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DILJA/1387: Sklaverei der Neuzeit - Der "gefängnisindustrielle Komplex" in den USA (SB)


US-Occupy-Bewegung durchbricht das Schweigen gegenüber der Gefängnisbevölkerung



Sklaverei in den USA? Längst abgeschafft. Formal zumindest. Wer etwas anderes behauptet, könnte sich in dem selbsternannten Land der Freiheit schnell unbeliebt machen. Einem Land, das das gegenwärtige Jahrhundert zu einem "amerikanischen" erklärt hat wie um sicherzustellen, daß der globale Hegemonialanspruch Washingtons mehr denn je ernstzunehmen und zu akzeptieren sei. Einem Land, das die mit Abstand größte Militärmaschinerie der Welt unterhält und über ein Vernichtungspotential verfügt, das seinen Forderungen Nachdruck verleihen soll und dies wohl auch tut. Einem Land, das die offizielle Feststellung seines Staatsbankrotts im Frühsommer vergangenen Jahres gerade noch umgehen konnte, ohne sich auch nur annäherungsweise in einer Lage zu befinden, die der anderer Staaten, beispielsweise dem seiner nationalen Souveränität weitgehend verlustig gegangenen Griechenland, vergleichbar wäre. Einem Land, in dem ein Viertel aller weltweit inhaftierten Menschen leben, obwohl sein Bevölkerungsanteil an der Weltbevölkerung nur fünf Prozent beträgt. Einem Land, in dem straffällig gewordene Menschen, denen bestimmte Straftaten zur Last gelegt werden, auf legale Weise getötet werden können. Einem Land, in dem 3.200 Menschen zu einer solchen Tötung verurteilt wurden und nur noch am Leben sind, weil die ihnen auferlegte Hinrichtung noch nicht vollstreckt wurde. Einem Land, dessen Kriminalitätsrate in zwei Jahrzehnten - zwischen 1987 und 2007 - um 25 Prozent gesunken ist, während sich die Rate inhaftierter Menschen im gleichen Zeitraum verdreifacht hat.

All dies ist sattsam bekannt und all jenen wohlvertraut, die nicht bereit sind, einen solchen Zustand, mag man ihn nun als "moderne Sklaverei" bezeichnen oder nicht, zu akzeptieren und widerspruchslos hinzunehmen. So hatte bereits am 20. Februar dieses Jahres die US-amerikanische Occupy-Bewegung landesweit zu einem Solidaritätstag mit den rund 2,2 Millionen Menschen aufgerufen, die im US-Gefängnissystem inhaftiert sind. In 16 Städten fanden an diesem Tag Protestkundgebungen und -aktionen statt, um auf die unmenschlichen Zustände hinter den Gittern aufmerksam zu machen. Mit diesen Aktivitäten griff die US-amerikanische Protestbewegung den Widerstand der Gefangenen auf, die in verschiedenen Bundesstaaten seit dem vergangenen Jahr Hungerstreiks durchgeführt haben, an denen sich zeitweise bis zu 12.000 Inhaftierte beteiligt haben. "Vergeßt uns nicht, wir sind das eine Prozent am untersten Ende der Gesellschaft", hatte ein Gefangener des Todestraktes von San Quentin an diesem Aktionstag der Protestbewegung signalisiert.

Diese Worte sind in der Occupy-Bewegung verstanden und aufgegriffen worden, war doch in einem ihrer Aufrufe das massenhafte Einsperren der "am stärksten Marginalisierten und Unterdrückten in unserer Gesellschaft" gebrandmarkt worden. Da zwei Drittel der Gefangenen vor ihrer Inhaftierung in wirtschaftlicher Not lebten, forderte die Protestbewegung eine materielle Verbesserung der Lebensbedingungen in den ärmsten und notleidenden Städten Gemeinden anstelle eines weiteren Ausbaus des "gefängnisindustriellen Komplexes", der Milliarden verschlinge. So nachvollziehbar eine solche Forderung auch immer sein mag, geht sie doch in ihrem Appellcharakter an einer schonungslosen Analyse vorbei, befinden sich doch heute mehr schwarze US-Amerikaner im Gefängnis, als es Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA Sklaven gab. Ein rassistisches Problem ist dies deshalb nicht, auch wenn überproportional viele Afroamerikaner und Latinos von ihm betroffen sind, da sie in überproportionalem Maße an den unteren Rand der US-amerikanischen Gesellschaft gedrängt wurden bzw. diesen nie verlassen konnten.

Der Vorschlag, die große Armut in US-amerikanischen Städten und Gemeinden durch finanzielle Zuwendungen welcher Art auch immer beheben oder zumindest lindern zu wollen, zeugt zwar von den wohlwollenden Absichten ihrer Urheber, belegt jedoch auch deren Weigerung, den im Grunde offenkundigen Zusammenhang zwischen dieser ebenso gezielt wie systematisch erzeugten Gefängnisbevölkerung und ihrer Ausbeutung durch Zwangsarbeit mit zu berücksichtigen. Drakonische Strafen, schlechte und mehr als schlampige Ermittlungsarbeit, eine Richterschaft, der das Aburteilen locker von der Hand geht, sind, um nur einige Faktoren zu nennen, auf seiten des US-Justizsystems bewährte Mittel, um den stetigen Zufluß an Menschenmaterial in die Gefängnisse zu gewährleisten. Die Ungerechtigkeit dessen anzuprangern, hieße zu ignorieren, daß dieser Mechanismus, der schon seit vielen Jahrzehnten mit dem Begriff des gefängnisindustriellen Komplexes benannt wird, um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, aus der US-amerikanischen Gesellschaft in ihrer gegenwärtigen Herrschaftsform gar nicht wegzudenken ist.

Der 24. April, an dem der wohl weltbekannteste US-Gefangene, Mumia Abu-Jamal, seinen 58. Geburtstag beging, war von der Protestbewegung abermals zu einem Aktionstag gewählt worden für die Kampagne "Occupy for justice". Vielerorts und auf vielfältige Weise wurde abermals auf die unmenschlichen Haft- und Arbeitsbedingungen hingewiesen, und selbstverständlich nahm der Kampf gegen die Todesstrafe einen hohen Stellenwert ein. Auf den Kundgebungen wurde der gefängnisindustrielle Komplex erneut thematisiert, wobei einer der Redner klarstellte, daß viele US-Konzerne und auch die US-Armee ihre Produktion längst hinter die Gefängnismauern verlegt hätten, weil sie dort Ausbeutungs- und damit Kapitalverwertungsbedingungen vorfinden wie in keinem noch so armen Dritte- oder Vierte-Welt-Land.

Tatsächlich zählt der Privatsektor des US-Gefängnissystems zu den gewinnträchtigsten Branchen. Am 20. Februar, dem Aktionstag "Occupy for Prisoners", hatte sich das Hackerkollektiv Anonymous in das Computersystem der GEO Group, einem der weltweit größten Erbauer und Betreiber privater Gefängnisse, in Florida eingehackt. Diese Cyberaktion traf den zweitgrößten US-Konzern dieser Branche, der von Florida aus in 13 US-Bundesstaaten 61 Gefängnisse mit zusammen 60.000 Haftplätzen unterhält. Der Branchenprimus, die Corrections Corporation of America, kommt auf 63 Privatgefängnisse in 19 US-Bundesstaaten mit einer Gesamtgefangenenzahl von 85.000, deren Umsatz 2009 auf 1,58 Milliarden US-Dollar beziffert wurde, während die GEO Group im Jahr zuvor einen Nettogewinn von 58,9 Millionen US-Dollar angab [1].

Die Zukunftsträchtigkeit dieser Branche steht außer Frage, nimmt sie doch die Ausweitung des Verfügungszugriffs, der in traditionellen Arbeitsverhältnissen "nur" die Arbeitskraft des Menschen vereinnahmt, auf die gesamte Physis inklusive all dessen, was ein Mensch zuvor für seine Freiheit, seine Individualität und den Wert seines persönlichen Lebens in einer ihm vertrauten sozialen Umgebung gehalten und wertgeschätzt haben mag, vorweg. Die aktuellen Proteste, mögen sie auch, gemessen an der Zahl ihrer Protagonisten und Teilnehmer, noch nicht als "erfolgversprechend" erscheinen, tragen unterdessen den Keim einer Entwicklung in sich, die Spaltung der Gesellschaft, die ein Aktivist im Februar als zwingende Voraussetzung kapitalistischer Herrschaft angeprangert hatte, aufzuheben. Je mehr Menschen sich mit den Gefangenen der modernen Sklavenhaltergesellschaft USA solidarisieren, weil sie nicht länger bereit sind, zwischen sich und ihnen einen Unterschied zu machen, umso eher könnte einer solchen Raub- und Herrschaftsstruktur der Nährboden entzogen werden.

Anmerkung:

[1]‍ ‍Anonymous attackiert Gefängnisindustrie, von Jürgen Heiser, junge Welt, 27.02.2012, S. 6



4.‍ ‍Mai 2012