mit über 20 Millionen Mitgliedern inmitten Europas weiterhin seiner elementarsten Rechte beraubt wird.

23.‍ ‍April 2012