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AFRIKA/1974: Nigeria - NGOs fordern Kompensation für Ölleckagen (SB)


Neue Serie von Ölaustritten im Niger-Delta


In Nigeria haben sich vor kurzem zahlreiche Menschenrechtsorganisationen und Umweltgruppen zu einer Koalition [1] zusammengeschlossen und auf einer Pressekonferenz in der Wirtschaftsmetropole Lagos die Bundesregierung aufgefordert, die Ölgesellschaften strenger zu kontrollieren und dafür Sorge zu tragen, daß sie internationale Umweltstandards einhalten. Zu diesem Zweck solle die Regierung ein unabhängiges Aufsichtsgremium einberufen, welches durch einen bestimmten Prozentsatz auf die Steuereinnahmen aus dem Ölgeschäft finanziert wird und als Versicherung für Kompensationszahlungen dient.

Gary Foxcrot, Programmdirektor der in Großbritannien ansässigen Organisation Stepping Stones Nigeria, forderte laut der Zeitung "Daily Champion" [2], daß die Einrichtung für die Säuberung und Wiederherstellung von Umweltschäden durch Ölleckagen aufkommen und dazu mit entsprechenden Mitteln und Kompetenzen ausgestattet werden sollte. In dem Gremium sollten Mitglieder der Zivilgesellschaft, Regierung und größeren Ölgesellschaften sitzen. Die Koalition verlangt darüber hinaus absolute Transparenz des Gremiums, eine lückenlose Veröffentlichung aller früheren und zukünftigen Untersuchungsergebnisse zu Umweltschäden sowie gemäß internationaler Standards, daß die Erdölpipelines alle fünfzehn Jahre ausgewechselt werden.

Foxcrot und seine Mitstreiter bezogen sich ausdrücklich auf die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, die zu einer Milliardenforderung von US-Präsident Obama an den Konzern BP geführt hat, um die von der Ölverseuchung betroffenen Gemeinden am Golf zu entschädigen, und kritisierten, daß die Schäden in Nigeria hingenommen werden.

Zwar ist es im nigerianischen Hauptfördergebiet, dem Niger-Delta, niemals zu einem derart großen katastrophalen Einzelereignis gekommen wie im aktuellen Fall vor der US-Südküste, aber in der Summe übertreffen die Ölleckagen aus der inzwischen mehr als 50 Jahre währenden Erdölförderung in Nigeria diesen Vorfall locker, wie vor kurzem John Vidal für die britische Zeitung "The Guardian" berichtete. [3] (Damals konnte Vidal allerdings noch nicht die "wahre" Menge - also diejenige, die BP heute eingesteht - kennen, die permanent aus dem Bohrloch der havarierten Ölplattform Deepwater Horizon ins Meer strömt. Insofern sind solche Vergleiche nur bedingt tauglich.)

Zu den jüngeren der zahllosen Ölleckagen gehören zwei, die der US-Konzern ExxonMobil bzw. sein örtlicher Ableger Mobil Producing Nigeria (MPN) zu verantworten hat. Zu einem Ölaustritt unbekannter Menge kam es bereits vor einigen Monaten und als nächstes im Juni auf dem Qua Iboe-Ölfeld, wie die nigerianische Zeitung "Leadership" am 1. Juli meldete. [4] Den örtlichen Fischern sei dadurch die ökonomische Grundlage entzogen worden. Während Mobil keine Angaben zur ausgetretenen Mengen Rohöl macht, sprechen Beamte der National Oil Spills Detection and Response Agency von weniger als zwei Barrel. (Ein Barrel entspricht rund 159 Litern.)

John Vidal gibt für eine Ölleckage, die am 1. Mai eine gebrochene Pipeline ExxonMobils im Bundesstaat Akwa Ibom verursacht hat, eine Austrittsmenge von mehr als 28.571 Barrel innerhalb einer Woche an. Tausende Barrel Öl seien in dem Zeitraum auch aus der nahegelegenen Shell Trans Niger-Pipeline ausgetreten, die von Rebellen angegriffen worden sei, und ein paar Tage darauf seien dicken Ölklumpen im Lake Adibawa, Bundesstaat Bayelsa, und im Ogoniland aufgetaucht. Ebenfalls in Bayelsa, in der Gemeinde Ondewari des Southern Ijaw Council, kam es am 4. Juli zu einer Leckage und Feuersbrunst an einer Einrichtung der Nigeria Agip Oil Company (NAOC). [5] Die Bewohner wurden aus gesundheitlichen Gründen in benachbarten Gemeinden untergebracht. Das Trinkwasser ist nachhaltig verdorben.

Daß der permanente Einfluß von Umweltverschmutzungen durch die über 600 Ölfelder und Tausende von Pipelines im Niger-Delta das Wohlbefinden und die Gesundheit beeinträchtigt, ist unstrittig. Die leicht flüchtigen Anteile, Schwermetalle und anderen Substanzen des Erdöls können zu Haut-, Atemwegs- und Nervenschädigungen führen. Auch die Organfunktionen werden womöglich gestört. Das alles kann sich auch in einer Verringerung der kognitiven Fähigkeiten äußern, wobei Kinder, die im Niger-Delta zur Welt kommen und aufwachsen, besonders gefährdet sind. Die durchschnittliche Lebenserwartung in den ländlichen Regionen des Deltas liegt nur knapp über 40 Jahren.

Der allzu berechtigte Wunsch der örtlichen Bevölkerung nach einer angemessenen Kompensation - wenn sie schon nicht grundsätzlich verhindern können, daß das Erdöl unter ihren Füßen und im Offshore-Bereich unangetastet bleibt - trägt bis heute mit dazu bei, daß vor allem jüngere Einwohner des Niger-Deltas zu den Waffen greifen, um ihren unerfüllten Forderungen Nachdruck zu verleihen. Der Kampf ist - mal wieder - zu einem regelrechten Krieg ausgeartet, bei dem sich Polizei und Milizen Schießereien liefern. Es werden Anschläge mit Autobomben verübt und Menschen entführt sowie umgekehrt Luftangriffe auf mutmaßliche Stellungen der bewaffneten Gruppen durchgeführt.

Der Dauerkonflikt in Nigeria ist Ausdruck des typischen Widerspruchs insbesondere in rohstoffreichen Länder zwischen dem Verfügungsanspruch einer Zentralregierung, die nur dem Anschein nach im Interesse aller Mitglieder der Gesellschaft handelt, und örtlichen Gemeinschaften. Diese werden mit Polizei und Militär zu Zugeständnissen gezwungen, die nichts mit Freiwilligkeit zu tun haben und Ausdruck eines nackten Gewaltverhältnisses sind.

In der Erdölförderregion des Niger-Deltas kann man an den katastrophalen Folgen dieser Form der Unterwerfung gar nicht vorbeisehen. Warum sollte irgendein Bewohner damit einverstanden sein, daß er und seine Familie wegen der Ölverseuchung auf ihren traditionellen Fischfang verzichten müssen? Mit keiner noch so hohen Summe kann das Siechtum der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen kompensiert werden. Geradezu zynisch wird es, wenn man sich vor Augen führt, daß die bislang gezahlten, spärlichen Entschädigungen und sonstigen bescheidenen "Leistungen" zur Verbesserung der zuvor zerstörten Lebensverhältnisse der Deltabewohner nur ein Bruchteil der Einnahmen sind, welche permanent den Unternehmen und der Regierung aus der Erdölförderung zufließen.


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Anmerkungen:

[1] Der Koalition haben sich unter anderem angeschlossen: Centre for Environment, Human Rights and Development, Stepping Stones Nigeria, Justice in Nigeria Now, Stakeholder Democracy Network, Stepping Stones Nigeria Child Empowerment Foundation, Coalition Against Corrupt Leaders, Advocate for a Free Niger Delta.

[2] "Nigeria: Oil Spills - Group Calls for Independent Compensation Body", Daily Champion, 3. Juli 2010
http://allafrica.com/stories/201007051124.html

[3] "Nigeria's agony dwarfs the Gulf oil spill. The US and Europe ignore it", The Observer, 30. May 2010
http://www.guardian.co.uk/world/2010/may/30/oil-spills-nigeria-niger-delta-shell

[4] "Nigeria: Fishing Communities Lament Oil Spill in Akwa Ibom", Leadership (Abuja), 1. Juli 2010
http://allafrica.com/stories/201007010680.html

[5] "Nigeria: Fear Over Inferno At NOAC Oil Spill Site", Daily Independent, 5. Juli 2010
http://allafrica.com/stories/201007060708.html

7. Juli 2010