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DILJA/1425: Giftgas in Syrien - der immergleiche Gebrauch und Nutzen ... (SB)



Sean Spicer, Sprecher des Weißen Hauses, dürfte am 31. März für Irritationen, wenn nicht Befremden bei den europäischen Partnern gesorgt haben mit seiner Erklärung, der syrische Präsident Baschar al Assad sei eine politische Realität, die man gegenwärtig zu akzeptieren habe. Der Sturz Assads gehöre nicht mehr zu den Kriegszielen der US-Streitkräfte, die sich statt dessen auf die Bekämpfung der Miliz Islamischer Staat konzentrieren würden. Die Außenminister der 28 EU-Staaten reagierten prompt. Auf ihrem Ratstreffen am 3. April in Luxemburg stellten sie klar, daß ihrer Ansicht nach ein dauerhafter Frieden in Syrien mit Präsident Assad nicht möglich sei. Bundesaußenminister Gabriel warnte die USA, die "Syrien-Frage", wie er die von auswärtigen Kräften in Anspruch genommene Entscheidung über das höchste Staatsamt Syriens nannte, dem Kampf gegen die Dschihadistenmiliz IS unterzuordnen.

Einen Tag später, am 4. April, begann in Brüssel eine zweitägige Syrien-Konferenz, auf der über den politischen Übergang und den Wiederaufbau Syriens verhandelt werden sollte, so als lägen Fragen und Aufgabenstellungen dieser Art tatsächlich in Händen ausländischer Staaten bzw. der sogenannten internationalen Gemeinschaft. Die als Hilfskonferenz ausgewiesene Tagung, zu der die EU, die UN und Deutschland eingeladen hatten, begann wie geplant. Am ersten Konferenztag standen die Hilfsorganisationen im Mittelpunkt, es erging ein Aufruf, die humanitäre Hilfe für Syrien auszuweiten. Das Ausmaß des Leidens erfordere, so der zuständige EU-Kommissar Christos Stylianides, ein verstärktes Handeln. Bundesaußenminister Gabriel sagte am zweiten Konferenztag zu, daß Deutschland den Opfern des Syrienkriegs über die bereits 2016 bis Ende 2018 zugesagten 2,3 Mrd. Euro hinaus 1,1 Mrd. Euro zusätzlich zur Verfügung stellen würde, um den Kriegsflüchtlingen in Syrien sowie in den Nachbarstaaten Libanon, Jordanien und der Türkei zu helfen.

In Medien und Öffentlichkeit wurden die Konferenz und ihre Ergebnisse alsbald in den Hintergrund gedrängt durch einen folgenschweren Vorfall, der sich in den Morgenstunden des ersten Konferenztages in Syrien ereignete und ad hoc als "Giftgasangriff" bezeichnet wurde. Gegen 6.30 Uhr Ortszeit wurden am 4. April in der Stadt Chan Scheichun in der Provinz Idlib viele Menschen offenbar im Schlaf vergiftet. Nach Angaben der in London ansässigen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte liegt die Zahl der Todesopfer bei 72, unter ihnen 20 Kinder. Chemiewaffenexperten haben laut amnesty international bestätigt, daß die Opfer offenbar einem Nervengas bzw. einer phosphororganischen Verbindung wie Sarin ausgesetzt gewesen waren. [1]

Führende Vertreter westlicher Staaten haben unmittelbar nach dem von ihnen als Giftgasangriff gedeuteten Vorfall den syrischen Präsidenten Assad verantwortlich gemacht. Die EU hatte am Tag vor dem Vorfall ihre neue Syrien-Strategie propagiert und darin explizit die Absetzung Assads gefordert. Nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff verurteilte die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini diesen sehr schnell als einen schrecklichen Angriff Assads. Die USA suchten mit dieser Deutung ihren Bombenangriff auf einen syrischen Militärstützpunkt am Freitag, dem 7. April, zu rechtfertigen. Trump zufolge sei dieser Luftangriff "grundlegend für die nationale Sicherheit" der USA gewesen. [2]

Auch die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens, die eigene Streitkräfte in Syrien stationiert haben, machten umgehend die syrische Regierung verantwortlich. "Wie am 21. August 2013 in Ghouta greift Baschar al-Assad Zivilisten an und nutzt dabei Mittel, die von der internationalen Gemeinschaft geächtet sind", hieß es in einer Erklärung des französischen Präsidentenpalastes vom Tag des Vorfalls, während der britische Außenminister Boris Johnson erklärte, die Ereignisse trügen "alle Anzeichen eines Angriffs durch das Regime, das wiederholt chemische Waffen eingesetzt hat." [3]

Zwei Tage nach dem mutmaßlichen Giftgasangriff im Norden Syriens erklärte der Toxikologe und Mitbegründer der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW), Ralf Trapp, gegenüber dem Deutschlandfunk, daß hier im Grunde zwei miteinander verknüpfte Fragen beantwortet werden müßten - nämlich zum einen, ob es ein Giftgas-Angriff war und wenn ja, welches Giftgas verwendet wurde, und zum anderen, welche Indizien und Beweismaterialien vorliegen, die nachweisen könnten, was wirklich passiert und wer dafür verantwortlich ist. Zwei Tage, nachdem westliche Politiker in ersten Reaktionen den syrischen Präsidenten verantwortlich machen zu können vorgaben, obwohl noch keinerlei offizielle Untersuchungsergebnisse vorlagen, erklärte der Chemiewaffenexperte, man könne anhand der vorliegenden Bilder lediglich sagen, daß eine große Zahl von Menschen vergiftet wurde. Die Symptome deuteten Trapp zufolge auf ein Nervengas, vermutlich ein Organum-Phosphat, hin, was durch Untersuchungen genau geklärt werden könne. Informationen darüber zu sammeln, wer für den Vorfall verantwortlich ist, gehe über den Rahmen der OPCW hinaus. [4]

Der jüngste Giftgasvorfall in Syrien gilt als der schwerste seit dem Giftgasangriff vom 21. August 2013, durch den rund 1.400 Menschen getötet wurden. Auch damals wurde ad hoc die syrische Regierung bar konkreter Beweise für den mörderischen Angriff verantwortlich gemacht. Der damalige US-Präsident Barack Obama hatte im Jahr zuvor einen Giftgasangriff gegen die syrische Bevölkerung zu einer roten Linie erklärt, bei deren Überschreiten die US-Streitkräfte in voller Wucht zuschlagen würden - wovon Obama dann aber nach zehntätiger Bedenkzeit Abstand nahm. Nicht wenige hatten seinerzeit gefragt, wie "dumm" Präsident Assad eigentlich hätte sein müssen, um direkt vor den Augen der UN-Inspektoren, die am Tag zuvor nach Syrien gekommen waren, den größten Giftgasangriff dieses Krieges anzuordnen, noch dazu in einer Situation, in der die syrischen Streitkräfte auf dem Vormarsch waren und Stellungen der sogenannten Rebellen bereits zurückerobert hatten.

Eine zweifelsfreie Beweisführung zu der Frage, wer für dieses Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden könne, hätten auch im Spätsommer 2013 die UN-Inspekteure nicht erbringen können, ließ doch ihr Mandat nur die Untersuchung der Frage zu, ob und wenn ja welches Giftgas eingesetzt wurde. Die dazu genommenen Proben mußten in einem mehrwöchigen Verfahren untersucht werden, doch noch bevor diese Arbeiten ein eindeutiges Ergebnis hätten erbringen können, gaben die Regierungen der USA, Frankreichs und Großbritanniens das "Ergebnis" bekannt. Unter Berufung auf "Erkenntnisse ihrer Geheimdienste" sei die Verantwortung der Regierung Assad nachgewiesen, so die damalige Behauptung. [5]

Nach Angaben des Investigativjournalisten Seymour Hersh sollen die USA allerdings auch bewußt Geheimdienstberichte ignoriert haben, denen zufolge die Al-Nusra-Front Giftgase wie Sarin in großem Stil produziert hätte. [6] Der Giftgasmord vom 21. August 2013 ist keineswegs so eindeutig aufgeklärt, wie es nach Verlautbarungen führender westlicher Regierungen und maßgeblicher Medien den Anschein hat. Mit der Schuldzuweisung an die Regierung Assad wäre - beinahe - ein vollentfachter US-Krieg gegen Syrien ausgelöst worden. Die Bezichtigung Assads war schon damals keineswegs zwingend glaubwürdig, zumal die diesbezüglichen vermeintlichen "Informationen" von derselben Staatengruppe bzw. ihren Geheimdiensten stammten, die durch ihre inzwischen unbestreitbaren Irakkriegslügen in solchen Fragen eigentlich jedwede Glaubwürdigkeit verspielt haben müßten.

Der Umstand, daß sie abermals, von Protesten der russischen Regierung und anderen einmal abgesehen, scheinbar folgenlos und ohne Bezugnahme auf die UN-Charta und die darin vorgesehenen friedenserhaltenden Maßnahmen Urteile fällen und vollstrecken zu können vorgeben, belegt keineswegs die Richtigkeit ihrer aufgestellten Behauptungen, sondern ließe sich im Zweifelsfall mit ihrer militärisch gestützten Vormachtstellung und ihrer daran geknüpften Deutungs- und Meinungshoheit erklären. Nicht anders wird mit abweichenden Indizien, Hinweisen und Gegendeutungen verfahren, die der heute vorherrschenden Erklärung, die Regierung Assad müsse für die Giftgasopfer vom 4. April verantwortlich sein, weil niemand sonst zu einem solchen Angriff in der Lage gewesen wäre, entgegenstehen.

Im Oktober 2013 hatte die Regierung Assad der Vernichtung sämtlicher Chemiewaffen zugestimmt, was unter Aufsicht der UN-Organisation für das Verbot von Chemiewaffen (OPCW) dann auch geschah und von dieser verifiziert wurde. Syrien trat als 190. Vertragsstaat der Chemiewaffenkonvention bei. Wie westliche Regierungen vermuten, seien jedoch von syrischer Seite Chemiewaffen zurückgehalten worden, was allerdings nach Angaben Trapps keineswegs erwiesen ist. [4] Wie schon 2013 wird auch jetzt die Frage gestellt, warum der syrische Präsident ein solches Massenvernichtungsmittel gerade zum Zeitpunkt der EU-Syrienkonferenz hätte einsetzen sollen. Hätte er den neuen US-Präsidenten dazu bewegen wollen, die Kriegsdrohung seines Vorgängers doch noch wahr zu machen? [7]

Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkow wird unterdessen mit den Worten zitiert, die syrische Luftwaffe habe eine Munitionsfabrik angegriffen, in der Rebellen Giftgasgranaten für den Einsatz im Irak produziert hätten. Konaschenkow zufolge hätten islamistische Aufständische schon im vergangenen Jahr Chemiewaffen während der Kämpfe um Aleppo eingesetzt. [6] Der Wert der deutschen Luftaufklärung, so hieß es im Neuen Deutschland am 7. April, könne unter Beweis gestellt werden, um diese Behauptung zu prüfen. Mit Fotos von der Stadt Chan Scheichun zur Zeit des Giftgasvorfalls ließe sich womöglich beurteilen, ob es, wie vom russischen Generalstab behauptet, einen Angriff auf ein Munitionslager der Al-Nusra-Front gegeben hat, wodurch möglicherweise ein von den sogenannten Rebellen dort gelagerter Kampfstoff hätte freigesetzt werden können. [7]

Unterdessen stellte die US-Vertreterin bei den Vereinten Nationen Nikki Haley klar, daß es sich bei dem Angriff der US-Streitkräfte auf einen syrischen Militärstützpunkt vom vergangenen Freitag um keine einmalige Warnung gehandelt habe. Die USA behielten sich weitere Schläge vor und würden auch fürderhin eigenmächtig handeln, falls sie dies für erforderlich erachteten. Offenbar wähnt sich die Trump-Administration in der Lage, ihre angemaßte Weltpolizistenrolle militärisch ausleben zu können und die (für andere) geltende UN-Charta de facto für obsolet zu erklären, und ebenso offenkundig stimmen die NATO-Partner in diesen Gesang mit ein. Kanzlerin Merkel beispielsweise verurteilte den "offensichtlichen C-Waffenangriff" und wurde von Regierungssprecher Seibert mit den Worten zitiert: "Solche Kriegsverbrechen müssen bestraft werden." [3]

Im syrischen Staatsfernsehen ist, bezogen auf den Luftangriff der US-Streitkräfte, von einem "Akt der Aggression" die Rede. Talal Barasi, der Gouverneur von Homs, warf den USA vor, mit dieser Bombardierung Terrormilizen wie den Islamischen Staat zu unterstützen, diese seien von dem nun attackierten syrischen Stützpunkt aus angegriffen worden. Auf der Luftwaffenbasis Shayrat wurden Start- und Landebahnen zerstört und Treibstofflager getroffen. [9] Nach Angaben des Pentagon wurden 59 Marschflugkörper des Typs Tomahawk Land Attack Missiles von den Zerstörern USS Porter und USS Ross in der Nacht zum Freitag auf den Flughafen abgefeuert. Zu den Zielen hätten neben Flugzeugen, Hangars und Lagerhallen auch Luftabwehreinrichtungen und Radaranlagen der syrischen Armee gehört.

Wie aber soll durch die Zerstörung derartiger Defensivwaffen gegen etwaige Luftangriffe von außen die syrische Luftwaffe ihrerseits vor (weiteren?) Giftgasangriffen abgehalten werden können? [10] Steht nicht zu befürchten, zumal die Vernichtung der gegnerischen Flugabwehr in früheren Kriegen wie in Jugoslawien oder im Irak zu den ersten militärischen Maßnahmen oft sogar noch vor dem offiziellen Kriegsbeginn gehörte, daß von einer sogenannten Koalition der Willigen gegenüber Syrien gänzlich andere als die von den USA und ihren Verbündeten geltend gemachten militärischen Ziele verfolgt werden könnten?


Fußnoten:

[1] https://www.amnesty.de/2017/4/5/syrien-un-sicherheitsrat-muss-nach-giftgasangriff-handeln?destination=startseite

[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nach-giftgasangriff-in-syrien-usa-greift-luftwaffenstuetzpunkt-an-14961370.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[3] http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5195883/Syrien_So-sieht-Russland-den-ChemiewaffenAngriff

[4] http://www.deutschlandfunk.de/chemiewaffen-einsatz-in-syrien-symptome-deuten-auf-eine-art.694.de.html?dram:article_id=383191

[5] http://www.taz.de/!5059877/

[6] http://www.wsws.org/de/articles/2017/04/06/syri-a06.html

[7] https://www.neues-deutschland.de/artikel/1047373.zu-viele-beweise-fuer-eine-einfache-wahrheit.html

[8] https://heise.de/-3678764

[9] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/nach-giftgasangriff-in-syrien-usa-greift-luftwaffenstuetzpunkt-an-14961370.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

[10] https://heise.de/-3677688

12. April 2017


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