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AFRIKA/2206: Coronavirus - neokoloniale Gelegenheit ... (SB)



"Ich habe persönlich in der Vergangenheit Erfahrungen mit Influenzaepidemien unter mangelernährten Kindern, Kindern in behelfsweisen, eine Art Flüchtlingsunterkünften gesammelt. Deren Sterblichkeit kann viel höher sein. Sie sind sehr viel anfälliger und leben unter viel gefährdeteren Bedingungen. Wir haben mitbekommen, was normale Infektionskrankheiten in Flüchtlingslagern anrichten können, und jeder, der in einem Flüchtlingslager gearbeitet hat, weiß, wie verheerend sich virale Infektionen in solchen Verhältnissen auswirken können."
Dr. Michael Ryan, WHO-Exekutivdirektor für Gesundheitsnotfallprogramme, 6. März 2020 [1]

In Afrika gibt es rund 17 Millionen Binnenflüchtlinge, weitere Millionen Menschen haben die Grenze ihrer Heimat überschritten und müssen mit Notbehelfen in anderen afrikanischen Ländern auskommen. Die meisten Flüchtlinge leben auf engstem Raum, entweder in Lagern, Slums oder anderen informellen Unterkünften. Dort sind die hygienischen Verhältnisse und die medizinische Versorgung oftmals extrem schlecht. Daher sind die Flüchtlinge hochgradig gefährdet, mit dem neuartigen Coronavirus Sars-CoV-2 angesteckt zu werden.

Bis jetzt scheint der Kontinent weitgehend von der Epidemie verschont geblieben zu sein, jedenfalls werden nur vereinzelte Infektionsfälle gemeldet. Mit Stand vom 6. März 2020 waren es etwas über 30 bestätigte Fälle - und das auf einer Fläche von der dreifachen Größe Europas. In China flacht die Kurve der Neuinfektionen mit Sars-CoV-2 inzwischen deutlich ab, was vielleicht die Hoffnung aufkommen läßt, daß der Kelch tatsächlich an Afrika vorübergeht. Allerdings scheint es in Anbetracht des regen Waren- und Personenverkehrs zwischen China, dem Ursprungsland des neuen Coronavirus, und dem afrikanischen Kontinent, unwahrscheinlich, daß die Zahl der bestätigten Infektionen der Zahl der tatsächlichen Infektionen entspricht. Zumal im Januar dieses Jahres gerademal zwei Labore, eines in Senegal und das andere rund 10.000 Kilometer weiter südlich in Südafrika, überhaupt in der Lage waren, das Coronavirus nachzuweisen.

Zwar haben die meisten afrikanischen Fluggesellschaften den Flugverkehr nach China eingestellt, aber diese Maßnahme erst zu einem Zeitpunkt ergriffen, als sich dort die Seuche bereits ausgebreitet hatte. Mehr als 80.000 Menschen aus Afrika studieren in China, allein in der abgeschotteten Provinz Wuhan sind es fast 5.000. Umgekehrt leben mehr als eine Million Chinesen in Afrika, und rund 10.000 chinesische Firmen sind auf dem Kontinent tätig.

Womit wäre bei einer Ausbreitung der Sars-CoV-2-Epidemie in Afrika zu rechnen?

Die Flüchtlinge dürften die letzten sein, die einen Schutz gegen das Virus erhalten, und da manche Lager bereits so angelegt sind, daß sie nicht ohne weiteres verlassen werden können, könnten sie im Extremfall schnell in Gefängnisse umgewandelt werden, in denen sich das Virus unter den in der Regel mangelernährten Lagerinsassen ungebremst austoben kann.

Die Zahl der Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge in Afrika hat in den letzten Jahren zugenommen. Bewaffnete Konflikte und Naturkatastrophen sind die Hauptgründe, weswegen Menschen flüchten müssen. Wirtschaftliche Not wird zwar beispielsweise von der EU nicht als Fluchtgrund anerkannt, nötigt aber die Menschen ebenfalls, ihre Heimat zu verlassen.

Aus Somalia zum Beispiel. Dort leben rund 2,6 Mio. Menschen als Binnenflüchtlinge in irgendwelchen Notunterkünften. "Unsere größte Sorge ist das Potential, daß sich das Virus in Ländern mit schwächeren Gesundheitssystemen ausbreitet", sagte der Direktor der Weltgesundheitsorganisation WHO, der aus Äthiopien stammende Tedros Adhanom Ghebreyesus, im vergangenen Monat. Er nannte keine Namen, aber man kann Somalia wie auch die meisten anderen Subsaharastaaten zu den Ländern rechnen, in denen die Gesundheitssysteme ungenügend hinsichtlich der Aufgabe entwickelt sind, eine Sars-CoV-2-Epidemie einzudämmen.

In rund 80 Prozent der Fälle verläuft eine Infektion mit Sars-CoV-2 mit nur leichten, grippeähnlichen Symptomen ab, aber bei 14 Prozent der Betroffenen ist der Verlauf schwer, das heißt, sie müssen wegen Atemnot oder der Lungenentzündung Covid-19 behandelt werde. Sechs Prozent der Patientinnen und Patienten benötigen eine intensivmedizinische Behandlung und müßten gegebenenfalls an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden. Bislang sollen nur 8 der 47 Länder der WHO-Region Afrika angemessen auf einen Coronavirus-Ernstfall vorbereitet sein. In den anderen Staaten mangelt es weiterhin an Intensivstationen, Beatmungsgeräten, medizinischem Personal oder eben schon einfachen Atemschutzmasken, wie der "Spiegel" berichtete. [2]

Modellrechnungen zufolge sind Ägypten, Algerien und Südafrika die am stärksten gefährdeten Länder Afrikas, in denen das Coronavirus Fuß fassen könnte. [3] Aber was mit diesem Modell nicht vorhergesagt werden kann: Hat sich das Virus in diesen Ländern etabliert, breitet es sich von dort aus in alle Richtungen aus und wird irgendwann auch entlegenere Regionen erreichen. Das Krankenhauspersonal von Ländern wie Somalia, das die meisten Binnenflüchtlinge Afrikas hat, dürfte von einer Sars-CoV-2-Epidemie hoffnungslos überfordert sein. Aber auch Länder mit höheren Gesundheitsstandards als das von Jahrzehnten des Bürgerkriegs heimgesuchte Land am Horn von Afrika werden schnell an ihre Grenzen stoßen. Dann bleibt den Behörden womöglich als einziges Mittel, Quarantänezonen einzurichten und die Menschen innerhalb dieser Gebiete weitgehend ihrem Schicksal zu überlassen.

Am vergangenen Samstag hat das Africa Center for Disease Control and Prevention (Africa CDC) mitgeteilt, daß es in neun Staaten (Ägypten, Algerien, Kamerun, Marokko, Nigeria, Senegal, Südafrika, Togo und Tunesien) bestätigte Infektionen mit Sars-CoV-2 gibt. [4] Die Gesundheitssysteme des Kontinents "sind bereits von vielen laufenden Krankheitsausbrüchen überwältigt", warnte unlängst der WHO-Leiter für Notfallmaßnahmen in Afrika, Michael Yao, und mahnte eine möglichst frühzeitige Entdeckung des Virus an. [5]

Das ist und bleibt womöglich frommes Wunschdenken, auch wenn die Zahl der Labore, in denen das Virus nachgewiesen werden kann, steigt und laut WHO in einigen Wochen jedes afrikanische Land über die entsprechende Fähigkeit verfügen soll. Aber was bedeutet das beispielsweise in einem Land wie Sudan, das mehr als fünfmal so groß ist wie Deutschland, wenn es über ein oder zwei solcher Laboreinrichtungen verfügt? In welchen Mengen können Proben von Verdachtsfällen bearbeitet werden? Zum Vergleich: In Deutschland mit seinem vergleichsweise weit ausgebauten Gesundheitssystem rät das für die Seuchenbekämpfung zuständige Robert-Koch-Institut ausdrücklich davon ab, daß sich Bürgerinnen und Bürger mit unbegründetem Verdacht auf Sars-CoV-2 testen lassen. Die Begründung: Das würde die Labore überfordern, so daß sie die dringenderen Verdachtsfälle nicht bearbeiten könnten.

Um wieviel mehr muß das für die afrikanischen Länder gelten, in denen die ersten Labore zum Nachweis des Coronavirus eingerichtet werden, sollte sich die Epidemie dort ausbreiten?

Die kenianische Regierung hat ein Quarantänezentrum in Nairobi eröffnet, obgleich es in dem Land bislang keine bestätigten Fälle von Sars-CoV-2 gibt. Doch wie viele Betten kann man aufstellen, sollte das Virus beispielsweise im dichtbesiedelten Kibera, mit mehreren hunderttausend Einwohnern größter Slum der kenianischen Hauptstadt Nairobi, nachgewiesen werden?

Auch Tansania und andere Länder haben Isolationszentren eingerichtet und das medizinische Personal auf den Ausbruch der Epidemie vorbereitet. Bei allen Bemühungen, der Coronavirusepidemie so gut vorbereitet wie möglich zu begegnen, sind die Grundvoraussetzungen der Gesundheitssysteme vieler afrikanischer Länder sehr begrenzt. Das ist sicherlich einer der Gründe, weswegen John Nkengasong, Leiter des Africa CDC, appelliert: "Ich kann die internationale Gemeinschaft nur aufrufen, den afrikanischen Ländern jetzt zu helfen - und nicht zu warten, bis der Kontinent komplett überwältigt ist." [6]

Die Vereinten Nationen haben 15 Mio. Dollar freigesetzt, damit die ärmeren Länder sich auf den Kampf gegen das Coronavirus vorbereiten können. [7] Hilfsorganisationen wie die Bill and Melinda Gates Stiftung haben auch schon zig Millionen Dollar gespendet. Doch all das genügt bei weitem nicht, die Versäumnisse der Vergangenheit zu kompensieren. Während beispielsweise in Deutschland statistisch etwa 42 Ärztinnen und Ärzte auf 10.000 Menschen kommen, sind es in Äthiopien genau einer, in Somalia sogar nur 0,2.

Dabei wurde der afrikanische Kontinent nicht einfach nur vernachlässigt. Über Strukturanpassungsprogramme haben Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) bereits in den 1990er Jahren dafür gesorgt, daß die Staatsausgaben sanken und die öffentlichen Gesundheitssysteme "verschlankt" wurden. Liberalisierung und Privatisierung lauteten die Zauberwörter, mit denen die afrikanischen Staaten auf Vordermann gebracht werden sollten. Was nicht dazu gesagt wurde: Zwar waren viele staatliche Gesundheitseinrichtungen marode, doch die Profitorientierung privat oder privatwirtschaftlich-staatlich betriebener Gesundheitseinrichtungen hinterläßt da Lücken, wo keine oder keine unmittelbaren Profite in Aussicht stehen. Beispielsweise bei der Seuchenvorsorge und -bekämpfung.

Hinsichtlich seines hohen Standards an Sozialleistungen und Gesundheitseinrichtungen war Libyen ein Vorbild für ganz Afrika. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, als die NATO-Staaten sich in die inneren Angelegenheiten einmischten und den libyschen Staatsführer Muamar al-Gaddafi von der Luft aus attackierten. Heute hausen Zehntausende Flüchtlinge in libyschen Auffanglagern, die aus zahlreichen Gründen eigentlich sofort aufgelöst werden müßten. Seuchenhygienisch wäre es für die Lagerinsassen eine Katastrophe innerhalb einer Katastrophe, sollte dort eine Epidemie wie Sars-CoV-2 Einzug halten.

Die sozialistische Republik Kuba, die hinsichtlich ihrer Gesundheitssysteme weltweit als vorbildlich gilt, hatte eine Zeitlang viele Ärztinnen und Ärzte nach Afrika entsandt, um befreundete Staaten dabei zu unterstützen, eigene Gesundheitssysteme aufzubauen und Menschen in Not zu helfen. Doch nach Ende der Ost-West-Konfrontation vor dreißig Jahren haben viele afrikanische Staaten ihre Verbindungen zu Kuba abgebrochen oder reduziert. Was den Karibikstaat nicht daran gehindert hat, vor einigen Jahren Ärztinnen und Ärzte zur Bekämpfung der Ebolaepidemie nach Westafrika zu entsenden. Doch es sind vor allem politische Gründe, weswegen das kubanische Gesundheitsmodell nicht von den afrikanischen Staaten übernommen worden ist.

Die zur Zeit vielbeschworenen "europäischen Werte" enden spätestens an der griechisch-türkischen Grenze, wie die aktuelle Entwicklung dort zeigt. Die griechische Regierung hat für zunächst einen Monat das Asylrecht aufgehoben und befördert alle Flüchtlinge zurück in die Türkei. Das wird von Deutschland und anderen EU-Mitgliedstaaten toleriert; das Asylrecht wird also auch in deren Namen außer Kraft gesetzt. Wohingegen die Gründe, weswegen Menschen flüchten und Asyl beantragen, nicht außer Kraft gesetzt werden können, zumindest nicht von den davon Betroffenen. Das heißt, es besteht eine Not, doch den in Not geratenen Menschen wird nicht geholfen.

Bis jetzt bleibt es lediglich ein Szenario, was wäre, wenn die Millionen Menschen in afrikanischen Flüchtlingslagern von der Sars-CoV-2-Epidemie heimgesucht werden. Doch eines ist klar: Auch wenn die Europäer den Anspruch formulieren, ihre Werte seien von universeller Gültigkeit, hat diese Behauptung keinen Bestand, sobald es um die konkrete Frage geht, was mit den Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen geschieht. Ein noch viel geringeres Interesse jedoch besteht an den innerafrikanischen Flüchtlingen, auch wenn einige von ihnen in Abfanglagern für Migrantinnen und Migranten auf dem Weg in den EU-Raum eingerichtet worden sind.

Seitens der EU war bereits vor Beginn der neuen Coronavirusära keine nennenswerte Unterstützung der afrikanischen Flüchtlinge zu erwarten. Jetzt, da sich die Sars-CoV-2-Epidemie in immer mehr Ländern ausbreitet, ist mit keinem Kurswechsel zu rechnen, bei dem den unsäglichen Verhältnissen in den afrikanischen Flüchtlingslagern plötzlich Aufmerksamkeit seitens der EU gewidmet wird. Man wird sich stärker denn je gegenüber den potentiell Infizierten oder Infizierten abzuschotten versuchen.

Zugleich müssen die Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge mit erheblichen Diskriminierungen seitens der örtlichen Bevölkerung rechnen, sollte sich die Epidemie weiter ausbreiten. Nicht nur in den USA und Europa, auch in Afrika wurden und werden Menschen chinesischer Herkunft seit einigen Wochen mit Argwohn betrachtet, nicht unähnlich den Erzählungen aus dem Mittelalter, als in Europa die Pest wütete und Menschen jüdischen Glaubens oder einfach nur Fremde, nicht zum eigenen Stamm, Dorf oder Land gehörend verfolgt wurden.


Fußnoten:

[1] https://www.rev.com/blog/transcripts/world-health-organization-coronavirus-update-march-6-2020

[2] https://www.spiegel.de/politik/ausland/covid-19-in-afrika-wie-sich-die-laender-auf-einen-coronavirus-ausbruch-vorbereiten-a-3034d2ea-3a8a-44ea-9ef4-4c553ed976ec

[3 ] https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.02.05.20020792v1

[4] http://www.africacdc.org/press-centre/news/127-africa-cdc-leads-continental-response-to-covid-19-outbreak-in-africa-statement-by-the-director-of-africa-cdc

[5] https://www.bbc.com/news/world-africa-51403865

[6] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2020-02/coronavirus-ausbreitung-china-afrika-epidemie/komplettansicht

[7] https://www.unocha.org/story/un-releases-15-million-help-vulnerable-countries-battle-spread-coronavirus

10. März 2020


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