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DILJA/1405: Quo vadis, Venezuela? (SB)


Nach dem knappen Wahlsieg Maduros steht die "Bolivarische Revolution" auf dem Prüfstand



Die innenpolitische Lage Venezuelas unterscheidet sich deutlich von der vieler anderer Staaten, so auch der Bundesrepublik Deutschland. Begriffe wie rechtes und linkes Lager, Regierung und Opposition, Konservative und Sozialisten müssen in ihrer spezifischen Bedeutung "übersetzt" werden, um zu verdeutlichen, wieso die Situation in Venezuela nach dem relativ knappen Wahlerfolg des Chávez-Nachfolgers und bisherigen Vize- und Interimspräsidenten Nicolás Maduro, der am Montag vom Nationalen Wahlrat zum Sieger der Präsidentschaftswahlen erklärt wurde, so angespannt ist. Der Begriff "Opposition" definiert im hiesigen Parlamentarismusverständnis keine politische Konfrontation oder grundsätzliche Gegnerschaft zur Regierung. Gemeint ist mit diesem Begriffspaar vielmehr eine Art Rollenspiel auf der politischen Bühne mit marginal zu nennenden inhaltlichen Differenzen, das im wesentlichen seine Funktion darin erschöpft, die Wahlbevölkerung durch die immer wieder erneuerte Aussicht auf einen Wechsel dieser Funktionseliten auch auf einen echten Politikwandel hoffen zu lassen.

In Venezuela war dies auch so, bevor nach dem ersten Wahlsieg des vor kurzem verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez im Jahre 1998 die von ihm geführte Regierung sich darum bemühte, durch die "Bolivarische Revolution" eine Entwicklung in Gang zu setzen, die nicht nur die Bekämpfung von Armut, mangelnder Bildung und gesellschaftlicher Ausgrenzung mit oberster Priorität in Angriff nimmt, sondern zugleich auch einen basisdemokratischen Prozeß initiiert, der im Idealfall Staat und Regierung überflüssig macht, weil der eigentliche Souverän, nämlich das Volk, sich selbst regiert. Ideengeschichtlich wäre dies auch aus westlicher Sicht beileibe nicht revolutionär zu nennen, sondern die Erfüllung des klassischen Demokratieversprechens. Vielleicht ließen sich so die heftigen Gegen- und Abwehrreaktionen aus dem In- und Ausland möglicherweise mit der großen konzeptionellen Verwandtschaft erklären, da die Erfolge der "Bolivarischen Revolution" in der Sozial- und Partizipationspolitik einfach nicht in Abrede gestellt werden können.

Die bolivarische Bewegung Venezuelas vertritt einen Sozialismus, der die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verwertungsordnung keineswegs ausschließt, ihr aber gewisse Schranken auferlegt. Die Opposition Venezuelas, womit die Eliten in Politik, Wirtschaft und Medien gemeint sind, die das Land vor 1998 fest im Griff hatten und bis heute nicht gewillt sind, diesen Zugriffsverlust hinzunehmen, haben nichts unversucht gelassen, um den als charismatisch geltenden Chávez zu Fall zu bringen, was 2002 in einem fehlgeschlagenen Putschversuch gipfelte. All dies ist sattsam bekannt und macht nachvollziehbar, warum für die politischen Gegner der "Bolivarischen Revolution" die nach Chávez' Tod erforderlich gewordene Präsidentschaftsneuwahl eine weitere Option darstellt, die ihnen so verhaßte Entwicklung rückgängig zu machen.

Der von Chávez zu seinem Wunschnachfolger erklärte Nicolás Maduro hat die Präsidentschaftswahl am Sonntag relativ knapp mit 50,75 zu 48,98 Prozent [1] gewonnen. Bei den Protesten und Kundgebungen der Oppositionsanhänger kam es zu zum Teil gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Regierungsanhängern, in deren Verlauf am Montag, wie es zunächst hieß, mindestens vier Aktivisten und Anhänger der Regierungspartei (PSUV) getötet wurden. Wie Luisa Ortega Díaz, die Generalstaatsanwältin Venezuelas, am Dienstag bekannt gab, war es bis dahin zu insgesamt sieben Toten, 61 Verletzten und 135 Festnahmen gekommen. [2] Laut der amtlichen Nachrichtenagentur AVN vom Mittwochabend ist die Zahl der Todesopfer inzwischen auf acht gestiegen. [3]

Für den frisch gekürten Präsidenten Maduro waren die bei den bisherigen Protesten und Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern ums Leben gekommenen Menschen Grund genug, eine für Mittwoch angekündigte Kundgebung der Opposition zu verbieten. "Ich werde den Marsch im Zentrum von Caracas nicht erlauben. Wir erlauben nicht, dass sie Blut auf den Straßen von Caracas vergießen. Wenn Sie mich stürzen wollen: Ich bin hier mit dem Volk in den Straßen", so Maduro am Dienstag. Wer die Mehrheit in einer Demokratie schwächen wolle, so der neue Präsident, rufe nach einem Staatsstreich. [1] Sein Gegenkandidat, Henrique Capriles Radonski vom "Tisch der Demokratischen Einheit" (MUD), der seine Wahlniederlage bis heute nicht anerkennt, rief seine Anhänger wenig später dazu auf, von dieser Kundgebung abzusehen.

So wie Maduro seinem unterlegenen Gegner vorwirft, einen Staatsstreich vorzubereiten, hält dieser ihm entgegen, seinen Sieg durch Wahlmanipulationen erreicht zu haben. Capriles, der Gouverneur des Bundesstaates Miranda ist, macht geltend, daß 535 Wahlautomaten defekt gewesen und in über 280 Wahlzentren die Beobachter der Opposition von der Armee verdrängt worden seien. [4] Mit den Feststellungen der nationalen und internationalen Wahlbegleiter, die ihre Berichte am Montag vor dem Nationalen Wahlrat vortrugen, lassen sich diese Vorwürfe nicht in Übereinstimmung bringen. Diesen Berichten zufolge ist die Präsidentschaftswahl ohne Probleme verlaufen. An allen Wahltischen seien Zeugen aller politischen Lager anwesend gewesen, auch habe die öffentliche Stimmauszählung eine völlige Übereinstimmung mit den digitalen Ergebnissen ergeben, weshalb das abschließende Votum der Wahlbegleiter lautete, das Wahlergebnis sei gültig und transparent. [5]

Außenminister Elías Jaua verwies unterdessen darauf, daß der bei der Präsidentschaftsneuwahl unterlegene Capriles bei der Gouverneurswahl im Bundesstaat Miranda im Dezember vergangenen Jahres gegen ihn noch knapper gewonnen hätte. Weniger als 30.000 Stimmen hätten damals den Ausschlag gegeben, was den Verlierer - also Jaua - nicht von abgehalten habe, seine Wahlniederlage unmittelbar danach anzuerkennen. Der jetzige Wahlsieg Maduros wurde auch von den Wahlbeobachtern der Interamerikanischen Union der Wahlbehörden (UNIORE) bestätigt, die das venezolanische Wahlsystem als "effizient, transparent und sicher" bezeichneten. [5] Zur Befriedung der nach wie vor sehr angespannten Lage werden Äußerungen dieser und ähnlicher Art allerdings kaum beitragen können.

Capriles, der dem Wahlergebnis zufolge eine nur um knapp zwei Prozent kleinere Wählerschaft hinter sich weiß, hat prominente Unterstützer im Ausland - die Regierungen Spaniens und der USA, aber auch die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS). Die bisherige Weigerung Washingtons, das Wahlergebnis vom Sonntag anzuerkennen, dürfte kaum zur Beruhigung der Lage beitragen. "Wir haben noch nicht darüber entschieden, ob wir Nicolás Maduro als Präsidenten anerkennen. Dieser Rechtsstreit muss erst geklärt werden und wir sehen eine Nachzählung der Stimmen als ratsam an", hatte die Antwort von US-Außenminister John Kerry auf eine diesbezügliche Reporterfrage gelautet. [6]

Ob eine solche Nachzählung zu einem anderen Ergebnis führen würde, ist allerdings äußerst fraglich. Wie german-foreign-policy.com deutlich machte, hat die Capriles unterstützende Konrad-Adenauer-Stiftung in ihrem jüngsten Bericht erklärt, daß sowohl der Wahlprozeß als auch die Wahlbeobachtung in Venezuela so sorgfältig geregelt seien, daß es "für eine Manipulation der Stimmenauszählung wenig Raum" gebe, weshalb es eher unwahrscheinlich sei, daß die von der Opposition beantragte "manuelle Auszählung ein wesentlich anderes Ergebnis nachweisen" würde. [7] Unterdessen ist eine Liste mit den Hinweisen auf etwaige Unregelmäßigkeiten beim Nationalen Wahlrat (CNE) eingegangen. Die Opposition fordert eine Nachprüfung der elektronischen Wahlautomaten, aller Wahlzettel und Akten und führt an, daß einige Wahlbeobachter mit vorgehaltener Waffe zum Verlassen der Wahlzentren gezwungen worden seien. Die Regierung hat sich bereit erklärt, jede Entscheidung des Wahlrates zu akzeptieren. [8]

Denkbar ist allerdings auch, daß in Venezuela gegenwärtig nach dem bewährten Strickmuster und Maßnahmenkatalog der sogenannten "bunten Revolutionen" vorgegangen wird, wie sie von der auf Umsturzbewegungen spezialisierten Organisation Otpor, die schon in Serbien wie auch vielen osteuropäischen Staaten, aber auch beim Arabischen Frühling sowie im Iran in Erscheinung getreten sein soll, bevorzugt werden. So sollen Otpor-Aktivisten am Wahlabend in Caracas gesichtet worden sein. [9] Der knappe und umstrittene Wahlsieg Maduros, dem in den vorherigen Wahlprognosen ein wesentlich deutlicherer Erfolg vorhergesagt worden war, wirft Fragen auf, die sich mit dem ihm erklärtermaßen fehlenden "Charisma" des verstorbenen "Commandante" allein kaum erklären lassen.

So wird bereits gemutmaßt, daß der unerwartet erfolgreiche Capriles sehr gute Berater - etwa von Otpor - gehabt haben könnte. Im Wahlkampf hat Capriles offenbar Anleihen an Slogans und Symbolen seines Gegners genommen, was zu seinem guten Wahlergebnis beigetragen haben könnte. 2004 war er wegen seiner Aktivitäten beim Putschversuch gegen Chávez im Jahr 2002 vor Gericht gestellt und inhaftiert worden. Im diesjährigen Wahlkampf gegen Maduro stellte er sich nahezu als "Sozialist" dar, was ihm im vergangenen Jahr, als er gegen Chávez angetreten und deutlich verloren hatte, noch nicht eingefallen war. "Der echte Sozialismus unterscheidet nicht zwischen den einen und den anderen, denn wir alle sind in diesem schönen Land mit denselben Rechten auf ein besseres Leben geboren worden", hatte Capriles nun erklärt, ganz so, als würde er sich dieser Gesellschaftsutopie zutiefst verbunden fühlen. [10]

Zu seiner Unterstützung ist im diesjährigen Wahlkampf auch eine Gruppe in Erscheinung getreten, die sich - in offenkundiger Anlehnung an Begrifflichkeiten und Slogans des Regierungslagers - "Bolivarianos und Revolutionäre für Capriles" nannte. Ihr Sprecher, Henry Faceto, war ein Mitbegründer der 1997 von Hugo Chávez initiierten "Bewegung Fünfte Republik" (MVR), die inzwischen in der Regierungspartei "Vereinte Sozialistische Partei Venezuelas" (PSUV) aufgegangen ist. Die Stoßrichtung, mit der Capriles beinah erfolgreich gewesen wäre, liegt auf der Hand: Das Andenken an den verstorbenen Chávez hochhalten, um unter dessen Anhängern Unzufriedene auf seine Seite zu ziehen. So hatte Faceto erklärt: "Comandante, ich habe auf Ihrer Seite gestanden, aber diese Zeit ist vorbei" und im gleichen Atemzug auf "14 Jahre Faulheit" der bisherigen Regierung, also auch auf Chávez, geschimpft. [10]

Sollte die gegenwärtig instabile Lage von dem frisch gewählten Präsidenten und seiner Regierung, den lokalen Räten und den Basisorganisationen, die sich bereits zu einer "Volksfront zur Verteidigung der Revolution und des Friedens" zusammengeschlossen haben, stabilisiert werden können, wäre die Frage nach der Zukunft Venezuelas noch immer eine offene, da der Beinaherfolg eines Kontrahenten wie Capriles nicht durch ein noch so effizientes Politik-Management allein erklärt werden kann. Wenn eine sozialistische Bewegung durch die Imitation ihrer Symbole, Schlagworte und Slogans so leicht geschwächt und ihre Anhänger verunsichert werden können, spricht dies Bände für unerledigte Probleme und Widerspruchslagen in den eigenen Reihen.


Anmerkungen:

[1] http://www.spiegel.de/politik/ausland/venezuela-mehrere-tote-bei-protesten-gegen-wahlergebnis-a-894771.html

[2] http://amerika21.de/2013/04/82306/tote-venezuela

[3] http://www.focus.de/politik/ausland/nach-praesidentschaftswahl-venezuelas-opposition-beantragt-neuauszaehlung_aid_963217.html

[4] http://www.handelsblatt.com/politik/international/vorwurf-putschversuch-venezuela-nach-wahl-in-der-krise/8077754.html

[5] http://amerika21.de/2013/04/82264/krise-venezuela

[6] http://latina-press.com/news/151326-venezuela-usa-sprechen-sich-fuer-neuauszaehlung-der-stimmen-aus/

[7] Georg Eickhoff: Venezuelas Opposition erkennt das Wahlergebnis nicht an; Konrad-Adenauer-Stiftung, Länderbericht Venezuela, 15.04.2013

[8] http://www.focus.de/politik/ausland/nach-praesidentschaftswahl-venezuelas-opposition-beantragt-neuauszaehlung_aid_963217.html

[9] http://www.heise.de/tp/artikel/38/38932/1.html

[10] Kopierte Kampagne. junge Welt, 05.04.2013, S. 7

18. April 2013