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AFRIKA/2187: Algerien - und faule Kompromisse ... (SB)


Algerien - und faule Kompromisse ...


Algerien wird seit rund zwei Wochen von heftigen Massenprotesten erschüttert. Ausgelöst wurden die landesweiten Demonstrationen durch die Ankündigung des greisen Staatsoberhaupts Abd Al Aziz Bouteflika, bei der Präsidentenwahl am 18. April doch noch für eine fünfte Amtszeit kandidieren zu wollen. Das sehen viele der 41 Millionen Algerier, von denen rund die Hälfte unter dreißig Jahre alt ist, nicht ein. Mit ihren Protesten will die algerische Jugend nicht nur Bouteflika loswerden, sondern zugleich eine längst überfällige demokratische Öffnung herbeiführen. Schließlich wird das nordafrikanische Land seit 1962 bis heute von einer Koalition aus der Führungsclique der Front de Liberation National (FLN), die nach acht Jahren Krieg gegen Frankreich die Unabhängigkeit Algeriens erstritt, befreundeter Militärs und verbündeter Oligarchen dominiert. Diesen Staat im Staate nennen die einfachen Algerier "le pouvoir" - "die Macht".

1991/1992 sah es so aus, als könnte die Herrschaft der FLN zu Ende gehen. Bei der ersten Runde der Parlamentswahlen hatte die islamische Heilsfront (Front Islamique du Salut - FIS) die meisten Stimmen erhalten und steuerte bei der zweiten auf eine Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung zu. Statt den demokratischen Übergang mit den gemäßigten Islamisten zu wagen, putschten die Generäle in Algier - übrigens in Absprache mit Frankreich -, erklärten den Wahlgang für beendet, verboten die FIS und trieben deren aktivste Mitglieder in den Untergrund. Es folgte der algerische Bürgerkrieg, der an Grausamkeit nicht zu überbieten war und rund 200.000 Menschen das Leben kostete. 1999 gab sich die Islamische Heilsarmee (Armee Islamique du Salut - AIS), der politische Arm der FIS, geschlagen und streckte die Waffen. Im selben Jahre wurde Bouteflika mit Unterstützung des Militärs zum Präsidenten gewählt. Was er daraufhin nach außen als "nationale Versöhnung" verkaufte, erlebten die meisten Algerier als politische Grabesstille.

Die Erinnerungen an das Blutvergießen der Bürgerkriegsjahre sind sicherlich der wichtigste Grund, warum Algerien 2011 im Gegensatz zu den Nachbarländern Marokko, Tunesien, Libyen und Ägypten von den Umwälzungen des sogenannten "Arabischen Frühlings" unberührt blieb. Ein weiterer Grund ist die Tatsache, daß unter Bouteflika die Regierung in Algier zum Zwecke des gesellschaftlichen Friedens ein massives Infrastrukturprogramm aufgelegt hatte, im Rahmen dessen Hunderttausende Wohnungen gebaut wie auch die Staatseinnahmen aus dem Öl- und Gasexport verteilt wurden und die Mittelschicht einen gewissen Wohlstand erreichte. Damals profitierte Algerien von vergleichsweise hohen Energiepreisen auf dem Weltmarkt. Doch seit einigen Jahren sind die Preise wieder niedrig, weswegen die Erlöse Algiers aus der Energieförderung nicht mehr so üppig wie einst sprudeln. Der Staat kann die hohe Jugendarbeitslosigkeit von rund 30 Prozent nicht mehr so gut durch Bildungsprogramme und Zuwendungen im Sozialbereich kaschieren.

2013 hat Bouteflika einen schweren Hirnschlag erlitten. Ohne auch nur an einer einzigen Wahlkampfveranstaltung teilzunehmen, konnte er dennoch die Präsidentenwahl 2014 gewinnen - was Bände über die "gesteuerte" Demokratie Algeriens spricht. In den vergangenen sechs Jahren ist er ganz selten in der Öffentlichkeit gesehen worden - und wenn, denn meistens in Rollstuhl. Deshalb halten die meisten Algerier die Präsidentschaft Bouteflikas für reine Fassade. Als De-facto-Präsident gilt Bouteflikas Bruder und Chefberater Said, dem Generalstabschef Ahmed Gaïd Salah und ein undurchsichtiger Klüngel aus Politikern, Armeeoffizieren und Geschäftsleuten zur Seite steht. Trotz der landesweiten Proteste hat Bouteflika fristgerecht am 3. März bei der Wahlkommission in Algier die 60.000 Unterschriften eingereicht, die man braucht, um als Kandidat am Urnengang zugelassen zu werden.

Ein Aspekt des algerischem Wahlgesetzes, demzufolge der Kandidat oder die Kandidatin die gesammelten Unterschriften persönlich einreichen muß, hat der amtierende Präsident nicht erfüllt, was aber folgenlos bleiben dürfte. Damit hat Bouteflika Gerüchten und unbestätigten Presseberichten, denenzufolge er sich seit Mitte Februar zu ärztlicher Behandlung beim Universitätskrankenhaus im schweizerischen Genf aufhält, Glaubwürdigkeit verliehen. Hatte Algeriens Präsident noch vor zwei Wochen seine erneute Kandidatur mit der Aussicht auf "Kontinuität" begründet, so hat die jüngste Protestwelle ihn und den Führungszirkel in Algier offenbar zum Umdenken veranlaßt. Zeitgleich mit der offiziellen Anmeldung als Kandidat hat Bouteflika eine Erklärung herausgegeben, in der er versprach, noch vor Ende des ersten Jahres seiner fünften Amtszeit zurückzutreten und eine neue demokratischere Verfassung für Algerien auf den Weg zu bringen.

Wenn es die Hoffnung der Machtelite in Algier gewesen ist, mit diesem Gambit den jugendlichen Demonstranten den Wind aus den Segeln zu nehmen, so haben sich die Gebrüder Bouteflika und Konsorten getäuscht. Auch am 4. März boykottierten in vielen Städten Schüler und Studenten den Unterricht und gingen statt dessen auf die Straße. Am selben Tag trat der ehemalige Landwirtschaftsminister Sidi Ferroukhi als Mitglied der regierenden FLN zurück und sprach sich auf seiner Facebook-Seite für demokratische Reformen aus. Die politische Führung Algeriens sieht sich mit dem Problem konfrontiert, daß sie es über Jahrzehnte versäumt hat, sich einer Verjüngungskur zu unterziehen, neue Gesichter zu präsentieren, gar den gesellschaftlichen Raum für eine politische Debatte zu öffnen. Dieser Fehler rächt sich nun. Bislang sind die Proteste in Algerien und ihre polizeiliche Begleitung relativ friedlich geblieben. An einigen Stellen wurden Wasserwerfer eingesetzt und Tränengasgranaten verschossen. Bisher gab es lediglich 183 Verletzte. Ein Demonstrant mittleren Alters starb infolge eines Herzanfalls. Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die FLN überhaupt reformfähig ist oder alles in den alten diktatorischen Verhältnissen einbalsamieren will.

4. März 2019


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